Das Auge lag über ihnen, dunkel und drohend, es würde bald wieder hervorbrechen, Wasser, das sich seit Tagen in Kaskaden über ihnen ausgoss, denn hatte es sich einmal festgebissen, das Adriatief, dann liess  es erst wieder ab, wenn die kärntnerischen Hänge in Muren zerflossen und jeder Fetzen Stoff im Zelt den trägen Geruch von Schimmelsporen verströmte.

Die Ribisel hatte er gestern schon gesammelt, voll Glück in einem verwilderten Garten, trotz des Friesennerzes war er klamm und schlammig zurückgekehrt. Heute hatte er das Zelt nicht verlassen, denn der Campingplatz befand sich im Zustand der Auflösung, alles zerfloss in Letten und ertränktem Gras, und er trug seine letzten sauberen Kleider. Heute hatte der Regen pausiert, sie sprachen nicht, nur das rhythmische Schlagen, das der Vater mit dem Schneebesen machte, war zu hören, vom Himmel starrten die Wolken hinunter zu ihm und verloren keinen Tropfen. 

Das hiess, sie würde kommen. 

Eine Krone wird nicht davon bestimmt, woraus sie gemacht ist, sondern von der Art, wie sie getragen wird.

Ihre Anfänge lagen im Dunkeln und vor seiner Zeit. Doch schon die Erzählungen waren gleissend und klar und überdeutlich: Sie war eine Fürstin. Ja, es hatte in der Familie Alkoholiker gegeben und Wahnsinnige, Armut und Entbehrung. Aber als Fürstin wurde man geboren. Da fielen ein paar Ausrutscher im Stammbaum nicht ins Gewicht. 

Selbst als man sie für ein paar Jahre eingesperrt hatte, in eine finstere Zwei-Zimmer-Wohnung, mit einem ewig schreienden Baby und einer Tante, die sie alle paar Wochen ins Landeskrankenhaus hatte bringen müssen, zur Elektroschocktherapie, ja, selbst das hatte ihren Glanz nicht brechen können. Wer sie sah, der wusste es. Konnte es sehen, in dem aufrechten Gang, niemals hastete sie. Eine Fürstin eilte nicht, man eilte ihr zu. 

Auch wenn sie sie nicht brauchte, so hatte sie doch die entscheidenden Insignien der Macht, eine Geode von Amethyst, funkelnd und schön, lag daheim in ihrer Hand, und verliess sie das Haus, so trug sie stets eine Kappe aus Pelz, die hoch auf ihren Locken thronte, denn es war natürlich keine Kappe, in Wahrheit war es eine Krone, das konnte jeder sehen, denn eine Krone wird nicht davon bestimmt, woraus sie gemacht ist, sondern von der Art, wie sie getragen wird.

Wieder blickte er hinauf, in die getürmten Wolken, er drehte sich, um alles zu erfassen, weitere und weitere Kreise zog sein Blick, bis er es vor seinen Augen sah, was der Vater beschrieben hatte, einen gigantischen vom adriatischen Meer bis zu ihnen hinüberreichenden Maelstrom aus Wasserdampf. Noch weiter wanderte sein Blick und er konnte sehen, wie das Adriatief seine Hände in das schwitzende Meer tauchte, um es zu ihnen zu schaufeln und sie endgültig zu ersäufen. 

Doch jetzt kam sie und das Wasser hielt ein. Sie kam herab aus dem Hotel, oben am Hang, in dem sie nur ein Einzelzimmer hatte zahlen können, doch immerhin, sonst hätte ihre Familie gar keinen Urlaub machen können, denn eine Fürstin nächtigte niemals in Zelten, natürlich nicht, und natürlich ging sie nicht, in Wahrheit ritt sie auf einem gewaltigen Ross, ganz wie die steinerne Frau Hitt, sie wies die Wolkenberge in ihre Schranken, nur um sich herabzubeugen, seine Wange zu tätscheln und zu sagen: Ach, nett, Ribisel mit Schlagobers.

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Glossar 

Mure: In Gebirgsgegenden durch starken Regen oder Schneeschmelze hervorgerufener Strom von Schlamm und Gesteinsschutt

Ribisel: Johannisbeeren

Friesennerz: Regenschutzbekleidung, die zwischen 1970 und 1985 beliebt war

Letten: Tiroler Dialekt für lehmigen Matsch

Frau Hitt: Sagengestalt, mächtige Riesenkönigin, die zur Strafe für ihre Gefühlskälte mitsamt ihrem Ross versteinert wird; auch Berggipfel bei Innsbruck, Österreich

Sarah Raich ist österreichisch-deutsche Autorin. 2021 erschienen von ihr «Dieses makellose Blau» (mikrotext) und «All that’s left» (Piper).

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