Mein FEIND – sein Name ist Feind, wir haben einander nicht viel zu sagen. Im Zug sitzt er mir schräg gegenüber mit dem Rücken, so sehe ich nur sein dünnes Haar. Interessant. Während der ICE durch ein 4 einhalb Sterne Dorf rast, prüfe ich die letzten Entwicklungen. Gute Entwicklungen, was soll man sagen. Ich stehe auf und beginne Kniebeugen zu machen, auf meiner Schulter zählt es laut und angenehm mit, auf Französisch, un, deux, trois, quatre, cinq – meine Französischlehrerin der neunten Klasse hat eine stark verzögerte Liebe zum Französischen bei mir hervorgerufen, etwas daran war so reif und abgeklärt, dass es erst Jahre nach der Schule begonnen hat, mich in seinen Bann zu ziehen. Trente, ich setze mich, mein FEIND hat kein Sport getrieben. Interessant. In meinem Telefon heisst er so, einfach Feind. Alle direkten Konkurrenten werden in meinem Telefon standardmässig als «Feind» eingespeichert. Das habe ich so eingestellt.

Hinter der Scheibe ist Frühling. Felder und so weiter, Mais, Windkraftanlagen. Man kann jeden Sitz beliebig drehen, deswegen kann er mir gegenüber sitzen und mir trotzdem seinen Rücken zuwenden. Man sollte seinem Feind nicht den Rücken zuwenden. Wobei, womöglich heisse ich in seinem Telefon eher so was wie «Widersacher» oder vielleicht «Konkurrent».

Wir haben uns auf denselben Job beworben, daher die Bezeichnung. Er verliert Haare, hat also Haarausfall. Sein Hinterkopf glänzt etwas, er dreht sich kaum merklich auf seinem Stuhl hin und her, das ist ein Ausdruck von Nervosität. Die heisere französische Stimme schlägt mir eine Meditation vor, zwanzig Minuten bevor der Zug in den Bahnhof einfährt und ich aussteige. Bewerbungsgespräche finden prinzipiell im Erdgeschoss statt. Ich schlage die Meditation aus. Man muss bedenken, wir sind über die Ruhe hinaus. Wir sind über den Stress hinaus und wir sind über die Ruhe hinaus. Das kann ich nicht anders sagen: Das Zen ist tot.

Wir erreichen den Bahnhof, er funkelt mir entgegen, es gibt sogar Tauben. Zögernd laufe ich dem Feind hinterher, einige Menschen ziehen an uns vorbei und schauen uns dabei angestrengt in die Augen, die Tauben gurren. Wir steigen in die Metro ab, ich bekomme eine Kabine hinter seiner, still gleiten wir durch den endlosen Tunnel wie kleine Thromben durch die Arterie. Er hat mich mit Sicherheit bemerkt. Bevor wir ankommen, schliesse ich die Augen. Bevor wir ankommen, spiele ich ein Szenario durch, in dem ich den Job nicht bekomme, in der Gosse lande und an einer längst (bei Bedarf) behandelbaren Krankheit kre­piere. Bevor wir ankommen, nehme ich zur Kenntnis, dass die Metro für eine 4 Sterne Stadt sehr leise ist. Ich ziehe es in Betracht ihr 5 Sterne zu geben, aber entscheide mich dagegen, gebe meiner Entscheidung zum Scherz 3 Sterne und gebe meinem Bedürfnis meine Entscheidungen bewerten zu wollen 4. Darum werde ich nicht genommen, denke ich mir zum Scherz und stelle mir eine Zeit vor, als man noch im Ernst um einen Job fürchten musste.

Wir steigen aus und schlendern wortlos zum Gebäude. Er hat mich schon längst bemerkt. Irgendwie erwarte ich, dass er mir ein Lächeln zuwirft, aber so weit kommt es nicht. Im Foyer gibt es sehr viele Topfpflan­zen und Bücherregale, Plakate aus scheinbar jeder Epoche (aber sehr stimmig), einige dekorative Wartezimmermagazine (ich vermute, dass sie im Inneren nur leere Seiten haben, schaue aber nicht nach) und einen stummen Hund. Er läuft geräuschlos umher und hinterlässt hier und da einige Hundehaare. Wir setzen uns auf zwei grüne Polsterstühle und fangen an zu warten. Wir warten nicht lange.

Eine junge Frau reisst die Tür auf und verkündet mit einem breiten Grinsen meinen Namen. Ich versuche ihr tief in die Augen zu sehen, aber es klappt nicht gut. Zum Abschied sehe ich noch einmal in Richtung meines Feindes und da kriege ich das Lächeln. Er hat Falten auf der Stirn, fällt mir auf, und tiefe Geheimratsecken. Ich nehme ihm das Lächeln nicht ab. Aber das liegt an mir. Ganz sicher.

Ich folge der Frau zu einem Raum, der etwas dunkler ist als das Foyer. Etwas ledriger, also familiärer. Genau der Effekt den sie erreichen wollten, 5 Sterne.

Die Frau setzt sich locker im Schneidersitz auf eine hohen Hocker, ich nehme auf einem identischen Hocker Platz, zwischen uns ist ein schmaler Tisch aus dunklem Holz.

«Wie war der Weg?» «Gut.» «Haben Sie gut hergefunden? Haben Sie Ihren Co-Bewerber kennengelernt?» «Er wollte für sich bleiben. Wir haben also nicht geredet.» «Seine Entscheidung, was soll man sagen.», seufzt sie. «Na gut. Beginnen wir.» Ich nicke. Jetzt ein bisschen Aufregung. Jetzt nur ein kleines bisschen Aufregung.
«Ich werde Ihnen eine Situation aus Ihrem Leben schildern und Sie müssen beschreiben wie Sie sich verhalten haben und wie Sie sich jetzt, aus der Retrospektive, lieber verhalten hätten. Wenn Sie sich nicht mehr erinnern können, bitte versuchen Sie Ihr Verhalten zu schätzen. Das ist ein Persönlichkeitstest, entspannen Sie sich, es gibt keine falschen Antworten. Sie sind hier richtig.»

«Danke. Ja. Ich werde mich bemühen.» Klang das aufgeregt?

«Also. Sie sind in der neunten Klasse. Der Sommer steht vor der Tür, der Götterbaum vor Ihrem Klassenzimmer ist kurz davor 60 Meter zu erreichen, eine beachtliche Grösse! Sie sind nervös. Es ist nicht lange her, dass Sie angefangen haben, sich ernsthaft mit sich und Ihrem Umfeld auseinanderzusetzen, Sie sind sich sozusagen selbst bewusst geworden. Eine aufregende Zeit. Sie sitzen auf der hintersten Bank, obwohl das für Sie eher untypisch ist. So weit richtig?»

Ich nicke wieder. Während sie redet, versuche ich mal den Raum, mal ihr Gesicht zu betrachten, kann mich aber nicht konzentrieren.

«Neben Ihnen sitzt Ihr Banknachbar. Wie ist sein Name?» «Benny?» »Richtig. Wissen Sie was Benny jetzt macht?» «Nein.» «Er ist Arzt.» Sie zwinkert mir zu. «Wie dem auch sei. Sie sitzen neben Benny, Sie sind seit der Grundschule befreundet. Die Sonne hat den Klassenraum stark erhitzt. Ihre letzte Stunde ist Französisch.»

Erwartungsvoll schaut sie mich an. Ein drittes Mal kann ich nicht nicken, deswegen ziehe ich leicht meine Brauen zusammen. «Geht es Ihnen gut?», fragt sie. «Haben Sie heute meditiert?» «Nein.» Wieder lächelt sie verständnisvoll. «Na wie Sie wollen, es ist Ihr Leben. Also, Sie sind im Klassenzimmer, Französisch, Frühsommer, Benny. Da fühlen Sie etwas. Was haben Sie gefühlt?» «Ich weiss es nicht mehr.» «Sie haben sich fehl am Platz gefühlt. Richtig? In der Welt fehl am Platz. Das haben Sie Ihrer Mutter erzählt, erinnern Sie sich?» «Das kann sein, ja, das kann sein.» «Sie sind ein toller Mensch, wissen Sie das?» Sagt sie plötzlich. Am liebsten hätte ich jetzt wieder genickt. «Sie sind schon längst eingestellt. Wollen Sie noch etwas da bleiben, wir trinken zusammen einen Tee. Ich habe gerade nichts zu tun.»

Also bleibe ich noch etwas da und wir trinken einen Tee. Wir plaudern, sie erzählt von der Firma (der Name ist mir gerade entfallen) irgendwann fangen wir an über Bücher zu reden. Sie springt auf und geht wieder ins Foyer, um dort ein rotes Taschenbuch zu holen. In weisser Schrift steht darauf der Titel: «Die letzten Monate vor der Singularität habe ich Blumen gepflückt». Ich versuche nicht an meinen FEIND zu denken, der sich den Weg hierher hätte sparen können, weil schon vor Wochen feststand, wer den Job bekommen würde. Aber heutzutage legen die Menschen eben Wert auf echtes Versagen.

Als der Tee zu Ende geht, atmet meine Interviewpartnerin kurz ein und aus, klopft leicht auf den Tisch und sagt sehr deutlich: «Hat mich sehr gefreut.» Ich frage sie, ob sie Lust hätte, sich ein weiteres Mal zu treffen, aber sie lehnt lachend ab. Sie weiss es besser.

Im Foyer meide ich seinen Blick und gehe direkt an die Luft. Ich hab einen neuen Job, die französische Begleitung fängt an Glückwunschbriefe meiner Freunde vorzulesen, inklusive Akzent und Kratzen in der Stimme. Wie ist mein Telefon eigentlich heiser? 5 Sterne eindeutig. 5 verdammte Sterne.

Auf dem Weg zurück zur Metro kaufe ich eine Zigarette aus dem Automaten und zünde sie am Automaten an. Es ist immer noch etwas kühl. Nicht so wie in dem Frühsommer in der neunten Klasse, an den ich mich kein bisschen erinnern kann. Ich höre Schritte hinter mir. Der Feind läuft zielgerichtet auf mich zu und streckt die Hand aus. «Glückwunsch. Ich hab mir schon gedacht, dass es bei mir nichts wird. Ich hab mich in letzter Zeit etwas gehen lassen.» «Passiert.», sage ich und werfe den Zigarettenstummel in die Öffnung, die sich seitlich am Automaten befindet.

Anton Artibilov studiert Szenisches Schreiben in Berlin.

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