Man merkt mir meine Schwäche nicht an. Bis zur Corona-Krise haben so auch nur meine Nächsten gewusst, womit ich schon lange lebe: mit einer Vorerkrankung, die mein Immunsystem schwächt. Das bedeutet, dass ich an rezidivierenden Infektionen leide. Wenn ich in ein Flugzeug steige, verlasse ich es meist wieder mit all den Viren, die sich dort tummeln. Allein im Jahr 2019 wäre ich ohne Behandlung mindestens viermal an einer Infektion gestorben. Auch das Atmen fällt mir nicht immer leicht, weil nach mehreren Operationen das Zwerchfell krampft.

Das heisst also, dass Desinfektionsmittel, penibles Händewaschen und eine erhöhte Alarmstufe im Kopf längst zu meinem Alltag gehören. Besonders in der Grippe­saison ist es ein ständiges auf der Hut sein vor möglichen Ansteckungsquellen. Türfallen werden vermieden, Hustenden ausgewichen und auf die helvetischen Küsschen gleich ganz verzichtet. Automatismen, die sich eingespielt haben, Jahr für Jahr. Bei mir, aber auch bei meinem Partner Jan, der mir gleichsam keine Krankheiten überbringen will. Ausser uns merkte das bisher kaum jemand, ich konnte mich ganz privat und heimlich um mich selbst sorgen. Doch im Jahr 2020, im Corona-Jahr, wurde ich geoutet, kategorisiert: Ich bin zur Risikoperson geworden.

Anfang Januar lese ich zum allerersten Mal von einem neuen Corona-Virus. Dazu ein virales Video, das aus dem chine­sischen Wuhan geschickt wurde, ein Hilferuf aus einer abgeriegelten Stadt. Schon da erfasst mich ein mulmiges Gefühl, doch ich schüttle den Gedanken an die unheimliche Krankheit von mir ab. Egoistisch beruhige ich mich, es wird Europa schon nicht treffen. Wir wurden ja auch von der Ebola-Epidemie verschont, wie vor der Vogelgrippe und selbst die Schweinegrippe fiel glimpflich aus.Ende Januar in den Schweizer Bergen ertappe ich mich selbst dabei, wie ich um einen Tisch mit einer Gruppe von asiatischen Tourist*innen einen leichten Bogen mache und schäme mich sogleich über meine eigene rassistische Denkweise.

Ich bin eine Attraktion, einem Science-Fiction-Film entronnen.

Bestückt mit einer riesigen Flasche Desinfektionsmittel reisen wir Mitte Februar an die Berlinale. «Das Virus dürfte zwar eher etwas gefährlicher sein als das Grippevirus, aber sicher nicht so gefährlich wie Sars», lese ich im Zug. Mit jedem Tag, der am Filmfestival vergeht, mit jedem aufgetauchten europäischen Fall fragen wir uns, ob es ein Fehler ist, dass wir hier sind. Husten im Kinosaal tönt auf einmal laut, jeder Spucketropfen am Apéro brennt sich in meine Wange ein. Ich stehe vor jeder Filmvorführung im WC und schrubbe mir verzweifelt die Hände – als könnte ich so noch aufhalten, was auf uns zukommt. Jeden Morgen suche ich die Zeitung nach dem ersten Berliner Fall ab.

Auf der Heimreise setze ich mir schliesslich doch die FFP3-Schutzmaske auf, die mir meine Ärztin mahnend mitgegeben hatte. Ich merke, wie andere Reisende mich heimlich fotografieren: Ich bin eine Attraktion. Als wäre ich einem Science-Fiction-Film entronnen. Ich, ein Bild, an das wir uns Monate später alle gewöhnt haben werden. Mittlerweile sind wir alle zu solchen Aliens geworden. Damals, im Februar, habe ich mich wie eine Aussätzige gefühlt, schwitzend unter dem Maskenmull.

Jan sagt, es ist egal, was die anderen denken. Du darfst dieses Virus nicht bekommen. Und wir wissen beide, in diesem Moment, im vollen Zug von Berlin nach Basel, dass er recht hat. DU DARFST DIESES VIRUS NICHT BEKOMMEN. Ein Satz, den er im Verlauf der kommenden Monate unzählige Male wiederholen wird. Kaum zurück in der Schweiz, hat sich bereits die erste Person in Basel infiziert und die Fasnacht wird abgesagt.

Im März heisst es in der Zeitung, wer ein schwaches Immunsystem hat, gehöre zur Risikogruppe. Zusammen mit anderen Vorerkrankten, mit den Alten und Schwachen. Ja, die meinen auch mich. Nun bin ich also definitiv zum Risiko geworden.Immer mehr Bilder überfluten uns. Aus Norditalien. Asien. Den USA. Bilder von Covid-Erkrankten. Sie liegen auf Intensivstationen, intubiert, anonymisiert. Körper ohne Gesichter. Es folgen Bilder von Leichensäcken und Särgen. Du darfst dieses Virus nicht bekommen, sagt Jan wieder. Und meint: Sonst endest du auch in einem solchen Leichensack. Es bleibt nur der Rückzug. Wir verzichten auf persönliche Kontakte. Verlegen die Arbeit ins Home-Office. Begeben uns in die Isolation. Jan und ich, zweisam. Wenn oben der Nachbar die Türe öffnet, schliessen wir unsere gleich wieder. Beim frühen Morgenspaziergang (bloss keine Rushhour!), wechseln wir die Strassenseite, sollte uns eine eine weitere, einsame Person begegnen.

Der Gang in die Migros ist zum Gang ins Risikogebiet geworden.

Am Anfang planen wir die Einkäufe so, dass wir nur alle zwei bis drei Wochen einkaufen müssen. Jan übernimmt die Aufgabe konsequent und geht in kompletter Vollmontur los, mit FFP2-Maske, Gummihandschuhen und zusätzlich noch einem Schal um den Kopf gewickelt. Das zu einer Zeit, in der in der Schweiz noch kaum jemand eine Maske trägt. Mein Jan, der sonst furchtlos mit seiner Kamera durch israelische Sperrgebiete im Westjordanland, durch den Kosovo oder an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze herumstapft, hat auf einmal riesigen Respekt vor dem lokalen Supermarkt. Der Gang in die Migros ist zum Gang ins Risikogebiet geworden.

Wenn er jeweils zurückkommt, sich völlig erschöpft die Maske vom Gesicht abnimmt und die beschlagene Brille putzt, können wir dann doch über die Skurrilität der Situation lachen.
Nicht der WC-Papier-Vorrat beschäftigt uns, sondern die Lebensmittel. So füllen wir den Schrank mit lang­haltbaren Hülsenfrüchten und Konserven, Frisches wird ein­gefroren. Weil die Übertragungsform noch nicht klar ist und wir gelesen haben, dass die Viren möglicherweise bis zu drei Tagen auf Oberflächen überleben können, werden alle Einkäufe erst einmal drei Tage in die Keller-Quarantäne gesteckt. Es gibt keine Frischwaren, nicht einmal ein Gipfeli vom Beck. Unsere Wohnung riecht nach Desinfektionsmittel, mit dem wir alles einsprühen, bevor wir es in die Finger nehmen. Sogar die Zeitungen. Jans Hände jucken vom vielen Waschen und Desinfizieren. Das Gottechind winkt uns von der Strasse aus zu.

Unsere Informationen beziehen wir nicht allein von den Pressekonferenzen des BAG. Wir lassen uns von Ärzt*innen und Expert*innen beraten. Vergleichen die neusten Zeitungsmeldungen aus fünf verschiedenen Ländern. Ich starte den Tag jeweils mit der Online-Lektüre des Nature-Magazines und rufe mindestens dreimal täglich die Statistiken der Johns Hopkins University auf. Dr. Faucis Stimme wiegt mich in den Schlaf. Als würde uns das Wissen um die neusten Fakten etwas Sicherheit und Stabilität zurückgeben.

Derweil stützt sich die restliche Schweiz noch im Wesentlichen aufs Händewaschen. Eine Handlung, die dazu passt, was Herr und Frau Schweizer glauben: Mit disziplinierter Reinlichkeit werden wir das Virus schon besiegen können. Sie glauben wohl auch, die Länder um uns herum hätten bloss die Hände etwas zu selten gewaschen. Diese mal mehr oder weniger offen geäusserte Überheblichkeit wird Mitte März bestätigt: Die Schweiz schliesst die Grenzen. Als würden wir das Virus nicht längst selbst exponentiell weiterverteilen.

Ich wünsche mir sehnlichst, dass Menschen endlich Masken tragen. Man weiss nun, dass Masken das Risiko einer Weiterverbreitung erheblich verringern. Doch auch wenn sich laut einer Umfrage der Tamedia 59% der Befragten eine Maskenpflicht in der Öffentlichkeit wünschen, trägt Mitte April noch fast niemand eine. Obwohl immer spür­barer wird, dass viele Menschen sich nun vor einer Ansteckung fürchten. Doch grösser als die Angst vor dem Virus scheint die Angst davor, mit einer Maske aufzufallen. Aber worin liegt diese Angst? Ist es tatsächlich nur der schiefe Blick, den man scheut? Oder will man nicht, dass die anderen denken, man habe etwa vor einer Ansteckung Angst? Auch wenn sich die Schweizer*innen selbst gerne als Widerstandskämpfer*innen sehen, die nicht auf die Obrigkeit hören, scheint hier vor allem das «man macht es halt so» eine entscheidende Bedeutung zu haben. So wünschen sie sich, dass die Behörden die Massnahmen verstärken, damit man es machen kann «wie man es macht», ohne sich selbst exponieren zu müssen. Statt sich die Nase einfach selbst zu bedecken, wird verzweifelt auf eine Maskenpflicht gehofft.

Du darfst dieses Virus nicht bekommen, sagt Jan und wir verlassen das Haus konsequent nicht mehr ohne unsere FFP2-Masken, egal, ob es eine Regel gibt oder nicht.

Im Sinne eines ganz alten, faschistoiden Gedankenguts: Ist das Virus zu stark, bist du nicht stark genug.

Ich realisiere: Jans Sorge um mich ist um einiges grösser als die, die ich selbst um mich habe. Jedes Mal, wenn er das Haus verlässt, hat er Angst, er könnte für mich zur An­steckungsquelle werden. Angst, dass er mir das tödliche Virus in unsere Schutzburg heimschleppt. Mehr als einmal schreckt er mit den Worten, «ich habe geträumt, du seist tot», aus dem Schlaf.

Die Pandemie wird zunehmend politisiert. Nicht die Fakten scheinen mehr relevant zu sein, sondern Meinungen. Die Eigenschaften eines Virus werden zur Meinungssache. Immer mehr Bekannte schlagen auf Social Media Kanälen ihre Skepsis breit. Meist auf dem Niveau von «Der Arbeitskollege meiner Schwester hat eine Freundin, deren Schwägerin arbeitet in der Praxis eines Arztes, und der hat gesagt, Covid-19 sei auch nicht schlimmer als eine Grippe…»

Die Erschütterung, als mir bewusst wird: Die meinen ja mich, wenn sie sagen, Sterben gehört zum Leben dazu. Mein Leben, mein Sterben. Besonders verletzend ist auch die Idee, man sei selbst schuld, wenn man sich mit Corona anstecke. Man hätte halt etwas fürs Immunsystem tun müssen. Im Sinne eines ganz alten, faschistoiden Gedankenguts: Ist das Virus zu stark, bist du nicht stark genug. «Wäre es nicht naheliegend, einfach die Risikogruppe zu isolieren?» schreibt eine auf ihre Wall. Auch sie meint mich.

Als sich auf einem vorsichtigen Spaziergang ein Mann absichtlich in meinen Weg stellt, und ich ihn bitte, doch Abstand zu halten, da ich eine Risikoperson sei, schreit er mich an: Ich solle zuhause bleiben, wenn ich nicht angesteckt werden wolle.

Solche Vorfälle zeigen, wie paradox es ist, bei einem Virus, bei dem man nicht (nur) für sich selbst, sondern eben gerade für die anderen verantwortlich ist, auf Selbstverantwortung zu setzen. Dieses Virus macht abhängig. Man kann es nicht selbst abwehren, man ist auf andere angewiesen. Denn auch mit Abstandsregeln ist sich jeder und jede selbst am nächsten.

Dass ich meine beruflichen Projekte trotz der Isolation weiterführen kann, hilft, den Verstand nicht zu verlieren. Ich stürze mich in Arbeit. Jan auch. Während andere sich über den Home-Office-Zwang und ständige Online-Sitzungen beklagen, wird für mich der virtuelle Raum zum wertvollen Refugium, das ein Zusammenarbeiten während der Pandemie überhaupt erst ermöglicht.

Wie sollte man denn einen Sommer geniessen, wenn man an den Folgen einer Covid Erkrankung litt oder Tote betrauerte?

Als im Juni – früh und schnell – Lockerungen durchgesetzt werden, fühle ich mich von der Gesellschaft auf eine Art verlassen, wie ich mich bisher noch nie verlassen gefühlt habe. Plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich hier, hier in diesem Land, geschützt sein werde. Die Stärke des Volkes misst sich am Recht der Schwachen, will ich schreien, aber ich kann mich nur noch hinter der geschlossenen Türe verstecken. Geniessen Sie den Sommer!, sagt unsere Bundespräsidentin. Ein mantraartiger Werbeslogan, der für Jan und mich nur hiess, dass wir weiterhin auf uns alleine gestellt sind. Mir kam dieser Spruch fast zynisch vor. Nicht nur für unsere Situation: Wie sollte man denn einen Sommer geniessen, wenn man an den Folgen einer Covid Erkrankung litt oder – so wie unsere Nachbars­familie im Tessin – ihre Toten betrauerte?

Wir waren wieder gezwungen, den anderen zu vertrauen. Aber wem kann man noch trauen, wenn alle daran waren, die Pandemie krampfhaft zu vergessen?

Mit erwartungsgemäss steigenden Zahlen im Herbst werden auf einmal die Intensivbetten knapp. Die Vorstellung, ich könnte im Spital wegen Überbelegung abgewiesen werden, wenn ich wegen meiner Vorerkrankung mal wieder schnelle, medizinische Hilfe benötige, bereitet uns ein paar unruhige Nächte. Es wird uns einmal mehr bewusst: Wir bleiben darauf angewiesen, dass sich auch unsere Mitbürger*innen nicht anstecken lassen.

Nachdem wir den ganzen Sommer in keiner Badi, an keinem Grillfest waren, und natürlich auch in keinem Restaurant, haben wir uns an die Einschränkungen gewöhnt und es ändert sich für uns kaum etwas, als die Schweiz in den zweiten Lockdown geht. Wir sind in unserer Quasi-Quarantäne ein eingespieltes Team geworden.

Die Haare haben wir uns selbst geschnitten und das selbst gebackene Brot hat eine gewisse Perfektion erreicht. Video-Telefonate mit Freund*innen und Outdoor-Spaziergänge bewahren uns davor, sozial vollständig isoliert zu sein. Jetzt, wo fast überall Maskenpflicht herrscht, sind einige Sachen wieder möglich geworden. Auch, dass man mehr über die Art der Ansteckung weiss, erleichtert uns den Umgang. Die Einkäufe dürfen mittlerweile ohne Keller-Quarantäne direkt in den Kühlschrank wandern.

Im Dezember bekomme ich die lang ersehnte Impfung. Zwei Wochen nach dem zweiten Stich kann auch ich ins «normale» pandemische Leben einsteigen. Als Jan und ich uns nach zehn Monaten Abstinenz das erste Gipfeli teilen, laufen mir Tränen der Erleichterung über die Backe. Ich steige nun auch wieder in die öffentlichen Verkehrsmittel ein. Aber man wird mich trotz meiner Immunität kaum an einer illegalen Party antreffen. Ich befolge schliesslich die Massnahmen weiterhin gewissenhaft. Denn, sage ich zu Jan, der noch nicht geimpft ist, du darfst dieses Virus nicht bekommen…

Deborah Neininger bewegt sich als Regisseurin und Autorin für Film, TV und Theater locker zwischen Performance-Kunst und populärer Unterhaltung. Gegenwärtig schreibt sie an ihrem ersten Roman «Auf der Suche nach den Krippenfiguren habe ich die Pistolen wiedergefunden». Sie lebt in Basel und arbeitet gerne in Tel Aviv (wenn nicht gerade eine weltweite Pandemie stattfindet).

Ein Kommentar auf “Die meinen ja mich

  1. Michael Ricklin sagt:

    Herzlichen Dank für Ihren bewegenden persönlichen Bericht, den ich sehr gerne weiterverbreiten werde! Solche Stimmen wie Ihre sind so unendlich wichtig – weil sie vielleicht sogar die eine oder den anderen zum Nachdenken zu bringen vermögen, die selbst nach einem Jahr Pandemie noch immer mit Verharmlosung-Scheuklappen unterwegs sind.

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