«Das war gestern abend so um zwölf, da fühlte ich, dass etwas Grossartiges in mir vorging.»

Das war vor zwei Jahren, im letzten Zug von Zürich nach Basel – ich las diesen ersten Satz im ‹Kunstseidenen Mädchen› von Irmgard Keun – da fühlte ich, dass etwas Grossartiges in meinen Händen war. Und nach einer Seite war klar: Von nun an will auch ich «schreiben wie Film», schreiben wie die 18-jährige Doris in ihr Taubenbuch, schreiben wie ihre Schöpferin Irmgard Keun. Ich zerriss einen ganzen ‹Blick am Abend›, um mit den Fetzen all diese grandiosen Stellen zu markieren, Sätze wie «Und jetzt sitze ich in meinem Zimmer im Nachthemd, das mir über meine anerkannte Schulter gerutscht ist, und alles ist erstklassig an mir – nur mein linkes Bein ist dicker als mein rechtes» oder «mit Gustav Mooskopf war ich mal so müde, dass ich bei ihm geschlafen habe – nur weil’s so weit war bis nach Haus und er mir die Schuhe ausziehen könnte und so – und da denken die Männer immer, es wäre Liebe oder Sinnlichkeit oder beides – oder weil sie so wunderbar sind und ein kolossales Fluidum haben». Die Lektüre war ein einziges Jauchzen; ich ging ganz einig mit Erika Mann, die damals über Keun schrieb: «Fast ist es, als übersetzte sie: das Leben in die Literatur» – und ganz und gar uneinig mit ihrem relativierenden Appendix «keine ungemein hohe Literatur». Und wie mich diese wild verschraubten, höchst raffiniert zu einer Geschichte verflochtenen Sätze hochrissen – was für eine Entdeckung!

Irmgard Keun war ein Star – dann kamen die Nazis

Tags darauf das Erstaunen: In Buchläden war nichts von Keun zu finden. In Antiquariaten kannte man ihren Namen, aber schüttelte den Kopf: Schon lange vergriffen. Im Internet wurde ich fündig, bestellte gierig, interessanterweise meist aus den USA, gebrauchte Ausgaben von allem, was von ihr zu kriegen war. In den mehrwöchigen Wartepausen, in denen die Bücher den langen Weg über den Ozean reisten, las ich über Keuns Leben. Besonders gern, wenn sie selbst darüber schrieb, in den Exiljahren, in den heimlichen Briefen an ihr «pekinesisches Pünktchen», ihren jüdischen Geliebten, den rechtzeitig in die USA emigrierten Arzt Arnold Strauss. Aber von Anfang an:

1905 in Berlin geboren, in Köln aufgewachsen, besuchte Irmgard Keun die Schauspielschule, arbeitete als Stenotypistin und fing nach einigen Bühnenengagements an zu schreiben. Mit ‹Gilgi, eine von uns› landete sie 1931 einen Hit. Er handelt von einer jungen Sekretärin, deren «wie eine Rechenaufgabe» geplantes Leben ins Wanken gerät, als sie sich verliebt. Auch der im Jahr darauf erschienene Zweitling, die Geschichte einer jungen Frau, die «ein Glanz» werden will und dafür nach einer Statistenrolle am Theater in die Grossstadt flieht, wurde zum Bestseller: ‹Das kunstseidene Mädchen›. Irmgard Keun war ein Star – dann kamen die Nazis. Bereits 1933, noch vor den bekannten Schwarzen Listen, verboten und beschlagnahmten sie ihre Bücher, deren sozialkritische Milieuschilderungen und selbstbewusste Frauenfiguren ihnen nicht geheuer waren. Die Autorin liess sich nicht abschrecken, vor Gericht zu klagen und Ausfallsentschädigung zu verlangen – natürlich ohne Erfolg. Eine Zeitlang versuchte sie als «Schriftstellerfabrik» zu überleben; schrieb massenhaft harmlose Geschichtlein – «neckische Scheisse», wie sie es selber abtat – für Zeitungen, die sie immer seltener druckten.

Keun und Roth tranken und schrieben um die Wette

1936 ging sie ins Exil, wo sie bald in namhafter Gesellschaft fast ausschliesslich männlicher Exilautoren weiterschrieb. Während ihre Kollegen an historischen Romanen schraubten, dokumentierte sie als Einzige aus dem Exil das Geschehen in Nazi-Deutschland und Europa. Mit überragendem Erfolg – die neuen Romane ‹Nach Mitternacht›, zu dessen Ende die Protagonistin aus Deutschland flieht, und die Group-Novel ‹D-Zug dritter Klasse›, wurden sofort in viele Sprachen übersetzt. So auch ‹Kind aller Länder›, in dem die zehnjährige Erzählerin Kully vom Exilleben berichtet. Kullys Eltern vergleicht man heute gern mit ihrer Erfinderin selbst und deren Leidensgenossen Joseph Roth. Die beiden verband zeitweise eine zerstörerische Liebe: Sie tranken (und schrieben) um die Wette, lebten in den teuersten Hotels und hatten Schulden bis zum Gehtnichtmehr. Keun schreibt in einem Brief an ihren Verlobten Arnold Strauss hingegen nur, der entstehende Roman handle «von einem kleinen Mädchen, das mit seinen Eltern auswanderte, überall in den Hotels als Pfand zurückgelassen wird, usw. Du wirst ihn lieben.»

Als die Nazis 1940 in die Niederlande einfielen, nutzte Keun ihren fälschlicherweise gemeldeten Freitod – während sich so viele andere ihrer Freunde in dieser verzweifelten Zeit wirklich umbrachten – und reiste unerkannt nach Deutschland zurück, wo sie sich Jahre im Keller des zerbombten Elternhauses in Köln versteckte.

Wegen «Trunk- und Verschwendungssucht» in eine Psychiatrie gesperrt

Auch nach dem Krieg schrieb sie weiter. Zum ersten Mal einen Roman aus der Sicht eines Mannes: ‹Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen› wird nach dem Krieg von seiner Frau verlassen, mit der Begründung, er sei bloss einer gewesen «für unnormale Zeiten». Dazu schrieb sie für die Öffentlichkeit bestimmte Briefe mit dem einiges jüngeren Heinrich Böll – während dessen Frau Keuns Wäsche wusch.

In den 60er Jahren wird Keun, die schon immer mit ihrer Alkoholsucht gekämpft hatte, wegen «Trunk- und Verschwendungssucht» Opfer des damaligen «Verwahrungsgesetzes» und als solches in eine Psychiatrie gesperrt. Anfang der 70er wird sie entlassen, hören tut man von ihr aber nichts mehr.

In den 80ern wurde ihre Literatur schliesslich wiederentdeckt und Irmgard Keun erstrahlte noch einmal. Legendär ist ihr letzter Auftritt in einer Bibliothek in Köln: Eine Schauspielerin las aus dem ‹Kunstseidenen Mädchen›, als die betrunkene Autorin herein stolperte und verlangte, selber zu lesen – was sie ergreifend tat. Kurz darauf starb sie. Von ihrem lang versprochenen neuen Roman «Kein Anschluss unter dieser Nummer» fehlt bis heute jede Spur.

Eine Reihe mit dem Ziel zu Unrecht in Vergessenheit geratene, marginalisierte Autorinnen wiederzuentdecken

Und dann kam 2016 ‹Ostende›, Volker Weidemanns Buch über den Sommer 1936 der Exilliteraten im Belgischen Badeort: Stefan Zweig, Josef Roth, Egon Kisch, und eben auch – besonders hervorgehoben als Roths Geliebte – Irmgard Keun. In Zuge dessen erschien ‹Kind aller Länder› in einer Neuauflage. Im selben Verlag folgte kurz darauf das Kinderbuch ‹Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften›, (dessen Geschichten mir so bekannt vorkamen, dass ich merkte, dass ich schon als Kind begeistert Keun gelesen haben musste), und wenig später kehrten auch die zwei ersten «Mädchen»-Romane frisch in die Regale zurück. Schliesslich, letzten Herbst dann die frohe Botschaft: Die erste Irmgard Keun Gesamtausgabe erscheint 2017 bei Wallstein – als erste, wie es dort heisst, einer Reihe mit dem Ziel «verschüttete, zu Unrecht in Vergessenheit geratene, marginalisierte Autorinnen wiederzuentdecken». Nun ist es soweit: Drei dicke Bände mit über zweitausend Seiten, allen vorhandenen Romanen, einem neuentdeckten Romanfragment und vielen bisher unauffindbaren Geschichten, Briefen, Gedichten und Artikeln sind da. Auch ein seltenes Interview mit der alten Frau Keun ist darin. Nur so viel sei verraten: «Woher haben Sie denn meine Bücher? – Aus Bibliotheken oder zusammengesucht in Antiquariaten. – Kann man sie da klauen?»

Die vielleicht aufregendste deutschsprachige Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts

Diese Fabrikzeitung versammelt Texte über Keuns Literatur und Biografie, aber auch solche von zeitgenössischen Schrifstellerinnen, die entstanden sind in der Auseinandersetzung mit Irmgard Keun. Die Ausgabe möchte somit einiges sein: Eine Einführung für alle, die Keun noch nicht kennen, und sie unbedingt lesen sollten. Eine Ergänzung für jene, die sich wie wild auf die Gesamtausgabe stürzen und noch mehr wollen. Aber vor allem die Zelebrierung einer Autorin, die im Schreiben furchtlos engagiert, präzis beobachtend, begeistert furios und stilistisch genial war – und der es gerade darum so schwer gemacht wurde. Heute heisst man sie wieder die «vielleicht aufregendste deutschsprachige Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts». Kein Wunder: Wichtig sind ihre Bücher gerade in unseren Zeiten, die denen von Keuns Schilderungen schon gefährlich gleichen, Zeiten «voll berauschter Spiessbürger. Berauscht, weil sie es sein sollten – berauscht, weil man ihnen Vernunftlosigkeit als Tugend pries und berauscht, weil sie Macht bekommen hatten.»

Auf dass wir sie nicht mehr vergessen!

Michelle Steinbeck ist Autorin und Redaktorin der Fabrikzeitung.

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