Es war am Nachmittag ihres 3357. Tages im All, ihr Schiff befand sich im Sternbild des Orion am Rand des Pferdekopfnebels, und Gryphius Stoffel, seines Zeichens Bischof von Limburg und Liebhaber des Mosel-Weins, presste gerade seinem liebsten Roboterbuhlen HL-113, der neben ihm auf dem Laken lag, die Zunge in den Mund – da hämmerte Ulrich, Bischof von Feldkirch, an die Tür, trat ein und bat Gryphius, sofort mitzukommen. Der Papst sei in Gefahr. Gryphius gähnte und schob HL-113s Eisenhand, die auf seinem haarigen Oberschenkel ruhte, zur Seite.
«Beeil dich.» «Schon gut.» Gryphius stand auf und ging auf Ulrich zu, barfuss. Die samtenen Pantoffeln liess er liegen. Die beiden traten in den Gang, der von violettem LED-Licht erhellt war. Düsen pumpten Weihrauch in den Raum. Gryphius konnte ihn kaum mehr riechen, ohne dass ihm übel wurde. Erstaunlich, dass er ihnen nicht schon nach Tethys ausgegangen war. Allein, das Konzil hatte vorgesorgt, als es sie auf die Reise geschickt hatte. Im Schiffsbauch lagerten Vorräte für die nächsten sieben Jahre. Sieben Jahre. Dann hätten sie hoffentlich gefunden, wonach der der Heilige Vater schon so lange suchte – und sie mit ihm.
Sie gingen an der Schlafkammer des Patriarchen von Moskau vorbei, aus der gregorianische Choräle hallten. «Solve vincla reis», klang es durch die Tür, «profer lumen caecis, mala nostra pelle». Löse die Fesseln der Sünder, bringe den Blinden das Licht und vertreibe unsere Sünden. Der Kerl hatte die musikalische Entwicklung des letzten Jahrhunderts wohl verschlafen. Sowieso ein komischer Kauz. Seit sie ihn auf Neptun aufgelesen hatten, hatte er sich kaum gezeigt. Nur nach dem Abendmahl, wenn alle ihre Teller bereits leergegessen hatten und sich wieder zurückzogen, erschien er manchmal, schaufelte etwas Essen in eine Schüssel und trollte sich damit davon.
Sie gingen am Kräutergarten vorbei, in dem gerade der Salbei, von dem schon Hildegard von Bingen gesagt hatte, dass er gegen kraftlose Säfte helfe, lila blühte, und durch das Sitzungszimmer. Weihrauchschwade um Schwade durchquerten sie, bis sie endlich im Gemach des Heiligen Vaters angelangten. In jeder Zimmerecke stand ein Schweizergardist, die Hellebarde in der Hand.
Die anderen Bischöfe waren alle schon da: Leo, Pius, Clemens, Formosus, Lucius, Hyginus. Und natürlich Vitus. Vitus Canis. Gryphius zwang sich zu einem Lächeln. Das Arschgesicht. Der Parvenü. Der Hurenbock. War ja klar, dass der Bischof NeuHelvetiens sich direkt neben den päpstlichen Tank platzieren musste. Der schielte selbst auf das Amt, das wusste doch ein jedes Kind.

Im Tank schimmerte eine algenfarbene Flüssigkeit. Darin der Papst.

Der päpstliche Tank stand in der Mitte des Raumes. Oberschenkeldicke Kabel verschwanden in Boden und Decke und verbanden den Tank mit einem Bildschirm. Im Tank schimmerte eine algenfarbene Flüssigkeit. Darin der Papst. Vitus beugte sich über den Tank. Dann verzog er das Gesicht.
Gryphius sah ebenfalls hinein. Coelestin VII. sah so schlecht aus wie immer. Sein Leib schien aus Wachs. Die Wangenknochen staken aus der Haut. Das Loch unter seinem Auge, wo ihn die Marsmaden angenagt hatten, hatte sich vergrössert. Winzige Fleischfäden schwebten durch die Flüssigkeit.

Vitus verschränkte die Arme hinter dem Rücken. «Brüder! Wirkt er nicht erhaben, wie er so daliegt?»

Formosus zuckte mit den Schultern. «Liegt aba einiges im Argen mit dem Kerlschen. Haste selbst jesagt.» «Fürwahr. Das habe ich.» Gryphius zeigte auf den Bildschirm. Die blaue Linie erging sich in immer neuen Kurven. «Sein Herz schlägt noch. Wo also liegt das Problem?»
«Er hat geklopft», sagte Ulrich.
«Muss eine Täuschung gewesen sein.»
Vitus schüttelte den Kopf. «Unsinn, seht her.»

Der Papst ist hundertachtzig. Er wird die Expedition nicht überleben.

Und ehe sie sich versehen konnten, hatte er die Faust geballt und mitten auf die Scheibe geklopft, die den Papst von der Aussenwelt trennte.
Da regte sich etwas in dem Greisengesicht. Langsam, erst bemerkten sie es kaum, sperrte der Papst die Augen auf. Wie ein präpariertes Tier wirkte er, mit Augenbällen aus Glas.
Dann folgte der Mund. Mit einem Ruck riss er ihn auf. Gryphius war, als hörte er die Gelenke bersten. Daraufhin der Arm. Die Hand, die seit dreiundzwanzig Jahren geruht hatte, trommelte von innen gegen die Scheibe.
Die Bischöfe wichen zurück. Bis auf einen – Vitus. Der stützte sich mit der Hand auf den Tank und sah zum Papst hinunter. Niemand sprach, bis die päpstliche Hand endlich wieder erlahmt war.
«Wisst ihr, was das bedeutet?», fragte Vitus. «Dass wir das Wasser ersetzen sollten», sagte Ulrich. «Ignoramus! Das haben wir doch neulich erst. Nein, Brüder, das ist eine Warnung. Der Heilige Vater wünscht, dass wir nachhause zurückkehren.» «Nachhause. Jetzt. Nach neun Jahren? Das Konzil hat uns einen klaren Auftrag gegeben», sagte Gryphius. «Wir reisen so lange, bis wir die Quelle der Sphärenharmonie gefunden haben.» «Nein», sagte Vitus.
Gryphius spürte, wie sich sein Kiefer anspannte.
«Der Papst ist hundertachtzig. Er wird diese Expedition nicht überleben. Wir werden die Ursache der Sphärenharmonie niemals finden.» «Diese Mission ist grösser als der Papst», sagte Clemens. «Vielleicht sogar grösser als die Kirche selbst», ergänzte Leo.
«Das war bestimmt einfach eine zu starke Stromladung im Herzschrittmacher», meinte Ulrich und zog den Rotz hoch. «Hat ihn wohl durcheinandergebracht.» Vitus seufzte. «Ihr beharrt also auf eurer Meinung?» «Ja», sagte Gryphius. «Und über deinen Versuch, uns von unserer Mission abzubringen, werden wir noch…», wollte er sagen, als aus den Megaphonen, die oberhalb der Köpfe der Schweizergardisten angebracht waren, Knacklaute zu hören waren, gefolgt von einer Flötenmelodie. Daraufhin eine blecherne Stimme. Es war Coelestin.
«EIN VERRÄTER IST IN EUREN REIHEN», gellte die päpstliche Stimme. Da liess Vitus einen Pfiff ertönen. «Ihr habt es so gewollt», sagte der.
In dem Moment verschwand das Licht. Die Neonröhren über ihren Köpfen platzten, eine nach der anderen, in schneller Folge. Glasscherben prasselten auf sie hernieder. In der Ferne waren wiederholt dumpfe Schläge zu hören, als würde jemand die Hülle des Raumschiffs mit Kanonenkugeln traktieren. Oder als hätte jemand das Schiff mitten in einen Asteroidengürtel gelenkt.
Gryphius riss es den Boden unter den Füssen weg. Seine Kniescheiben knallten auf die Eisenplatte. Dann landete er auf dem Bauch. Schmerz stieg in ihm hoch und breitete sich durch seinen ganzen Leib aus. Wie wenn man Tinte in einen Wasserkrug schüttet.

Die Schweizergardisten waren tot, allesamt.

Grüne Laserschüsse blitzten durch den Raum. Geschrei. Dann Ächzen und Wimmern. «HERR, erbarme dich unser», hörte er jemanden flüstern.
Auf einmal war selbst der Weihrauchduft verschwunden. Er wich einem Gestank, wie ihn Gryphius vor zwanzig Jahren zum letzten Mal gerochen hatte, zu Frankfurt, als er der Hinrichtung einer Kindsmörderin beiwohnte.
Dann plötzlich eine Flamme, eine Fackel, die einen Rauschebart erleuchtete. Über dem Bart hing ein Gesicht, hohläugig und maskenhaft. Aleksander, der Patriarch von Moskau.
«Feuer? Hast du den Verstand verloren? Die Luft hier drin ist hochentzündlich!», rief Gryphius. Der Russe zuckte mit den Schultern. «Einerlei jetzt.» Er schritt durch den Raum und schwenkte die Fackel in alle Richtungen, als wolle er prüfen, wer noch lebte.
Gryphius stützte sich auf die Unterarme. Er versuchte, aufzustehen. Doch seine Glieder versagten ihm den Dienst. Ein Brennen war in seinem Bauch. Er zwang sich trotz des Schmerzes, den Kopf zu heben.
Die Schweizergardisten waren tot, allesamt. Blutteppiche breiteten sich unter ihren Körpern aus.
Die anderen Bischöfe lagen da, ohne auch nur einen Fuss zu bewegen. Es war nicht auszumachen, ob sie noch am Leben waren.
«Was habt ihr getan?» «Noch nicht genug. Noch weit nicht genug.» Vitus, der die ganze Zeit neben der päpstlichen Vitrine gestanden hatte, tauschte einen Blick mit Aleksander aus. Der reichte ihm eine Axt.

Vitus Augen leuchteten. Er hob die Axt über seinen Kopf. Die Flamme spiegelte sich in der stählernen Schneide, sodass es fast wirkte, als schwebte hoch über ihm der Heilige Geist. Daraufhin liess er das Beil hinuntersausen.

Das Papstwasser strömte auf den Boden

Einmal, zweimal, traf es auf das Glas, bis es nachgab. Das Papstwasser strömte auf den Boden und durchtränkte Gryphius’ Robe. Verwesungsgeruch lag in der Luft. Er kämpfte gegen den Drang, zu erbrechen. «Ihr Ketzer.» «Schnauze!» Aleksander zielte mit Laserbüchse und schoss knapp an Gryphius’ Scheitel vorbei. Hinter sich hörte er Ulrich wimmern.
«Die Ketzer», sagte Vitus, der begonnen hatte, mit der Axt auf die Brust des Papstes einzuschlagen, «seid ihr.»
Gryphius hielt sich die Hand an den Bauch und spürte, wie eine klebrig-warme Flüssigkeit herauslief. Er blutete. Er blutete tatsächlich. «Musik der Sphären, schlechte Idee», sagte Aleksander. «Niemals hättet ihr danach suchen dürfen.» Vitus liess das Beil auf den Boden fallen. «Der HERR hasst jene, die nach der Musik suchen.» Er beugte sich über den Heiligen Vater. «Ein Papst, der sich diesem Gebot widersetzt, kann nicht GOTTES Vertreter sein.»
«Da, da, in Paradies es gibt keine Musik», ergänzte der Russe. Er lachte. «PRA gewinnt immer.»
«PRA?»
«Petri Resistenz Armee», rief Vitus. «Eure Zeit ist vorüber. Eure Leichen werden für immer durch das Welt-All treiben. Gemeinsam mit euren Irrlehren. Unsere Brüder werden Neu-Rom inzwischen bereits gesäubert haben.»
Gryphius kam sich vor, als wäre er gar nicht mehr da. Auf einmal sehnte er sich nach dem Weihrauchgeruch zurück. Und nach HL-113s zärtlichen Berührungen. Der Roboter war – im Tod gab es keinen Grund, nicht ehrlich zu sich selbst sein – der einzige wahre Freund gewesen, den er auf der Reise gehabt hatte.
Aber da war nichts mehr.

Nur noch Stille.

Adam Schwarz ist Mitherausgeber der Literaturzeitschrift «Narr» und freier Autor. Im Herbst erscheint sein Debütroman «Das Fleisch der Welt» im Zytglogge Verlag.

Comment is free

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert