Dem Weltbild der Quantifizierung, welches das Bürgertum und den Kapitalismus geschaffen hat, kann man nur durch Erfindung anderer Spiele entkommen. Bislang herrscht Alternativenlosigkeit.

Schon als vordigitale Generation waren wir bereits als Kinder gefangen in der Welt der Waren, in der alles seinen Preis oder Tauschwert hat. Dazu massen wir uns und wurden gemessen im Wettstreit in Prüfungen, Spielen und Sport sowie in Bestenlisten aller Art. Nun erfasst die «always on» Quantifizierungsoffensive mit der mobilen und digitalen Informationstechnik praktisch die gesamte Lebenswelt.

Getrimmt und angepasst an die Quantifizierung, wurde man seit der Schule durch Noten, auch für nicht klar messbares Verhalten wie Aufmerksamkeit, Betragen oder Fleiss. Exekutiert wurde die Quantifizierung der eigenen Leistung dann beim Verkauf seiner Arbeitskraft. Das Einkommen zeigte dabei ebenso wie der berufliche Rang den eigenen Wert im Vergleich zu anderen, der sich auch nach aussen in der Selbstdarstellung manifestiert – was man hat, mit wem man verkehrt, wo man sich aufhält – und so die Karrieremöglichkeiten er- oder verschliesst. Die Formierung oder Normierung des Verhaltens wurde durch «Erziehung», sozialen Druck, Repression, Erfolgsversprechen und Aufmerksamkeitsprägung über quantifizierte Rankings internalisiert, anstelle der ausgeprägten Selbstüberwachungsinstanz, die man Gewissen oder Über-Ich nennen kann. Mit der maschinellen Aufzeichnung und Bewertung des Verhaltens von aussen und durch den Abgleich dieses Verhaltens mit anderen, schrumpft die bürgerliche Instanz des Über-Ichs. Was vor Jahrzehnten schon vom amerikanischen Soziologen David Riesman in seinem Buch «Die einsame Masse» (1950) als Typus des aussengeleiteten Menschen thematisiert wurde, wird durch das permanente quantifizierende Ranking des persönlichen Verhaltens zur normalen Persönlichkeit. Diese ist Opfer der Quantifizierung und zugleich deren Promotor, weil sie sich eben an den Rankings als Ausdruck der Norm orientiert und dementsprechend den Moden, Stars und Trends folgt. Je mehr das Leben in den digitalen Medien stattfindet, desto eher schlägt die Quantifizierung durch – als Wertschätzung, Ökonomie der Aufmerksamkeit und Adaptions- bzw. Konformitätszwang. Und weil alles permanent in Bewegung ist, die Rankings sich von Minute zu Minute verändern können, scheint immer alles offen zu sein. Selbst wenn man (noch) zum digitalen Lumpenproletariat gehört: Der Wettkampf findet zu jeder Zeit statt.

Quantifizierung bedeutet, in die Ordnung der Welt eine Rangfolge einzutragen – oder aus der Rangfolge eine Ordnung abzuleiten, in der jeder seinen Platz hat. Das macht die Welt übersichtlich. Dabei hat die Rangfolge oder die quantifizierende Hierarchisierung einen Vorteil gegenüber der qualitativen Welt, die stärker dichotomisch ausgeprägt ist: Gut und Böse, Unten und Oben, Herr und Knecht, Mann und Frau, Wahrheit oder Lüge. Eine Rangordnung differenziert, zumindest scheinbar; zwischen den Extremen erstreckt sich das weite Feld des Mittleren, der Mittelschicht – was gleichzeitig die Angst erzeugt, nach unten abrutschen und nach oben aufsteigen zu können. Angst und Mittelschicht gehören zusammen, sie ist der Träger des Ranking, des Scoring, der Rangfolge. Sie wird aber nicht mehr aus Tradition weitergegeben oder von oben als Herrschaftstitel verordnet, sie ergibt sich vielmehr aus einem scheinbar neutralen Wettbewerb im «freien Markt», den eine unsichtbare Hand steuert. Nach der bürgerlich-liberalen Ideologie werden dadurch «objektiv» über entsprechende Spieleinsätze die numerischen Werte wie der Preis der Waren und der Arbeitskraft sowie die Profitspannen erzeugt, die wiederum eine dynamische Ordnung durch Reihenfolge ergeben.

Populär wurde die Lust an der Quantifizierung über die Medien bzw. die kollektiven Aufmerksamkeitsorgane etwa durch Hitparaden aller Art, die seit 1950er Jahren im grossem Stil eingeführt wurden, schliesslich durch Leistungs- und Casting-Shows oder Quizsendungen im Fernsehen, die stets nach dem Motto «Einer wird gewinnen» Sieg und Niederlage in Konkurrenz mit anderen zelebrieren. Aber das Prinzip, das seit einiger Zeit mit der Durchsetzung von Smartphones massiv den Alltag quantifiziert und in ein Leistungsprogramm verwandelt, das jeden permanent unter Quotendruck setzt, beginnt natürlich schon sehr viel früher. Sport, wie er von den Griechen im antiken Olympia geprägt wurde, war der wahrscheinlich erste Versuch, den Streit zwischen gleichberechtigten Konkurrenten zu regulieren und zu zivilisieren, gleichzeitig wurde durch die standardisierten Wettkämpfe die Konkurrenz weiter verstärkt. Die olympische Erfindung in der Welt der konkurrierenden griechischen Stadtstaaten bestand darin, den Wettkampf aus der lokalen Begrenzung zu befreien und zu internationalisieren, aber auch neutrale Regeln zu schaffen, um auf gerechte Weise Sieger und Verlierer zu selektieren. Während der Spiele waren Kriege für die teilnehmenden Stadtstaaten gegeneinander untersagt, der Wettkampf fand zuvor in den Stadtstaaten unter den männlichen jungen Bürgern statt, die nicht nur ihre Fähigkeiten einer Disziplin unter Beweis stellen mussten, sondern neben Kraft und Virtuosität auch «Anmut» zeigen sollten. Dabei ging es um eine ästhetische Schau der durch­trainierten und schönen Körper der jungen Männer, die auch deswegen nackt auftraten, um neben der sexuellen Selektion ein normierendes Körperbild durchzusetzen. Das Körperbild war – und ist selbstverständlich noch immer – mit Leistung verbunden, die dann mit Siegen und Niederlagen im direkten Wettbewerb bezahlt wurde.

Wer im olympischen Wettbewerb nicht antritt oder davon ausgeschlossen wird, ist bereits Verlierer und in die Rolle des Publikums verdammt. Aber auch auf der Bühne werden mit der Rangfolge nicht nur Sieger ausgezeichnet, sondern Verlierer gebrandmarkt. «Mitmachen ist alles» ist nur der Versuch zu verschleiern, dass ein Wettbewerb notwendig Verlierer haben muss, die in den Orkus der Bedeutungslosigkeit verschwinden, aber die Grundschicht der gewinner­orientierten Gesellschaft bilden. Letztlich ist auch die Erfindung der Demokratie im antiken Griechenland die Etablierung einer Quantifizierung durch Selektion nicht der besten, aber der beliebtesten Politiker, was im Rückblick die vererbte, leistungslos erhaltene Herrschaft und Macht mitsamt dem damit verbundenen Reichtum verdrängt hat. Um den Preis, dass der Wettkampf schliesslich in alle Poren des gesellschaftlichen und persönlichen Lebens einzieht und dort die grosse Klasse der Verlierer, Abgehängten, Wertlosen schafft, denen immer vorgegaukelt wird, dass sie es im Gesellschaftsspiel im Prinzip schaffen könnten. Heute sind es die Menschen aus der Unterhaltungsbranche, wo das Ranking am deutlichsten betrieben wird, die zeigen sollen, dass es möglich ist, aus der Bedeutungslosigkeit der Verlierer in die Sphäre der Gewinner aufzusteigen.
Die erste Quantifizierung geschah aber wohl durch das Geldsystem. Alle Verhältnisse davor waren qualitativ geregelt, gleich ob es um Hierarchien zwischen Individuen oder in oder zwischen Gruppen ging. Mit der Quantifizierung kam der Tausch, d.h. eine Vergleichbarkeit von allem miteinander durch ein äusseres Mass. Man tauscht nicht mehr direkt auf dem Markt ein Huhn gegen Mehl, sondern beides gegen Geld, mit dem sich alles kaufen und berechnen lässt, das sich aber auch, weil es nicht verdirbt, aufhäufen lässt, um irgendwann mehr zu kaufen. Auch Dienstleistungen lassen sich nun kaufen, und die Sicherheit, Notwendiges zu erhalten und seine Macht zu sichern. Nun besitzt man nicht mehr Ländereien, Vieh oder Getreide sondern das Mass der Dinge, auch wenn es selbst wieder eine besondere Ware wird. Seit der Einführung von Währungen ist die Ordnung der Welt klar – wenn auch dynamisch gegliedert in Wertvolles und Wertloses, in einem Ranking, in das alles und jeder aus für den Einzelnen mysteriösen Gründen eingeordnet wird.

Richtig institutionalisiert wurde die quantifizierte Leistung durch Wetten nach der Einführung der Wertpapiere und der Börse im 15. Jahrhundert. Dabei wurden Wetten auf wahrscheinliche Erfolge und Misserfolge etabliert und Unternehmen, Wertpapiere und Waren aufgrund von Angebot und Nachfrage in Rankings von Kurswerten bewertet. Mit der einsetzenden Quantifizierung durch den Markt und die Wissenschaften wurden schliesslich auch Noten eingeführt, um Leistungen zu bewerten. Belegt ist, dass Jesuiten im 16. Jahrhundert ein fünfstufiges Noten- und das Klassensystem eingeführt haben. Seitdem lernen schon die Kinder nicht nur nach der von Uhren gemessenen Zeit zu leben, sondern auch damit, permanent die eigenen Leistungen im Vergleich zu anderen scheinbar objektiv eingestuft zu sehen. Die Prüfung zum Eingang ins Paradies ist seitdem nicht mehr durch Sünden und gute Taten markiert, sondern durch scheinbar objektivierte Leistung, die ähnlich wie im Sport immer weiter in Stellen hinter der Null differenziert werden kann.

Das wiederholte Ranking macht zugleich deutlich, dass es neben Siegern Verlierer geben muss, die sitzenbleiben und herausfallen, die nicht mithalten können oder wollen. Sie bilden für das quantifizierte Konkurrenzsystem gewissermassen den Ausschuss, der in der Wirtschaft das Lumpenproletariat war, also die Schicht der Arbeitslosen, temporär Beschäftigten, der prekär Lebenden, letztlich Überflüssigen. So wird mit dem getakteten Aufstieg durch quantifizierte Verhaltens- und Leistungsbeurteilung auch gleichzeitig die Angst vor dem Abstieg und Absturz in der abgehängten Masse geschürt, die aus der Quantifizierung herausfällt. Nach den ersten drei Siegern kommt in den Olympischen Spielen nur noch die abgehängte Masse. Sie muss zwar vorhanden sein, um die Sieger hervorzuheben, ist aber gleichzeitig gesellschaftlich unbedeutend, bestenfalls Stütze des Systems oder der demütig begeisterte Fan der Erfolgreichen.
In der Benotung – aber auch in der Verteilung des Intelligenzquotienten – hat sich durchgesetzt, dass es immer Gute und Schlechte geben muss. Es wäre systemuntergrabend, sollte es zu viele Gute oder Schlechte geben, weswegen man mit statistischen Mitteln Normalität produziert. Und Normalität heisst: Es gibt eine Mittelschicht, darüber wenige Erfolgreiche, darunter am besten auch wenige Verlierer, damit das Ganze stabil bleibt. Mathematisch, scheinbar ob­jek­tiv, wird damit die Ideologie der Ungleichheit in den Köpfen verfestigt.

Heute wird von «Gamefizierung» gesprochen als einer Möglichkeit, die Menschen durch Quantifizierung und Vergleich mit anderen zu höheren Leistungen «spielerisch» anzuschubsen. Diese Idee entstand zunächst aus der Welt der Computerspiele, in denen Quantifizierung gefeiert und oft im simulierten Kampf um Leben und Tod ausagiert wird. Die Quantifizierung, also die Ausbildung von reproduzierbaren und «objektiven» Massstäben zur mathematischen Messung, ist auch eine aus dem Spiel resultierende Utopie einer Gesellschaft.

Man sollte dabei nicht vergessen, dass Spiele – eben auch Sportspiele – eine trügerische Voraussetzung suggerieren. Sie sind wesentlich darauf gegründet, dass es allgemeine Regeln gibt und jeder scheinbar unter den gleichen Bedingungen beginnt, nämlich bei Null: Alles ist möglich. Spiele, die bestimmte kognitive oder physische Kompetenzen verlangen, suggerieren, jeder könne, wenn er nur entsprechend Leistung erbringt oder übt, ebenfalls beim nächsten Durchgang, der wieder von Null beginnt, erfolgreich sein. Aber das verkennt, dass die vermittelte Chancengleichheit in Wirklichkeit nicht besteht, da körperliche und geistige Kapazitäten dank Genetik und gesellschaftlicher Verhältnisse ungleich verteilt sind.

Was Spiele vermitteln, ist das Einprägen einer Wirklichkeit, die Sieger und Verlierer und eine Vielzahl von Rangordnungen dazwischen produziert. Wir sind gewohnt, auf die Sieger zu schauen, dabei ist die Produktion der Verlierer und Abgehängten für die Systemerhaltung am wichtigsten. Sie werden durch das Spiel, den Markt und den Wettbewerb davon überzeugt, dass sie für ihre abgehängte Position selbst verantwortlich sind, aber jederzeit die Chance hätten, einen erfolgreichen Zug zu machen.

Die Kulturkritik an der Optimierung und Regulierung durch Quantifizierung stösst mithin auf Entwicklungen, die die westliche Kultur spätestens seit der Antike angetrieben hat und die ausgerechnet von autoritären Herrschaftssystemen begrenzt wurden, die mit demokratischen Verfahren auch die Entfaltung des kapitalistischen Marktes verhinderten oder einschränkten. Macht und Reichtum wurden leistungslos und willkürlich vererbt. Mit dem olympischen Sport wurde in der Antike neben demokratischen Abstimmungen auch das Spielprinzip eingeführt, das die Normalverteilung der Konkurrenz an die Stelle der Willkürlichkeit des Feudalismus setzte. Die Logik des Spiels ist bestechend. Zu Beginn ist jeder gleich, keiner ist bevorteilt, es entscheidet einzig das Glück oder die Leistung, wer gewinnt. Aber es muss Gewinner und Verlierer sowie die Konkurrenz der Spieler geben.

Dieses Modell zu durchbrechen und neue Spiele zu erfinden, die andere Ziele haben, als Sieger und Verlierer zu produzieren, wäre dringend erforderlich. Der von der mehr oder weniger effektiven Demokratie geprägte moderne Kapitalismus ist letztlich eine Folge eines (noch immer) überzeugenden und attraktiven Spielmodells.

Florian Rötzer ist ein deutscher Journalist. Er studierte in München Philosophie, Pädagogik sowie Psychologie und ist Chefredakteur beim Online-Magazin Telepolis, zu dessen Gründern er gehört.

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