Arbeitskämpfe gibt es in der Schweiz mehr, als die herrschende Ideologie zugeben möchte. Seit Ende der 1990er-Jahre gibt es eine Renaissance von Arbeitskämpfen. Die Streiks im Schauspielhaus Zürich, schweizweit auf dem Bau, und jüngst bei der SDA in Bern sind Beispiele dafür. Warum legen Lohnabhängige wieder vermehrt die Arbeit nieder?

Streiks dürfte es in der Schweiz gar nicht geben, wenn es nach dem Mythos des helvetischen Arbeitsfriedens geht, welcher seit 1937 kontinuierlich konstruiert wurde. Dabei war die Schweiz bis 1950 ein ganz normales Land, was die Streikhäufigkeit betraf. Am Ausgang des 2. Weltkrieges erkämpften die Gewerkschaften mit grösseren Streiks Lohnerhöhungen und Gesamtarbeitsverträge. Danach jedoch nahm der Mythos des Arbeitsfriedens für 20 Jahre Realität an – es kam kaum mehr zu Arbeitskämpfen. Die Gewerkschaften setzten allein auf Verhandlungen am grünen Tisch und konnten dort in der Hochkonjunktur auch beachtliche Fortschritte erreichen. Ein erster Bruch erfolgte in der Krise der 1970er-Jahre, als es erstmals seit langem wieder zu Betriebsschliessungen kam. Dagegen flammten mehrere Arbeitskämpfe auf (bei Firestone in der Deutschschweiz, bei Dubied, Matisa u.a. in der Romandie, bei Monteforno im Tessin). In der darauf folgenden Konjunktur der 1980er-Jahre blieben Streiks wiederum seltene Ausnahmen.

Geändert hat sich dies mit den neoliberalen Unternehmerangriffen seit der Krise der 1990er-Jahre. Nun konnten die Gewerkschaften allein am Verhandlungstisch kaum mehr Fortschritte erreichen. Im Gegenteil, jetzt stellten die Patrons ihre Forderungen: Nach Deregulierung der Kollektivverträge und Senkung der Arbeitskosten. Die Gewerkschaften waren sich dies nicht gewohnt und konnten erst gar nicht reagieren. Der Faden der Streiktradition war unterdessen zerrissen. Viele Lohnabhängige meinten damals, in der Schweiz sei das Streiken verboten. Eine neue Generation von Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter musste zusammen mit den Belegschaften erst lernen, wie man Arbeitskämpfe führen kann. Dabei wurden verschiedene Formen der Aktion entwickelt: Niederschwellige mit Protestversammlungen der Arbeitenden und Demonstrationen, aber auch härtere mit längeren Streiks. Seit dem Jahre 2000 führt die Unia über solche Aktionen eine Statistik und zählt 126 niedrigschwellige Aktionen, 63 Warnstreiks und 112 Streiks allein in den Unia-Branchen. Mehr als 140’000 Personen haben an den erfassten Aktionen teilgenommen.
Bei der Mehrheit der Streiks handelt es sich um defensive Abwehrkämpfe: 36% wehren sich gegen Entlassungen, 30% gegen Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen (Lohnabbau, Arbeitszeitverlängerung, Personalmangel). 16% der Aktionen finden wegen Gefährdung von Gesamtarbeitsverträgen statt. Immerhin handelt es sich bei 18% der Arbeitsniederlegungen um offensive Kämpfe, so z.B. für die vorzeitige Pensionierung auf dem Bau und für die Erhöhung sehr tiefer Mindestlöhne. Konkret ausgelöst werden viele Streiks dadurch, dass Arbeitgeber arrogant Gespräche ablehnen und die Arbeitnehmenden in ihrer Würde verletzen. So kürzlich der CEO der SDA, welcher in einem Zeitungs-Interview beteuerte, er sei niemandem ausser den Aktionären verpflichtet.

Verglichen mit anderen Ländern bleibt die Streiktätigkeit in der Schweiz in der offiziellen Statistik zwar bescheiden, verglichen mit früheren Jahrzehnten hat sie aber klar zugenommen. (s. Box Streikphasen 1944–2016). Neoliberale Kommentatoren wehren diese Tatsache ab mit der Behauptung, es handle sich bei den aktuellen Arbeitskämpfen um Rückgriffe linker Gewerkschafter in die «Mottenkiste» traditioneller Kampfmittel. Nur, offensichtlich ist die «Kiste» so altväterisch nicht. Die Schweizer Arbeitskämpfe finden heute nicht allein in den Sektoren Industrie und Bau statt, sondern vermehrt auch in Dienstleistungsbranchen: Im Gesundheitswesen, im Handel und in der Logistik, bei Versicherungen, u.a. Und es streiken keineswegs nur ArbeiterInnen in der Produktion, sondern vielmehr Angestellte bei der SDA, bei Generali, oder Schiffer auf dem Lago Maggiore, um nur einige kürzliche Beispiele zu erwähnen. Mit der Verschiebung in Richtung Dienstleistungsbranchen nimmt auch der Anteil der Frauen an den Streikenden zu.

Auch die Abwehrbehauptung, es seien vor allem die «heissblütigen» Romands und Tessiner, welche zum Streik greifen, stimmt nicht. 45% der Aktionen, welche Unia zählt, fanden in der Deutschschweiz statt. In Zürich in Erinnerung sind u.a. der mehrtägige Streik des technischen Personals des Schauspielhauses (2006), der «Kacke»-Streik auf dem Bau der Durchmesserlinie im Hauptbahnhof (2011) sowie die Arbeitsniederlegung der Spitexfrauen der Firma Primula (2014). Schliesslich versuchen sich einzelne Kommentatoren mit einer Drahtziehertheorie: Streiks würden von Unia und anderen Gewerkschaften «angezettelt». Auch dies ist Unsinn, wie ein genauerer Blick auf die Bewegungen zeigt: Immer war die Aktionsbereitschaft der jeweiligen Belegschaft die Grundvoraussetzung. Die Streikenden selbst haben regelmässig in Vollversammlungen (bei Branchenstreiks Delegiertenversammlungen) über die Fortsetzung des Kampfes entschieden und nahmen aktiv an den Verhandlungen teil, wie auch jetzt wieder bei der SDA. Den Gewerkschaften, welche unterdessen wieder Erfahrungen sammeln konnten, kommt aber natürlich eine wichtige Unterstützungsfunktion zu.

Der Überblick über die Streiks der letzten Jahre zeigt auf, dass sich streiken lohnt: Rund 40% der untersuchten Streiks haben ihre Ziele voll oder mehrheitlich erreicht, 50% haben sie teilweise erreicht. Nur etwa 10% der Kämpfe endeten in einer klaren Niederlage. Dies führt dazu, dass ein Erfolg in einem Betrieb auch Belegschaften in anderen Betrieben Mut zur Aktion macht. So wurde der erfolgreiche Streik bei den Officine in Bellinzona für viele im Tessin zum Vorbild. Von grosser Bedeutung für die Arbeitskämpfe ist dabei die Tatsache, dass sie in der Gesellschaft meist auf grosse Sympathie und Unterstützung treffen. Nicht selten wird die Politik angerufen, damit sie vermittelnd für ein gutes Ende des Arbeitskampfes sorgt. Dabei hat gerade die Tatsache, dass in der Schweiz Streiks nicht sehr häufig vorkommen, den hilfreichen Effekt, dass sie öffentlich einen umso grösseren Druck schaffen.

All dies hat dazu geführt, dass Streiken heute in der Schweiz kein Tabu mehr ist. Die ArbeitgeberInnen fahren zwar fort, den Mythos des Arbeitsfriedens zu pflegen. Arbeitskämpfe würden der helvetischen Sozialpartnerschaft widersprechen, meinte kürzlich der Direktor des Arbeitsgeberverbands. Die SVP präsentierte an ihrer Medienkonferenz die Zahlen der zunehmenden Arbeitskämpfe: Schuld daran sei die Stärkung der Gewerkschaften mit den flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit. Der Trend, dass ganz «normale» Lohnabhängige zu Arbeitskampfmassnahmen greifen, lässt sich davon nicht aufhalten. Er geht weiter, solange Arbeitgeber von oben herab und ohne wirkliche Verhandlungen Massenentlassungen und Arbeitszeitverlängerungen beschliessen oder bei Reallohnerhöhungen und anderen sozialen Verbesserungen blockieren. Kurz: solange der Wert und die Würde der Arbeit nicht angemessen anerkannt werden.

Dieses Jahr wird in der Schweiz aus Anlass der 100 Jahre des Generalstreiks von 1918 wieder viel über Streik und seine Bedeutung diskutiert. Das ist gut – die grosse Bedeutung dieses Streiks für den sozialen Fortschritt soll bewusst werden. Aber Streiks brachten nicht nur zu Beginn des 20. Jahrhunderts Erfolg. Streiks sind auch heute aktuell.

Andreas Rieger war über dreissig Jahre als Gewerkschafter tätig. Bis 2012 war er Teil des Unia Co-Präsidiums. Vania Alleva ist Präsidentin der Unia und Leiterin des Sektors Dienstleistungsbranchen.
«Streik im 21. Jahrhundert», Hrg. Vania Alleva und Andreas Rieger. Erschienen im Züricher Rotpunktverlag in drei Sprach-Versionen: Italienisch, Französisch und Deutsch. HerausgeberInnen sind Vania Alleva, Präsidentin von Unia und Andreas Rieger, ehemaliger Co-Präsident. Autoren des Buchs sind verschiedene JournalistInnen und HistorikerInnen, unter anderen Ralph Hug, Michael Stötzel, Paul Rechsteiner, Nelly Valsangiacomo. Sie beschreiben die Bewegungen im Bau und in der Gartenbaubranche, sowie exemplarisch ein Dutzend Betriebsstreiks: In der Zeba in Basel, im Schauspielhaus in Zürich, bei den Officine im Tessin, Merck Serono in Genf, u.a. GewerkschaftssekretärInnen diskutieren in der Folge über die Dynamik der Kämpfe, Probleme und Erfolgsfaktoren. Der deutsche Soziologe Heiner Dribbusch beleuchtet das europäische Umfeld. Das Buch ist im Buchhandel erhältlich oder kann bestellt werden bei www.rotpunktverlag.ch

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