Noch vor den Fakten zu den Ereignissen der Silvesternacht 2016 in Köln kamen die Deutungen. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen erkennt darin ein tiefes Misstrauen in die Medien und die Unfähigkeit, Ungewissheit auszuhalten. Ein Interview von Joachim Huber.

Joachim Huber: Herr Pörksen, auf welcher Wahrnehmungsebene muss die Silvesternacht in Köln betrachtet werden
– als ein besonderes Ereignis oder als Zeitenwende?
Bernhard Pörksen: Ich glaube, dass die beschämenden, furchtbaren Attacken auf Frauen in Köln und in anderen Städten den blitzschnellen Deutungszwang unserer Tage identifizierbar gemacht haben, den kommentierenden Sofortismus. Damit meine ich – im Angesicht oft unsicherer, aber sofort verfügbarer Informationen – die Ad-hoc-Interpretation mit maximalen Wahrheitsfuror. Aus meiner Sicht haben wir unmittelbar nach dem Ereignis eine Entfesselung des Bestätigungsdenkens erlebt, eine Instrumentalisierung des Geschehens für das eigene Weltbild und eine Sinnproduktion unter Hochgeschwindigkeitsbedingungen. Aber ich muss all dies bewusst subjektiv und persönlich formulieren. Ich bin nicht objektiver als andere und ich will gar nicht erst so tun, als könnte ich nun die entscheidende Interpre­tation liefern.

Lässt sich diese Neigung zur Sofort-Deutung noch genauer fassen?
Für Rechte, die gleich von Massenvergewaltigungen sprachen, war die Sache genauso klar wie für manche Linke, die bei der unbedingt nötigen Tätersuche und der Rede von Männern nordafrikanischer Herkunft übereilt vor Rassismus warnten und die Attacken relativierten, indem sie das konkrete Verbrechen vor allem als allgemeines Gesellschaftsproblem behandelt wissen wollten. Wieder andere erkannten in allem ganz unmittelbar das Scheitern von Angela Merkel oder aber ein Totalversagen der klassischen Medien, die zu spät berichteten – vermeintlich mit dem Ziel bewusster Manipulation. Aber noch einmal: Auch ich selbst habe meine eigenen Vorurteile sofort an dieses Ereignis herangetragen, das muss ich so sagen. Das heißt, Köln ist für mich die Chiffre eines erschütternden Verbrechens, das unbedingt verfolgt werden muss. Aber es ist auch ein hoch explosives Wahrnehmungsereignis, das klar gemacht hat: die emotionale Sofort-Deutung erschlägt das Warten auf belastbare Faktizität.

Ein Phänomen war, dass die Aufklärung der Vorfälle von der Einschätzung schnell und deutlich überholt wurde. Meinung regierte Wissen. Steckt darin der Reflex, dass Ungewissheit zermürbt und nur die rasche Einordnung beruhigende Selbstgewissheit verschafft?
Das sehe ich so, ja. Menschen sind in hohem Maße sinn- und gewissheitsbedürftige Wesen, auf die im digitalen Zeitalter erschreckende, beunruhigende, oft fragliche und fragmentarische Informationen und überwältigende Bilder einprasseln. Was macht man dann? Man ordnet das Geschehen, eben entlang der eigenen, schon etablierten Wahrnehmungsschemata, blitzschnell ein, um das erregte Bewusstsein wieder zu beruhigen. Hier offenbart sich ein Dilemma, dem man gar nicht entkommen kann: Ungewiss­heit und Unsicherheit sind in der digitalen Gesellschaft der informationstechnisch produzierte Dauerzustand – und gleichzeitig eben doch kognitiv unaushaltbar. Das macht die Haltegriffe eingeschliffener Denkweisen so attraktiv.

Bei den Vorfällen und Übergriffen in Köln waren die sozialen Medien weit vor den klassischen, als es um die Dimension des Geschehens ging. Beim Faktor Zeit scheint das Wettrennen beider Systeme zugunsten von Facebook & Co. entschieden. Was bedeutet das für Fernsehen, Zeitung, journalistische Online-Portale?
Es bedeutet faktisch, dass sich der Geschwindigkeitswettbewerb noch einmal verschärft, weil man nicht ins Hintertreffen geraten will. Und es sollte bedeuten, dass die seriöse, unaufgeregtere, bewusst entschleunigte Einordnung, die erörternde Suche nach der richtigen Tonlage und der angemessenen Reaktion für die klassischen Medien ein neues Gewicht bekommt. Frei nach einer Formulierung des Netzphilosophen Peter Glaser: «Information ist schnell, Wahrheit braucht Zeit.»

Ein nicht geringer Teil des Publikums wusste allerdings sofort, wer versagt hat: die Politik und die Medien. Neu nach Köln war, dass auch Politiker wie die CSU-Granden Andreas Scheuer und Hans-Peter Friedrich die Medien bei der Flüchtlings-Berichterstattung mit Begriffen wie «Schweigekartell» und «Nachrichtensperren» ins Visier nahmen.  Reagiert sich da Politik ab, weil sich Pegida et al. an der Politik abreagieren?
Ich sehe das anders. Natürlich hat es lange gedauert, bis manche Medien die Brisanz des Themas erkannten, aber dafür gibt es Erklärungen, etwa den geschönten Polizeibe­richt und die spärliche redaktionelle Besetzung an den Feiertagen. Selbstverständlich gab es erklärungsbedürftige Fehlleistungen von Journalisten, z. B. eine absurde und im allgemeinen Misstrauensklima wirklich fatale Aufforderung gegenüber dem Kriminologen Christian Pfeiffer, doch bitte nicht von Flüchtlingen zu sprechen, man würde sonst das Interview abbrechen. Solche Geschichten, wie auch die bestenfalls unklaren Aussagen einer WDR-Mitarbeiterin, nähren den großen Verdacht, man berichte mit Tendenz und pädagogischen Absichten. Aus meiner Sicht zeigt die pauschale Medienkritik jedoch zweierlei: Zum einen ist ein pauschales Journalistenbashing zur Mode geworden – eben nicht nur im rechtsradikalen Milieu, sondern bis weit in das bürgerliche Lager hinein. Zum anderen wird an diesen Beispielen deutlich, wie verbreitet und beliebt das verschwörungstheoretische Denken inzwischen ist.

Wenn das stimmt: Warum sind Verschwörungstheorien unter den neuen Informationsbedingungen so attraktiv?
Ich würde sagen: Verschwörungs- und Manipulationstheorien liefern in einer Situation bedrohlicher Ungewissheit ideale Möglichkeiten der Adhoc-Einordnung. Man muss sich gar nicht groß mit der Analyse von Ursachen befassen, sondern kann sofort Schuldige präsentieren, indem man ruft: Schweigekartelle! Lüge! Manipulation! Allerdings, und das ist eigentümlich: der Verschwörungstheoretiker denkt die Macht der Medien strikt vordigital, isoliert, personalisiert. Mir erscheint das seltsam unzeitgemäß. Die Verschwö­rungs­theorien kehren just in einem Moment zurück, indem Medienwirkung in diffuse, unkontrollierbare Netzwerke diffundiert ist. Es wäre gerade heute für Journalisten in diesem Land unendlich schwer, systematisch Information zu unterdrücken. Ihre Macht und Deutungshoheit ist gebrochen. Alles ist sofort sichtbar.

Ist es soweit, dass Zuschauer, Zeitungsleser und Online-Nutzer nicht mehr an einer wahrheitsgetreuen Berichterstattung interessiert sind, sondern an einer interessengeleiteten? Motto: Meine Sicht muss das Berichtsfeld bestimmen.
Natürlich mag das für einzelne Gruppen zutreffen, aber ich würde doch davor warnen, Zuschauer und Zeitungslesern pauschal eine ideologische Weltwahrnehmung zu unterstellen. Für mich zeigt sich ein ganz grundsätzliches Problem, das alle gleichermaßen betrifft, die Journalisten und ihr Publikum: Wir werden konstant und in Echtzeit mit Schreckensnachrichten und Schreckensbildern konfrontiert, die aber eigentlich erst Einordnung und Prüfung verlangen. Dafür aber ist keine Zeit. Und niemand vermag in einer hoch nervösen Medienwelt zu sagen: Sorry, wir warten erst einmal ab! Keine Berichte, keine Kommentare, keine Schnell-Interviews!

Man will ganz unmittelbar Klarheit haben.
Ja. Und all die Instant-Interpretationen sind verzweifelte, manchmal gewiss auch bösartige und verbohrte Reakti­onen, doch noch irgendwie mitzuhalten. Es ist die Simulation von Einordnung im allgemeinen Geschwindigkeitsrausch, die einen frösteln lässt, weil das Sofort-Bescheidwissen auch das Leid der Opfer unmittelbar mit neuen Superthesen überspielt, es gar nicht an sich herankommen lässt, sondern es in Deutungskämpfen zum Verschwinden bringt. Die Medienge­sellschaft hat die Ratlosigkeit und das Noch-nicht-Wissen tabuisiert. Es gilt in jedem Fall das Eingeständnis vermeiden, dass man noch nicht sagen kann, was das Geschehen auf lange Sicht eigentlich bedeutet. Auch wenn das vielleicht manchmal die ehrlichste Antwort wäre.

Interview von Joachim Huber

Dr. Joachim Huber ist Leiter des Ressort Medien beim Tagesspiegel in Berlin. Er ist Mitglied der Jury des Adolf Grimme Preises und der Vorauswahl-Jury des Robert-Geisendörfer-Preises.
Bernhard Pörksen ist Medienprofessor an der Universität Tübingen. Zuletzt schrieb er – gemeinsam mit dem Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun – das Buch ‹Kommunikation als Lebenskunst. Philosophie und Praxis des Miteinander-Redens.› Heidelberg: Carl Auer-Verlag. Das vorliegende Interview wurde erstmals am 20. Januar 2016 im Tagesspiegel abgedruckt.

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