«Im Sinne ihrer politisch definitionsmächtigen Festschreibung ist die Geschichte des Opernhaus-Krawalls und der Achtziger Jugendbewegung längst abgeschlossen.» Das schrieb der Zeitzeuge und Journalist Stephan Ramming in der Einleitung des 2001 erschienenen Buchs ‹Wir wollen alles, und zwar subito!›. Jede Neu-Erzählung der Ereignisse könne nur eine subalterne Variante dieses bereits bestehenden «Macht-Diskurses» bilden. Seinen eigenen Wunsch nach «Teilhabe am Historisierungsprozess» der Bewegung bezeichnete Ramming daher als «naiv». Diese unantastbare erzählerische Machtposition gehörte laut Ramming den NZZ-Redaktoren – die Welt damals bestand aus dem generischen Maskulin – und Vertretern des «Establishments»: den Erzfeinden der Achtziger-Bewegten, die jedes Verständnis für die jugendlichen «Verweigerer» ihrerseits verweigerten.

Im Jahr 2020 scheint deren Deutungsautorität in Bezug auf die Ereignisse der frühen 1980er Jahre in Zürich erodiert worden zu sein. Wer zur Achtziger-Bewegung recherchiert, stösst vorab auf eine Fülle an Materialien, die vor allem der Perspektive der Bewegten Raum geben und/oder von damals selbst Beteiligten verfasst wurden. Stilbildend darunter ist zweifellos der erwähnte Sammelband von Heinz Nigg, mit dem dieser der Achtziger-Bewegung ein Denkmal setzte und in dem sich Rammings so pessimistische Einschätzung der eigenen Wirkungsmächtigkeit findet. Der Band präsentiert sich in einer Form, die späteren Publikationen zur Achtziger-Bewegung als Muster diente: als vielstimmiges Kaleidoskop, das eben gerade kein einheitliches Bild der Bewegung entwerfen will. Und doch verdichtet sich in diesem Panorama eine zwar variierende, aber in ihrem Kern konstante «Festschreibung» oder Deutung der Achtziger-Bewegung, an der ehemalige Bewegte einen wesentlichen Anteil haben.

Das Kondensat dieser «Festschreibung» besteht in einem Satz, der als Bilanzierung der Achtziger-Bewegung zu einer Art Mantra geworden ist. Auch in der Ausschreibung zu dieser Nummer der Fabrikzeitung fiel er wieder: «Die neuen Archipele der alternativen Kultur machten Zürich erst zur Weltstadt, die sie allein mit der distinguierten Monokultur von Banken und Multis nie geworden wäre.» Er findet sich in der Publikation «Capitales Fatales» des International Network for Urban Research and Action (INURA) von 1995 und stammt aus der Feder von den ehemaligen Bewegten Hansruedi Hitz, Christian Schmid und Richard Wolff. Deren Erzählung geht dabei so, dass der Staat 1982 einerseits mit Repression das widerständige Moment der «Revolte» der Achtziger-Bewegung zerschlug und andererseits zugleich mit einer guten Nase für die kommerzielle Verwertbarkeit vieler Anliegen und Strategien der Bewegung diese «domestizierte» und sozusagen als Triebrad ins ökonomische System «integrierte». Dadurch wurde die Achtziger-Bewegung unfreiwillig zur Wegbereiterin des heutigen neoliberalen «Lebensqualitäts»-Zürich mit Standortranking-Spitzenplatzierung. Varianten dieser These scheinen seither immer wieder auf, wenn von der Bewegung die Rede ist, auch bei solchen, die die politischen Lager inzwischen gewechselt haben. So führt Kenneth Angst, einstiger Bewegter und späterer NZZ-Redaktor, in seiner 2010 im Sammelband ‹ Zur(e)ich brennt› erschienenen Bilanz sowohl die plurale und liberale urbane Gesellschaft des 21. Jahrhunderts als auch «die kulturelle Kommerzialisierung des öffentlichen Raums in unserer marketinggesteuerten Event- und Selbstinszenierungsgesellschaft» auf die Bewegung zurück.

Deutlich wird, dass gerade für die selbst an der Bewegung Beteiligten dieses Fazit der eigenen politisch aktiven Vergangenheit von einer tiefen Ambivalenz geprägt ist. Der Alt-Achtziger Mischa Brutschin stellt in einem Interview von 2016 resigniert fest: «Das Bittere ist ja – da musste ich leer schlucken, als mir das bewusst wurde – dass die Bewegung der 80er-Jahre den Boden für das moderne Zürich gelegt hat.» In die zum Teil vorhandene Genugtuung oder gar zum Stolz, den Anstoss zum «bunten», «urbanen», «vielfältigen» Zürich der Gegenwart gegeben zu haben, scheint sich Enttäuschung darüber zu mischen, unabsichtlich der Agenda des politischen Gegners in die Hände gespielt zu haben.

Wo liegen die Untiefen dieser erzählerischen Logik? Und welche anderen Geschichten der Achtziger-Bewegung werden von ihr verdeckt? Diese «Festschreibung» der Achtziger-Bewegung sieht in der Bewegung den zentralen und kausalen Ausgangspunkt der Gegenwart. So wird in «Capitales Fatales» ausführlich geschildert, wie die «Revolte» in den verkrusteten städteplanerischen Stillstand der 1970er Jahre Bewegung brachte und die Modernisierung Zürichs (zur «Weltstadt») katalysierte. Ein impliziter Nebeneffekt dieser Darstellung ist, dass den zurückblickenden Zeitzeugen – es sind Männer, die dieses Narrativ vor allem zu prägen scheinen – darin wie zufällig die Rolle der tragischen Helden zukommt, die im Kampf für das Gute (alternative Freiräume) unwissentlich auch dem Bösen (Kapitalismus, Kommerz, Gentrifizierung) den Weg bereiteten. Nicht nur die Kulturschaffenden, Alternativen und Jungen von heute, sondern auch die Kapitalistinnen haben also eigentlich alles ihnen zu verdanken… Dass Zeitzeuginnen geneigt sein mögen, prägenden und ereignisreichen Phasen in ihrer Biografie eine zentrale Rolle ihrer Interpretation der Welt zuzusprechen, ist nachvollziehbar. Hinter dieser kausalen Erzähllogik lauert aber noch ein Fallstrick: Sie folgt nämlich einem Geschichtsbild aus dem 19. Jahrhundert, das auf der Vorstellung eines stetigen Fortschreitens der historischen Entwicklung in Richtung «Modernisierung» oder höherer Stufe des «Zivilisationsprozesses» beruht. Sozialen Bewegungen kommt dabei die Rolle von Motoren zu, die diese Entwicklung beschleunigt voranbringen – in der marxistischen Interpretation bekanntlich solange, bis auf der höchsten Stufe der Entfaltung der Produktivkräfte die Revolution eintritt. Wenn also die Achtziger-Bewegung als progressive «Revolte» letztlich die Höherentwicklung des Zürcher Kapitalismus – Stadtvermarktung, Globalisierung, Neoliberalismus – bewirkt haben soll, dann folgt diese Erzählung genau dieser geschichtlichen Logik.

Mal abgesehen davon, dass wir nun schon länger auf die Revolution warten, ist auch diese Auffassung von Geschichte nicht mehr ganz taufrisch, und zwar, weil sie Zusammenhänge so stark vereinfacht, dass viele Phänomene in dieser Logik nicht erzählt werden können. Die neuere historische Forschung begreift gesellschaftliche Veränderungen daher als komplexe, willkürliche und von Ungleichzeitigkeiten geprägte Prozesse, die in erster Linie andere – nicht bessere oder modernere – historische Konstellationen hervorbringen. In Bezug auf die Achtziger-Bewegung würde eine solche Sichtweise erstmal bedeuten, sie als historisches Ereignis von der Last zu befreien, Ursprung der gegenwärtigen Zu- und Missstände zu sein. Damit wird der Blick frei auf eine Vielzahl von anderen Geschichten über die Achtziger-Bewegung. Drei Themenfelder, die mir besonders interessant scheinen, möchte ich kurz skizzieren.

Als erstes lohnt es sich, das auch von den INURA-Autoren starkgemachte Thema der (alternativen) Kultur neu zu betrachten. Die Achtziger-Bewegung muss hier als ein Ereignis in einer ganzen Reihe zahlreicher weiterer seit den 1960er Jahren gesehen werden. Ab dann wurde in einem Spannungsfeld von verschiedenen zivilgesellschaftlichen Gruppen, staatlichen Akteuren sowie den Kulturschaffenden selber intensiv über eine «Demokratisierung» der Kultur diskutiert, wobei der Begriff der «Kultur» eine markante Bedeutungsverschiebung und -ausweitung erfuhr. Konflikte bestanden nicht so sehr bei der Frage, ob alternative Kultur berechtigt sei und gefördert werden sollte – sondern vielmehr darüber, was dieser Begriff umfasste und was nicht. (Damit beschäftige ich mich aktuell in einem Beitrag, der in diesem Jahr in der Publikation zum 40-jährigen Jubiläum der Roten Fabrik erscheinen wird.) In diesem Kontext ist auch das berühmt-berüchtigte Diktum des damaligen Stadtpräsidenten Sigmund Widmer, dass «Rockmusik keine Kultur» sei, zu verorten: Dass die in den 1970er Jahren populär werdenden grossen und kommerziellen Rockkonzerte nun auf einmal auch «Kultur» sein sollten, überstieg wohl tatsächlich den Horizont des schöngeistigen Germanisten und Lehrer, als Stapi seines Zeichens zuständig für die «Kulturpflege», wie es damals noch hiess. Der springende Punkt hier ist aber nicht eine Verteidigung von Widmers antiquiertem bildungsbürgerlichen Kulturverständnis, sondern die Tatsache, dass die «Kulturalisierung» von Gesellschaft und Stadt – ein wichtiger Faktor bei der Aufwertung der Stadtzürcher «Standortattraktivität» in den Neunzigern – nicht erst durch die Achtziger-Bewegung auf die Agenda gesetzt wurde. Die Bewegung erscheint somit nicht mehr als Initialzündung, die radikale neue Impulse setzte, sondern als Episode eines vielstimmigen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses, der schon jahrelang geführt worden war. Eine solche Geschichte der Achtziger-Bewegung kann nun neue Fragen stellen. Etwa danach, inwiefern die kulturpolitischen Diskussionen der 1970er Jahre den Rahmen schufen, in dem die Forderungen der Achtziger-Bewegung erst artikulierbar wurden. Oder danach, wie die Achtziger-Bewegung in diesen kulturpolitischen Deutungskampf intervenierte und an welche bereits bestehenden Deutungen und Inhalte sie dabei anschliessen konnte; und so fort.

Ein zweites Themenfeld, dessen Abwesenheit in den Erzählungen der Achtziger-Bewegung frappant ist, ist die Frauenbewegung der 1970er Jahre. In der politischen Aufbruchsstimmung von 1968 und vor dem Hintergrund der Debatten im Vorfeld der Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen in der Schweiz 1971 hatte sich in Zürich die Frauenbefreiungsbewegung (FBB) gebildet – die erste politische Bewegung in der Schweiz, die in ihrem Selbstverständnis autonom war. Darin, in ihrer anführerinnenlosen, fluiden Organisationsform in Arbeitsgruppen, in ihrem kreativen Aktionismus und ihrer Forderung nach Räumen nahm die FBB viele Merkmale der Achtziger-Bewegung vorweg. Weder wird aber die Frauenbewegung als Vorläuferin in den Erzählungen der Achtziger-Bewegung erwähnt, noch der (erfolgreiche) Kampf der FBB für ein Frauenzentrum in die Chronologie des Kampfs um Freiräume gestellt. Ein Gang ins Archiv zeigt, dass die FBBlerinnen schon zu AJZ-Zeiten mit einiger Bitterkeit feststellten, dass das, was bei ihnen Jahre davor noch als «zu wenig politisch» verlacht wurde, nun von denselben Männern «beklatscht» werde. Das spannende Material, zum Beispiel das underground-Heft «hubers modeblatt», enthält Berichte, denen zufolge sich viele Aktivistinnen aus der Frauenbewegung anfänglich mit Begeisterung der Achtziger-Bewegung anschlossen, an den VVs bald aber ein Klima «latenter Frauenfeindlichkeit» wahrnahmen und «ein schleichendes … Unbehagen unter den ‹eigenen› Leuten» empfanden. Die Vergewaltigungen im AJZ (und der kollektive Umgang damit) trugen das ihre dazu bei, den Graben zwischen den politisierten Frauen und der Bewegung zu vertiefen.

Stephan Ramming schrieb in seinem Text, dass sich in der Achtziger-Bewegung «die Jugend … als unsichtbarer Teil der Gesellschaft plötzlich sichtbar» gemacht hatte. Indem die «Jugend» als «Jugend» sichtbar wurde, wurden andere solche politischen Benennungen und Anliegen verdeckt: eben zum Beispiel die «Frauen», oder auch die «Migrant*innen» – das dritte Themenfeld, auf das ich eingehen möchte. Zwar wird in den Erzählungen der Bewegung immer wieder betont, dass (vor allem italienische) Secondos und Secondas mit dabei gewesen seien. Mit ihren Slogans wie «Freie Sicht aufs Mittelmeer» bezogen die Bewegten dazu ihre Forderungen nach einer lebenswerteren Stadt auf eine (romantisierte) Vorstellung des Lebensgefühls im südlichen Nachbarland. Doch die migrantischen Anteile an der Bewegung bleiben in den bisherigen Erzählungen der Achtziger-Bewegung genauso unsichtbar wie jene der Frauen. Und auch der Verweis auf die migrantischen Kämpfe in den 1970er Jahren – etwa im Zusammenhang mit der «Überfremdungs»-Initiative von James Schwarzenbach – fehlt in den Vorgeschichten der Achtziger-Bewegung. Ein weiterer Hinweis darauf, dass das Verhältnis zwischen dem migrantischen Zürich und der linken Szene, aus der sich die Bewegung unter anderem rekrutierte, zumindest ambivalent war, könnte sein, dass es gerade die leeren Wohnungen der im Zug der Rezession ausgewiesenen «Gastarbeiter» in Aussersihl waren, in denen sich Mitte der 1970er eine alternative Szene von WGs und Kommunen etablierte. Die Forderung nach einer postmigrantischen Geschichte der Achtziger-Bewegung stellt aktuell auch Rohit Jain im Buch «Labitzke Farben», das dieses Jahr bei der Edition Hochparterre erscheint.

Nadine Zberg ist Historikerin und forscht an der Universität Zürich zur Politisierung der Stadtplanung im Zürich der 1970er-Jahre. 2016/17 hat sie in der Shedhalle u.a. an einem Projekt zu «Urban Citizenship» mitgewirkt.
Quellenhinweise:

Kenneth Angst et al.: Zur(e)ich brennt, Zürich: Europa Verlag Zürich, 2010.

Michele D’Ariano Simionato/Marco Jacomella (Hg.): Katalog der Ausstellung «Alles ist Gut. Freiräume in der Stadt Zürich 1960-2015», Luzern: Präsens Editionen 2016.

Hansruedi Hitz et al. (Hg.): Capitales Fatales. Urbanisierung und Politik in den Finanzmetropolen Frankfurt und Zürich, Zürich: Rotpunktverlag 1995.

Heinz Nigg (Hg.): Wir wollen alles, und zwar subito! Die Achtziger Jugendunruhen in der Schweiz und ihre Folgen, Zürich: Limmat Verlag, 2001.

Ein Kommentar auf “Die ungeschriebene(n) Geschichte(n) der Achtziger-Bewegung

  1. fonzi sagt:

    Danke Nadine für den Artikel. Es gibt recht viele Aspekte, welche ich bezüglich den 80ern ausblende, bzw. nicht bewusst war.

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