Zur Freundschaft zwischen Virginia Woolf und Ethel Smyth.

Ich lag hier gestern um vier, als ich die Klingel hörte, dann ein energisches Stampfen die Treppe herauf, und dann, siehe da, stürmte eine rauhe, aber herzliche, militärische alte Frau (älter als ich dachte) ins Zimmer […] mit Dreispitz-Hut und Schneiderkostüm: «Lassen Sie sich ansehen.»

So erinnert sich Virginia Woolf an den ersten Besuch der Komponistin Ethel Smyth, Tochter eines Generals. An diesem 20. Februar 1930 war Ethel Smyth 71 Jahre alt, ledig und fast taub; Virginia Woolf war verheiratet und 47 Jahre alt. Beide hatten schon voneinander gehört und gelesen. So kannte Ethel Smyth die Freundin und Geliebte Virginias, die Autorin Vita Sackwell-West. Und sie war hingerissen von Virginias 1929 erschienenem Essay «A Room of One’s Own». Natürlich braucht eine Frau Geld und ein Zimmer für sich allein, um klar denken und künstlerisch produktiv zu sein! Die 71-jährige Ethel Smyth sah ihre tiefsten Überzeugungen bestätigt und schickte eines ihrer autobiografischen Bücher, «Impressions That Remained», an Virginia Woolf, die es begeistert las. Literatur als erste Brücke.
Für Damen aus bürgerlichen oder adligen Milieus, die sich in konventioneller Zurückhaltung übten, war Ethel Smyth eine Herausforderung. Virginia Woolf schaute genauer hin:

So ehrlich und schroff ist sie, und dabei urteilsfähig, – beurteilt Vita und ihre zweitklassigen Freundinnen scharfsinnig, – […] Sie hat etwas Grossartiges, Bewährtes und Erfahrenes an sich, neben dem Lärm und Aufruhr – und ich bin mir nicht sicher, dass sie wirklich die Egozentrikerin ist, für die die Leute sie halten.

Ethel war nach der ersten Begegnung verzaubert. In ihrem Tagebuch notiert sie, dass sie 18 Monate an nichts anderes als an Virginia Woolf denken konnte. Diese hingegen äussert sich zunächst erschrocken, abwehrend, spöttisch: «Eine alte Frau von 71 Jahren hat sich in mich verliebt. Es ist zugleich abscheulich und schrecklich und melancholisch-traurig. Es ist als würde man von einem riesigen Taschenkrebs gepackt.» Doch Virginia Woolf überwindet ihre Vorbehalte, debattiert mit Ethel Smyth über Sexualität, über Liebe zu Frauen, fragt sie: «Und wie definierst Du «Perversität»? Wo ist die Grenze zwischen Freundschaft und Perversion?»

Virginia Woolf soll bei ihren Treffen Tränen gelacht haben. Obwohl Virginia sich wünschte, von Ethel, dieser genauen Beobachterin, beschrieben, ja gespiegelt zu werden, gibt es in Ethels Büchern kein Porträt. Nur in ihren unveröffentlichten Tagebüchern beschreibt sie ihre tiefe Liebe zu Virginia, die eine kritische Analyse nicht ausschliesst. So bewunderte sie Virgina Woolfs Genie, ihre Integrität, ihre wunderbaren Briefe und ihre Schönheit, aber hielt sie auch für selbstbezogen, eifersüchtig auf literarische Exzellenz und arrogant.

Die grosse Frage der Sexualität

Zeitlebens war Ethel Smyth interessiert am Liebes- und Beziehungsleben, wie sie in «Impressions That Remained» bekennt: «die grosse Frage der Sexualität beschäftigte mich ständig.» In Ägypten wollte sie einen Hermaphroditen gegen Bezahlung in einem Zelt fotografieren. Doch da sie kaum Erfahrungen mit der Fotografie hatte, belichtete sie den Film falsch. Nichts war zu erkennen; es blieben nur Ethel Smyths Erzählungen über diese Expedition zu den Geschlechtergrenzen.

Wie hängen biologisches Geschlecht, Begehren und tiefe Gefühle zusammen? Welche Rolle spielen gesellschaftliche Bedingungen? Ethel Smyth beschreibt ihre unermüdliche Suche nach intensiven Freundschaften und Liebe mit einer aussergewöhnlichen Offenheit. In ihren Büchern und Briefen ermöglicht sie uns aufschlussreiche Ein- und Rückblicke. Dazu gehört auch die Liebe im Alter, die sie z.B. heftig und schmerzhaft zu Virginia Woolf erlebte. In ihrem Tagebuch bekennt Ethel Smyth:

dass für viele Frauen, in jedem Fall für mich, Leidenschaft unabhängig vom sexuellen Begehren ist. (Natürlich kann es nicht geleugnet werden, wenn Du jung bist, aber, wenn ich so offen sein darf, hörte es auch dann nicht auf für mich eine gewisse Rolle zu spielen, als ich eigentlich mit allen physischen Dingen hätte abgeschlossen haben sollen. Aber ich bin immer noch zu einer Liebe fähig, die so tief und verzehrend ist, wie es die ein oder zwei grossen Lieben meiner Jugend waren.)

1936, im Alter von 77 Jahren, reflektiert sie in ihrer autobiographischen Schrift «As Time Went On», die beiden grossen Lieben ihres Lebens, lange nachdem diese verstorben waren.

Ich habe mich lange mit der Entstehung dieser Freundschaft befasst, denn wenn es so etwas zwischen Menschen gibt, wie ein Instrument mit zwei Saiten, wie ich es einst in einer arabischen Kapelle sah, dann war ich 15 Jahre lang so ein Instrument und Harry und Lady Ponsonby waren diese zwei Saiten.

Wie ein Musikinstrument sei sie zum Klingen gebracht worden – durch einen Mann und eine Frau. Die Saite neben ihrem langjährigen Gefährten «Harry», der Kosename für den Literaten und Libretttisten Henry B. Brewster (1850-1908), symbolisiert Lady Ponsonby (1832-1916). Sie war Hofdame der Queen Victoria und mit dem königlichen Privatsekretär Sir Henry Ponsonby verheiratet. Hier begegnete Ethel Smyth einer vertrauten Konstellation: Sie schwärmte für eine ältere Frau, die Ehefrau und Mutter war, deren Freundschaft sie mit Geduld und Ausdauer gewann und deren Klugheit und Rat sie lange begleiteten. In Lady Ponsonby’s Leben spielten die Familie, gepflegte Häuslichkeit und Kunst wichtige Rollen. War hier noch Platz für Ethel Smyth? Offensichtlich ja, auch wenn es Reibereien und Eifersüchteleien gab. Ethel Smyth zitiert aus einem Brief Lady Ponsonbys aus den frühen Jahren ihrer Bekanntschaft:

So wie Du entschlossen bist, dass Dein Werk immer der kräftige Quell Deines Lebens sein soll, so sorge ich dafür, dass nichts das einzige Werk stören soll, was ich vollbringen kann. Und das ist, Familienleben so schön und glücklich zu gestalten, wie ich es vermag, und alle Störungen aus dem Weg zu räumen.

Von ihrem Leben für die Musik und ihren Balance-Akten zwischen Freundschaft, Liebe und Partnerschaft berichtet Ethel Smyth in neun Memoirenbänden, die sie auch als exzellente Schriftstellerin ausweisen. Viele Erfolge hatte sie trotz aller Widerstände in Konzertsälen und Opernhäusern feiern können, mit Aufführungen von eigenen Kammermusiken, Chor- und Orchesterwerken und Opern. Ihre musikalische Ausbildung erhielt Ethel Smyth, die fliessend Deutsch sprach, in Leipzig; etliche ihrer Opern wurden in deutschen Häusern aufgeführt.

Ausgezeichnet wurde sie mit drei Ehrendoktorwürden und 1922 in den Adelsstand erhoben, zur Dame Commander of the Order of British Empire. Doch sie gesteht, dass ihr Streben nach Unabhängigkeit mit ihren Wünschen nach Zuneigung und Ermutigung kollidierte. In einer Gesellschaft, in der Ehefrauen die Rolle der opferbereiten Unterstützerin zugewiesen wurde, musste eine Künstlerin wie sie nach anderen Wegen suchen. Als genaue Beobachterin patriarchaler Verhältnisse fürchtete Ethel Smyth Konventionen, die Frauen daran hinderten, künstlerisches Schaffen und intensive Beziehungen zu kombinieren. Ausserdem bekannte sie sich immer zu ihren Freundschaften und Lieben zu Frauen.

Die Silberfäden weiblicher Netzwerke

Unverzichtbare Lebenselixiere waren für Smyth spontane Zuneigung und Networking insbesondere zwischen Frauen. Frauen förderten ihre Musikkarriere auch als Mäzeninnen, angefangen mit ihrer Schwester Mary, wie sie in «Impressions That Remained» schreibt.
Auffällig in Smyths Sehnsuchtssprache ist das so genannte «Mütterliche», die mütterliche Zuwendung in Frauen-Beziehungen. Es bleibt zu diskutieren, was Ethel Smyth und ihre ZeitgenossInnen unter «Mütterlichkeit» verstanden. So betonte z.B. Helene Lange (1848-1930), eine Vertreterin der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung, die Bedeutung der «Geistigen Mütterlichkeit» für eine Reform der Mädchen- und Frauenbildung.

Ethel Smyth entfaltet in ihren Büchern faszinierende Panoramen des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens, nimmt die Leser*innen backstage in die Opernhäuser oder zum Bankett mit gekrönten Häuptern. Sie schildert die Kämpfe der Suffragetten, entwickelt ihre Überlegungen zur Stellung der Frau, deren Diskriminierung in Politik, Kultur und Musik. Bestimmten Frauen setzt sie fein beschriebene und höchst lebendige Denkmäler. Sie künden auch vom Stolz, diese Frauen gekannt zu haben, ihnen nahe gewesen zu sein: «So geschah es, dass die Beziehungen zu gewissen Frauen, die alle aussergewöhnliche Persönlichkeiten waren, mein Leben wie Silberfäden durchwirkten.»

Persönliche Beziehungen werden von Smyth vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Verhältnisse geschildert und analysiert. Ironisch klingt ihr Verdikt, dass englische Männer durch einen Geburtsfehler nicht in der Lage seien, die Werke von Frauen zu beurteilen: «Sie mögen es versuchen, aber der Popanz des Geschlechts steht zwischen ihnen und dem Werk.» Das Etikett Frau verhindere jede ehrliche und ernsthafte Auseinandersetzung. Ethel Smyth betont, dass Männer Gesetze und Regeln machen, wozu auch Fairness gehöre. Doch würden sie diese gegenüber Frauen missachten und brutal ihre Interessen durchsetzen.

In Grossbritannien durften Frauen zu jener Zeit nicht wählen, auch wenn sie Landbesitzerinnen waren. Eine Scheidung war für Ehemänner leichter durchzusetzen als für Frauen. Zwar wurde die Liebe zwischen Frauen nicht durch explizite Strafen bedroht, aber es gab wirkmächtige Tabus. Eindeutig und rigide war die Rechtslage für Männer: Zwischen 1820 und 1885 galt die Todesstrafe für homosexuelle Liebesakte. Sie wurde 1885 abgeschafft und durch das criminal law amendment act ersetzt. Alle Liebesakte zwischen Männern galten damit als illegal und strafbar und wurden mit maximal zwei Jahren Zuchthaus und schwerer Arbeit geahndet. Ein prominentes Opfer dieser Gesetzgebung war Oscar Wilde, verheiratet mit der Kinderbuchautorin Constance Lloyd, mit der er zwei Söhne hatte.

Der gesellschaftliche Druck war für Frauen und Männer gross, eine Ehe einzugehen und Kinder zu haben. In gewissen Kreisen waren jedoch Freiräume möglich, beispielsweise für Männer liebende Männer und Frauen liebende Frauen, die in Hetero-Ehen lebten. Zu diesen Paaren gehören Vita Sackville-West und ihr Mann Harold Nicolson sowie Winnaretta Singer, in zweiter Ehe verheiratet mit dem Prinzen Edmond de Polignac. Politisch engagierte Frauen wie Suffragetten, aber auch alleinstehende Lehrerinnen konnten mit dem Label «Lesbian» diffamiert werden.

Trotz aller schmerzhaften Konflikte sah sich Ethel Smyth nicht als Aussenseiterin. Sie stellte sich in einem gewissen Einklang mit aussergewöhnlichen Mitgliedern und Zirkeln der Gesellschaft dar; und sie plädierte für eine legitime Vielfalt der Lebens- und Liebesweisen. Was verstand Ethel Smyth unter Freundschaft, Leidenschaft, Liebe – was unter Erotik und Sexualität? Lebte sie in einer Partnerschaft? In ihren Memoiren entzieht sie sich eindeutigen Zuordnungen.

Die Forschung zu ihren Beziehungen, zum Schaffen und den historischen Hintergründen steht noch am Anfang. Zwar veröffentlichte die englische Musikschriftstellerin Christabel Marshall unter dem Pseudonym Christopher St. John 1959, also rund 15 Jahre nach Ethels Tod, eine Biographie, zu der Ethel Smyth sie beauftragt hatte. Darin zitiert sie auch aus Briefen und Tagebüchern, doch bleiben viele Fragen offen. Neue Erkenntnisse sind z.B. aus rund 2000 Briefen zu erwarten, die Ethel Smyth zwischen 1884 und 1908 mit ihrem Gefährten Henry B. Brewster wechselte. Die australische Musikwissenschaftlerin Amanda Harris hat sie in einer Privatsammlung entdeckt. Diese Briefe verraten mehr über die Beziehung zwischen Ethel und Henry, aber auch zu Freundinnen wie Winnaretta Singer, Prinzessin de Polignac, Erbin des Nähmaschinenkonzerns und Musikmäzenin (1865-1943). Ausserdem öffnen sich Türen in ihre Komponierwerkstatt.

Zeitlebens hat sich Ethel Smyth herkömmlichen Vorstellungen von Lebens- und Liebesweisen, von Geschlecht und Rollen widersetzt, sie hinterfragt oder ignoriert. Kein Wunder, dass Virginia Woolf von Ethel Smyth fasziniert war.

Dr. phil, Birgit Kiupel, Hamburg, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim DDF (Digitales Deutsches Frauenarchiv), Historikerin, Autorin, Zeichnerin, Trickfilmerin. 2014 gestaltete sie das Ethel Smyth Symposium für die Hochschule Luzern mit.
Der Text ist eine stark gekürzte Zusammenfassung aus Birgit Kiupel u.a: Ethel Smyth: Lebenslange Leidenschaften, in: Joey Horsley / Luise F. Pusch (Hg): Frauengeschichten. Berühmte Frauen und ihre Freundinnen, Göttingen 2010.

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