Der Stadtrat hat sich endgültig für den Abriss entschieden. Betroffen sind die beiden Siedlungen «Golden Paradise» und «Adventure», die in den zwanziger Jahren auf dem Areal der ehemaligen Franz AG und der KIBAG im Zuge einer Aufwertung der Stadt Zürich entstanden sind. Der Abriss soll schon im kommenden Jahr 2042 erfolgen.

Auf dem grossflächigen Areal soll in Kooperation mit der Zirkus Knie Stiftung Europas grösstes Aquarium entstehen. Der Widerstand der Anwohner*innen hat sich erstaunlich spät artikuliert, nun aber Formen angenommen, mit denen wohl niemand gerechnet hat. Seit drei Tagen befinden sich einundzwanzig Personen, darunter vier Juristinnen und zwei Juristen, auf dem Dach des fünfstöckigen Gebäudes Haab 2a.
Laut eigenen Angaben lebten sie zwischen fünf und fünfzehn Jahren in den betroffenen Gebäuden. Sie hätten, anders als es der Stadtrat darstelle, mehrere stichhaltige Einwendungen sehr wohl innerhalb der Frist eingereicht. Sollte es tatsächlich zum Abriss kommen, drohen sie, sich vom Dach zu stürzen. Ihre Einwendungen werden in den nächsten Tagen von einem juristischen Sondergremium in letzter Instanz geprüft.

Doch ist der Abbruch überhaupt noch abzuwenden? Die Fabrikzeitung hat vom Stadtrat Akteneinsicht verlangt, die mit Hinweis auf das laufende Verfahren verweigert wurde. Hingegen wurde uns Zugang zu den wegen Formfehlern und unsachlichen Argumenten nicht berücksichtigten Einwendungen gegeben. Um die komplexe Situation zu beleuchten und auch andere Stimmen aus den Siedlungen zu Wort kommen zu lassen, haben wir entschieden, die wichtigsten Argumente hier abzudrucken.

Auflistung der nicht berücksichtigen Einwendungen.

Ein Einwender legt dar, es sei aus emotionalen Gründen rechtlich nicht möglich, das Areal abzureissen, denn er habe sich in den letzten fünf Jahren an seine Wohnung gewöhnt.

Eine Einwenderin gibt die hohen Lärmimmissionen infolge des geplanten Abrisses zu bedenken. Die hohen Frequenzen würden den Betrieb der Roten Fabrik erheblich belasten und unter Umständen zu Schäden des Gehörs der Besucherinnen führen.

Eine Einwenderin erwähnt, dass die Überbauung vom Seeuferweg und vom See her doch als stark durchgrünt in Erscheinung trete. Seltene Vögel hätten dort in den Büschen gezwitschert. Der Abriss würde eine Umweltkatastrophe bedeuten.

Eine andere Einwenderin führt aus, wie die Vermehrung der Fische innerhalb weniger Wochen in unerwünschtem Mass explodieren würde, wenn sonntags nicht mehr gefischt würde, wie es die Anwohnenden der Siedlung bis anhin in artisanalen Gruppen getan hätten. Dies gefährde auch die Mücken, von denen es schon heute nicht mehr viele gäbe.

Ein Einwender prognostiziert einen gefährlichen Einnahmeeinbruch infolge mangelnden Chai Latte Konsums im Restaurant Ziegel oh Lac. Der Konkurs des Restaurants werde damit besiegelt. Eine Einwenderin beanstandet, ihr habe der Schattenwurf ihres Wohnblocks auf die vor ihr liegende Grünfläche immer viel bedeutet.

Eine Einwenderin erinnert sich an einen leidenschaftlichen Kuss in der Aktionshalle morgens um drei. Danach seien sie wie im Flug bei ihr im nahen dritten Stock der Überbauung gelandet. Sie standen auf der Terrasse und blickten auf den weiten, schwarzen See. Dazu tranken sie Gin Tonic mit einem Zweiglein Rosmarin darin. Die geheimnisvolle, muskulöse Geliebte trug ein Lippenpiercing. Daran erinnere sich die Einwenderin noch haargenau. Aber als sie aufwachte, war die Begegnung verschwunden. Zufälligerweise habe ab jenem Zeitpunkt ihr kugelförmiges Filter-Tablet gefehlt. Dennoch habe sie die Frau bis jetzt nicht vergessen können. Sie sei danach noch oft zu allen möglichen Partys in der Roten Fabrik gegangen, habe sie aber nicht wiedergesehen.

Eine andere Einwenderin möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, ihr sei zu Ohren gekommen, dass sich auf dem Grundstück in Küsnacht, wo früher Tina Turner gewohnt habe, fünf achtstöckige Gebäude mit Luxuswohnungen in Bau befänden. Sie hege den Verdacht, Luxuswohnungen jeder Art würden mit Gewalt aus der Stadt in die Agglomeration gedrängt.

Ein Einwender möchte vor der Diskussion über einen Abriss eher die noch bestehenden Mängel behoben wissen. Von den Architektinnen will er erfahren, wie sie sich das mit dem Hebel gedacht haben. Mit gemischten Gefühlen denke er an diesen Hebel, der zum Hochklappen der kleinen Brücke über dem schmalen Kanal (auch Haabe genannt, die Siedlung und See verbindet) diene. Er habe nie funktioniert. Wenn er auf seinem Stand-Up-Paddel-Board morgens auf den See hinausrudern möchte, um die Sonne zu begrüssen, bleibe analog und auch mit Fernbedienung die Brücke jedes Mal unten. Er müsse vom Paddel auf die Brücke springen, das Paddel unter der Brücke hindurchgleiten lassen, um von der anderen Seite her wieder auf dieses hochzuspringen. Das gelinge ihm selten.

Eine Einwenderin aus einer ebenerdigen Maisonette-Wohnung erinnert sich an dieser Stelle an das Hochwasser von 2039. Eine braun gefärbte Flüssigkeit sei langsam aus dem Rasen emporgestiegen. Sie habe den teuren Parkett-Fussboden überflutet, auf dem übrigens auch die Beine ihres Flügels standen. Nach einigen Stunden habe das Wasser die Tasten erreicht und schliesslich, nachdem es noch weiter gestiegen war, auch das eingerahmte Foto ihrer in New York lebenden Enkelin Emily, das dort auf dem Flügel, seit dem Tag ihres Einzugs, stand. Sie gestehe, dass dieses Foto dafür verantwortlich war, dass sie überhaupt einen Flügel besass, denn immer habe sie sich einen Flügel gewünscht, um wichtige Fotos besonders schön zur Geltung zu bringen, was aber jetzt nichts zur Sache tue und auch niemanden etwas angehe. Jedenfalls sei auf einmal, obwohl es keinen Anlass dazu gegeben habe, das gerahmte Foto mit Emily ins schlammige Wasser gekippt. Sie glaube an Zeichen, an gute und an schlechte, und darum habe sie sofort ihre Enkelin angerufen. Tatsächlich sei diese eine Minute davor von ihrem sonst zahmen Papagei heftig in den Arm gebissen worden.

Einer Einwenderin liegt daran, besser zu informieren: Auf dem Gelände, wo ehemals Tina Turner residierte, würden keine Luxuswohnungen, sondern Sozialbauten entstehen.

Ein Einwender führt aus, dass er – obwohl es am Anfang wegen seines hellblauen Lieblings-Polo-Shirts nicht immer nur einfach gewesen sei – vieles zurücklassen müsste. Am traurigsten sei er über die Freundschaften, die er in der Roten Fabrik, besonders im Druckatelier geschlossen habe. Nun heisse es Abschied nehmen. Für immer.

Ein Einwender, der Arbeitserfahrung in einer Briefkastenfirma in Zug gesammelt hat, erwähnt, wenigstens hätte das Ziegel oh Lac vor seinem Wegzug noch von ihm lernen können, anständige Preise zu verlangen. Dreizehn Franken für Spaghetti Napoli, das sei doch Schnee von gestern.

Einem Einwender fehlen schlicht die Worte.

Eine Einwenderin wünscht zu erwähnen, sie habe es jetzt schon drei Mal gesagt.

Einem Einwender träumte es in einem Albtraum, der 1894 verstorbene Städtebauer Arnold Bürkli weihe das Aquarium höchstpersönlich und mit Tränen der Rührung in den Augen ein.

Mehrere Einwender verstehen nicht, warum man sie nicht gefragt hat, bevor sie geboren wurden, ob sie unter diesen Umständen überhaupt leben wollten.

Eine Einwenderin führt aus, das Beleuchtungskonzept habe doch auf der vollkommenen Lektüre der Seeanlage basiert. Auf dem rechten Ufer seien die verbindenden Layers der Gesamtanlage – Vegetation, Ufermauern – unterstrichen worden, auf dem linken Ufer habe ein dynamisches Spiel, ein Jeu de lumière, die unterschiedlichen Kompartimente ausgeleuchtet. Sie bestehe darauf, dass der Plan gut war.
Eine Einwenderin beanstandet, dass rechtlich gesehen wenigstens die Tiefgaragen rückwirkend wieder installiert werden müssten.

Eine Gruppe von Einwendern gibt zu Protokoll, es mache sie depressiv, dass es auf der Welt anscheinend keinen Platz mehr gebe für die perfekte Mischung aus Alternativ- und Designerkultur.

Und das ist erst der Anfang, prophezeit ein Einwender, der in seinem Leben schon anderes hat kommen sehen.
Zwei Einwenderinnen erinnern sich an die Stimmung auf dem See an einem frühen Morgen. Das andere Ufer verschwand im Nebel. Schemenhaft ein einzelnes Boot. Die Farben in Blau und Gold waren zart, so zart, dass sie zusammen einen Schleier webten, den sie am liebsten über sich und ihre nackten Körper gezogen hätten. Sie hatten das Gefühl, dann unsichtbar zu sein. Langsam, langsam wurden die Farben bestimmter und klarer. Der Geruch von Rührei, Avocado-Toast und frisch gebrühtem Kaffee habe bald den Raum erfüllt. Da sei es passiert: Sie waren wirklich unsichtbar.

Ein Einwenderin verlangt als handfesten Beweis, dass eine ernsthafte Interessenabwägung wirklich stattgefunden habe, einen ausgezogenen Zahn.

Mehrere Einwender bekunden, sich schuldig zu fühlen, ohne zu wissen, warum.

Ein Einwender bekundet, er könne es noch gar nicht fassen, weil er diese Mischung von Klimaanlage, Müllschlucker, Sauna, Schwimmbecken, Terrasse und Blick auf die Alpen nie, nie wieder finden werde. In keiner anderen Wohnung auf der ganzen Welt. Er fühle sich fremd auf dem Planeten. Er wünsche doch eigentlich nur, dass alle Menschen auf Erden glücklich werden mögen…oder glücklich wären…oder glücklich werden würden oder glücklich möchten werden…Er sei im Moment etwas verwirrt.

Einer Einwenderin führt aus, ihr Einwand sei ihr jetzt, da sie endlich an der Reihe sei, entfallen.

Eine Einwenderin verlangt, dass Frauen mehr zu Wort kommen. Die Männer hätten viel mehr Einwände, damit müsse jetzt Schluss sein.

Eine Einwenderin freut sich, dass wenigstens der Echoraum bestehen bleibe.

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Die Lage bleibt angespannt. Ob die Menschen auf dem Dach des Gebäudes Haab 2a ihre Drohung wahr machen werden, ist im Moment nicht auszuschliessen. Fest steht: Die Polizei wird «dem Gugus auf dem Dach» nicht mehr lange tatenlos zusehen. Eine Eskalierung der Lage ist wahrscheinlich. Ob der Stadtrat willens ist, dies zu verhindern, bleibt abzuwarten. Sicher ist: Der Interessenkonflikt zwischen den Bewohner*innen der Luxuswohnungen, der Zirkus Knie Stiftung und der Stadt Zürich stört das geruhsame Leben in der Roten Fabrik. Wir werden weiterkämpfen: Für ein linkes Seeufer für alle.

Judith Keller wohnt in Zürich. Sie ist freie Autorin und Sprachlehrerin. Bisher sind von ihr die Bücher «Die Fragwürdigen» (2017) und «Oder?» (2021) beim Verlag der Gesunde Menschenversand erschienen.

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