Früher hätte mich wohl niemand gefragt, über die Schönheit, die mit Dunkelheit einhergeht, zu schreiben. Lange Zeit schrieb ich hauptsächlich über exotische Destinationen, Abenteuer, Inspirationen und idealistische Ideen, um die Welt zu verändern. Ich gab mir Mühe, positiv und glücklich zu sein. In einer Welt voller Strand-Selfies, trink-dich-glücklich Saftkuren und YouTube-Gurus, die einem erzählen, dass Glücklichsein bloss das Resultat persönlicher Einstellung sei, ist es schwierig dazu zu stehen, dass der eigene Kopf auch Bilder eines anderen Spektrums produziert. Natürlich kann argumentiert werden, dass viel Glück und Zufriedenheit von der persönlichen Einstellung und vom Denken beeinflusst und gesteuert wird. Doch das Leben spielt nach seinen eigenen Regeln und äussere Einflüsse können auch durch noch so positives Denken nicht verändert werden. Schlimmer noch, diese neue, weitverbreitete Ansicht, dass man immer glücklich sein kann, wenn man nur hart genug dafür arbeitet, führt dazu, dass von Schicksalsschlägen getroffenen Menschen das Gefühl vermittelt wird, sie seien an ihrem Leid selber schuld. Denn würden sie positiver denken, wäre alles nicht so schlimm. Das Stigma, das der Depression anhängt ist nur ein einzelnes Indiz für diese Tendenz. Als Totschlagargument kommt immer: Jemand anderem geht es irgendwo immer schlechter. Es ist absurd jemandem zu sagen, er darf nicht traurig sein, weil woanders jemand trauriger ist, ist es doch das gleiche, wie jemandem zu sagen, er darf nicht glücklich sein, es gäbe schliesslich glücklichere Menschen auf der Welt.
Gleich dunkler Gestalten in der Nacht werden Gefühle wie Schwermut, Traurigkeit und Weltschmerz gemieden. Doch dabei vergessen wir etwas Wichtiges: diese Gestalten sind Menschen und diese Gefühle sind menschlich. Behauptet jemand, er sei immer positiv eingestellt und habe immer nur Spass, macht mich das argwöhnisch. Es scheint fast so, als würde er das Leben in seiner gewaltigen und vielfältigen Gesamtheit vermeiden, indem er sich seiner dunklen Seite verwehrte.

In den letzten zehn Jahren wurde meine enge Familie von mehreren schweren Schicksalsschlägen getroffen, bei denen auch ich selbst nur knapp mit dem Leben davon kam. Damit umzugehen ist schwierig genug. Doch eine unerwartete Schwierigkeit zeigte sich darin, den Leuten zu erklären warum ich seither nicht ununterbrochen freudig durchs Leben hüpfe, voller Dankbarkeit – «aber du hattest doch so viel Glück!» Was Nichtbetroffene meist nicht verstehen, ist, dass das Leben nicht einfach weitergeht wie vorher. Die Fäden eines alten Lebens wieder aufzunehmen ist schier unmöglich. Als mir dann noch die «denk positiv!»-Mentalität um die Ohren geschlagen wurde, fühlte ich mich oft hilflos und allein. Natürlich hatten wir viel Glück. Aber war es denn nicht irgendwie auch viel Pech? Ist es nicht mehr erlaubt, um eine Zukunft zu trauern, die man so nicht mehr erleben darf? Oder traurig zu sein darüber, dass der eigene Körper nicht mehr funktioniert wie vorher, und dass das nie mehr wird? Es war in dieser Zeit, als ich in Dunkelheit versank. Aber es war auch zu dieser Zeit, als ich die Dunkelheit in den Geschichten anderer erkannte.
Erst da verstand ich wirklich, dass sich in der Dunkelheit auch Schönheit findet. Es ist eine andere Art von Schönheit, aber sie ist da, wenn man es nur zulässt. In Traurigkeit kann man Hoffnung und Stärke finden, in Schwermut und Melancholie neue Gedankengänge und Möglichkeiten, sogar Ruhe und Erlösung. Einsamkeit beschrieb Hermann Hesse als «wunderbar still und gross, wie der kalte stille Raum in dem die Sterne sich drehen.» Als ich mir der seltsamen Schönheit der Dunkelheit, in der ich mich befand, bewusst wurde, begann ich, mich mit den Geschichten anderer zu befassen. Als Experiment veröffentlichte ich meine Geschichte, inklusive Unfall, Krankheit, Suizidgedanken, Ängste und Hoffnungen online. Doch ich stellte sie nicht nur auf mein persönliches Facebook-Profil sondern auch auf Twitter, meinen Blog und mein Online-Dating Profil – mit dem Wunsch nach Tiefe, Echtheit und Geschichten. Ich wurde belohnt: Aus der ganzen Welt begannen Menschen, mir von sich zu erzählen. Was mich am meisten berührte, war nicht, wie diese Menschen ihre Dunkelheit besiegten. Sondern, dass sie erkannten, was die Nacht alles an Schönem, Wichtigem und Neuem bereithält. Wenn Schönheit darin liegt, dass uns etwas berührt, dann gibt es auch Schönheit in Zerstörung. Nicht umsonst sind einige der grössten Werke der Menschheit Dramen.

Um nochmals auf Hesse zurück zu greifen: «Wer geboren werden will, muss eine ganze Welt zerstören.» Hesse zeigt damit den Vorgang der Selbstfindung oder des Erwachsenwerdens auf, der oft schmerzhaft ist und Not und Alleinsein fordert. Mit seiner eigenen Innenwelt und deren Schattierungen zwischen hell und dunkel muss jeder alleine zurechtkommen. Diese Erfahrung musste ich selbst und auch alle diejenigen machen, die mir ihre Geschichte erzählt haben. Ein Trauma zu bewältigen oder das Leben voll zu leben bedeutet nicht, die Dunkelheit fernzuhalten und immer gut gelaunt zu sein. Positiv denken sollte nicht heissen, negative Gedanken oder Dinge aus dem Leben zu verbannen und sich ihrer zu verwehren. Stattdessen sollten diese anerkannt und erforscht werden.
Das würde auch zu einer grösseren Akzeptanz dieser «Gestalten in der Nacht» führen. Vielleicht könnten wir so erkennen, dass viele Menschen keine oder nur wenig Kontrolle darüber haben, was ihnen zustösst, und dass jeder mit Traumata und Erlebnissen anders umgeht. Aber auch, dass in jeder tragischen Gestalt oder Geschichte viel Mut und Hoffnung steckt. Vielleicht ist die Frau, die im Tram laut mit sich selbst redet, nicht einfach nur verrückt und nervig, sondern es ist ihr etwas so Schlimmes zugestossen, dass ihr letzter Zufluchtsort die eigene Realität in ihrem Kopf ist. Wahrscheinlich hat sie vorher lange dafür gekämpft, in der Gesellschaft akzeptiert zu sein. Der Mann, der tagsüber zusammengesunken an der Strasse sitzt und nachts allein umherläuft, macht uns allenfalls etwas Angst. Aber für ihn ist die Dunkelheit der Nacht vielleicht ein Ort der Sicherheit und Geborgenheit. Auch für mich war Schlaf und das nächtliche Dunkel ein Zufluchtsort, ein paralleles Universum, in dem ich mich sicher fühlte, bevor ich begann, meine Geschichte zu erzählen und die anderer zu erforschen. Leider hat aber nicht jeder das Glück, dass einem jemand zuhört, nicht jedem werden Möglichkeit und Ressourcen gegeben, sich nach dem eigenen Zerfall wieder aufzubauen.

Dies könnte sich ändern. Internetseiten wie «The Stranger’s Project» oder «Humans of New York» erfreuen sich immer grösserer Beliebtheit, und dies bestimmt nicht, weil die Geschichten, die darauf geteilt werden, immer besonders erfreulich sind. Sondern weil sie uns genau das vor Augen führen, was so lange unter Erfolgs- und Geltungsdruck verloren ging: Verschiedene Menschen haben verschiedene Geschichten. Könnten wir diese Empathie, die wir den anonymen Menschen im Internet oft entgegenbringen auch den Menschen in unserem realen Umfeld bekunden, so gäben wir ihnen ein wichtiges Werkzeug zur Selbsthilfe: Akzeptanz. Denn wir alle kennen doch Weltschmerz: das Gefühl, dass die Welt enttäuscht, dass zu viele schlechte Dinge geschehen. Statt also das nächste Mal, wenn wir traurig oder melancholisch sind, diese Gedanken beiseite zu wischen, sollten wir uns lieber diesen Gefühlen hingeben, sie erkunden und wissen, dass wir damit nicht alleine sind. Vielleicht braucht das die Welt, um wieder etwas menschlicher zu werden. Es ist nicht immer alles im Leben wunderschön. Manchmal ist es halt dunkelschön.

Am 27. Februar findet im Clubraum das interdisziplinäre Performancefestival Dunkelschön statt. Das Schöne im Dunkeln zu erkennen, darum soll es gehen. Angelina Dobler hat sich mit diesem Thema lange auseinandergesetzt; sie kritisiert den Trend des Glücklichseins als Lifestyleprodukt und fordert zum Zulassen und Erkunden tieferer Gedanken und Gefühle auf.

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