Heute brachte mein Sohn ein Formular aus der Schule mit und sagte, ich müsse es ausfüllen.

Es waren zwei Felder darauf. Eines für die Unterschrift, das zweite für meinen Vor- und Nachnamen.

«Ich, (Name), (Vorname), untersuchte mein Kind und fand an seinem/ihrem Körper keine Auffälligkeiten»

Ich fragte meinen Sohn, was ich sehen müsste.

Er zuckte mit den Achseln.

Dann brachten auch die jüngsten Töchter so ein Formular aus der Schule mit. Sie sagten, dass die Lehrer Angst vor irgendeiner Epidemie hätten und die Geschichtslehrerin überhaupt nicht zur Schule gekommen sei, weil sie sich krankgemeldet hätte.

Mein Sohn meinte, dass er hofft, sie werde bis zum Ende des Jahres nicht gesund und überhaupt denkt er, dass sie schwanger sei und wahrscheinlich schon im Mutterschaftsurlaub. Bei dieser Lehrerin ist sowieso immer irgendetwas los. Ursprünglich kam sie mit ihrer Mutter aus irgendeiner Stadt in der Kriegszone. Besser gesagt, sie kam zuerst und dann ihre Mutter, weil die Mutter ihre Wohnung nicht aufgeben wollte.

Wie das halt so ist.

Sie beschloss erst zu gehen, als in der Nachbarschaft schon alles zerbombt war und es sich herausstellte, dass sie im Wohnblock allein zurückgeblieben ist. Dann zeigte sich aber, dass es zum Wegfahren schon zu spät ist, weil die Freiwilligen, die die Leute aus der Zone herausgeholt haben, jetzt Geld dafür verlangen. Um die Mutter herauszuholen, musste man also bezahlen. Kurzum, diese Lehrerin hat in der Schule eine Spendensammlung angekündigt. Es wurde ein Markt veranstaltet, alle haben Geld gegeben, und dann wurde die Mutter mit ihren zwei Hunden, den Katzen und ihrer Lieblings-Shisha hergefahren. Und darüber spricht sie jetzt ständig mit den Kindern. Anstelle des Geschichtsunterrichts. Die Töchter erzählten, dass sie in einer Klassenstunde Veteranen eingeladen hatte, die vom Krieg sprachen. Und dann kommt diese Mutter und labert davon, was sie dort für eine Wohnung hatte, was für ein Auto, was für ein…

Und dann setzte sie noch einen obendrauf, dass es so ein Fach wie Geschichte gar nicht mehr gäbe.

Die Geschichte werde alle fünf Jahre sowieso neu geschrieben und alles, was sie hier mache, sei Augenwischerei. Sie möchte wieder zurück, ihre italienischen Windhunde züchten. Kurzum: mir scheint, die Schule beschäftigt sie nur noch aus Mitleid.

Es war also keine Überraschung, dass sie krank wurde.

Ich bat meine Töchter, sich auszuziehen.

Ich fragte sie, wonach ich suchen solle?

Vielleicht nach Läusen?

Ich habe gelesen, dass sich Läuse ausbreiten, wenn ein Krieg lange dauert.

Einfach durch den Stress.

Dass sie eigentlich unter dem haarigen Teil des Kopfes leben, und wenn ein Mensch sehr gestresst ist, wird die Haut dort immer dünner. Die Läuse finden ein Schlupfloch – und schon sind sie draussen. Und sobald man ein Gegenmittel auf den Kopf aufträgt, verstecken sie sich wieder. Um nicht zu verrecken.

Ah, und die Bettwanzen, die sind auch ein Zeichen des Krieges.

Aber Gott sei Dank haben wir keine Bettwanzen. Die gab es bei uns nie.

Weder als wir dort wegmussten noch in einem der vielen Züge, nie haben wir Bettwanzen

gesehen. Und Läuse hatte ich nur einmal, als Kind.

Damals haben alle Kinder, die im Pionierlager waren, Läuse gekriegt.

Die Kinder wurden ja aus ihrem Zuhause herausgerissen, und dadurch waren sie alle sehr

gestresst.

Es scheint ein russisches Vergnügen zu sein, diese Bettwanzen. Seit ich hier lebe, habe ich keine einzige Bettwanze gesehen. Aber als ich einmal nach Moskau musste, hat man mich in einem Hotel untergebracht. Dort habe ich die Matratze umgedreht und diese Bettwanzen gesehen. Ich habe meine Tasche gepackt und bin schnell zu einer Freundin, sollen sie doch selbst in diesem stinkigen Hotel wohnen. Meine Tasche haben wir dann noch mit kochendem Wasser übergossen. Gegen die Bettwanzen.

Auf jeden Fall

Habe ich halt nach Läusen bei ihnen gesucht.

Die Haare waren sauber.

Ich sah mir ihre Haut an – sie war ganz hügelig, meine Mädchen froren.

Plötzlich taten sie mir wahnsinnig leid, und ich sagte ihnen, sie sollten sich schnell wieder anziehen. Auf die Zettel habe ich geschrieben, dass meine Kinder untersucht wurden und alles in Ordnung sei.

Ich schrieb das auch auf das Formular meines Sohnes.

Dann öffnete ich Facebook, um herauszufinden, was das für eine neue Epidemie sein soll.

Auf Facebook war es ruhig. Newsfeed wie gehabt, jeden Tag das gleiche: wieder wird über Gelder für die Umsiedler gesprochen, wieder sammeln Freiwillige Geld für taktische Militärhandschuhe, da wird ein Stück über den Krieg gezeigt, dort das Festival «Оrientexpress» im befreiten Gebiet organisiert. Und dieser Regisseur postet über Transgender. Kurzum, kein Wort über eine Epidemie. Es gab eine lustige Meldung über eine Stadt auf der anderen Seite, wo der Bürgermeister (natürlich ein Fake) die neuesten Ereignisse mit einem italienischen Investor diskutiert. Dann die Enthüllung: Der Investor ist auch fake, kam als Söldner noch zu Kriegsbeginn her und gibt sich jetzt als Investor aus. Das ist doch lustig, wer will schon dorthin investieren, wo Krieg herrscht?

Ich mochte das Foto dieses Pseudo-Investors, es war irgendwie seltsam. Er sass da, in Unterhosen mit einem Sturmgewehr, und seine Haut war voller Tattoos. Wie aus einem Porno, dachte ich. Ich sehe mir ja selten Pornofilme an, aber solche Machos gibt es da zuhauf.

Auf jeden Fall hatte Facebook nichts über die Epidemie zu melden. Ich fotografierte diese Zettel meiner Kinder ab und lud sie auf Facebook hoch. Vielleicht weiss ja irgendjemand irgendetwas.

Abends nahm ich ein Bad. Ich habe einen grossen Spiegel im Badezimmer, und für gewöhnlich sehe ich mir beim Ausziehen zu und bewundere mich. Ich sehe mich so selten nackt, wenn ich ehrlich bin. Im Spiegel war ich sehr schön. Klar, nicht so wie mit 16, aber trotzdem. Die Brust ist natürlich nicht mehr dieselbe, die Nippel stehen nicht mehr so wie früher, der Bauch ist auch nicht flach, aber die Hüften haben ihren steilen Übergang zur Taille beibehalten.

Auf meiner Hüfte habe ich einen gelben Bluterguss entdeckt. Ich habe ihn gerieben und mir gedacht, dass ich mich bestimmt an einer Tischkante gestossen habe.

Ich ging auf YouTube und fing an, Asanas zu machen, wie sie von zwei australischen Frauen vorgezeigt wurden. Dann ging ich den Laden, und kaufte Handcreme, Fleisch, Brot, Milch und Weisskohl. Die Kartoffeln beschloss ich meinen Sohn holen zu lassen, wenn er aus der Schule kommt. Der Bluterguss am Oberschenkel tat seltsam weh. In der Apotheke kaufte ich eine Salbe gegen Prellungen, zuhause zog ich mich aus und begann den Fleck einzucremen. Daneben breitete sich noch einer aus, ein grünlicher. Daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern, wo habe ich mich denn schon wieder gestossen? Vielleicht frühmorgens, als ich noch schläfrig war?

Die Kinder kamen gemeinsam aus der Schule und meldeten, dass die letzten Stunden ausfallen, weil die Schule anlässlich der Epidemie in Quarantäne ist.

Was für eine Epidemie es ist, wussten sie auch nicht. Mein Sohn meinte, es müsse etwas sehr Ansteckendes sein, weshalb er plane, das Haus nicht zu verlassen und die ganze Epidemie lang im Internet zu surfen. Die Mädchen gingen in die Küche, um zu kochen.

Plötzlich rief mich eine Nachbarin an, eine vom Haus. Von dem Haus, das in der Zone steht. Sie sagte mir, mein Ex laufe herum und beschwere sich bei allen, was für eine Schlampe ich sei, dass ich die Kinder angelogen, sie heimlich mitgenommen habe, er wäre mit dem Sohn schon lange zur Miliz gegangen. Jetzt sei er allein und krank und die Miliz nimmt ihn nicht, weil er zu alt sei.

Nun, diese Leier singt er schon seit drei Jahren, das ist nichts Neues. Die Nachbarin aus dem vergangenen Leben sagte, dass es ihnen gut ginge. Geschossen wird weit weg, und nicht auf sie, sondern von ihnen weg, also sie meint in unsere Richtung. Sie kriegen humanitäre Hilfe und können einigermassen leben. Das Mobilfunknetz funktioniert, die Renten werden gezahlt und sie bat mich, ihre ukrainische Rente vom Konto abzuheben mit der Karte, die sie mir damals mitgegeben hatte und sie ihrer Schwester weiterzugeben. Ich bat sie, meinem Mann meine Telefonnummer nicht weiterzugeben und nicht zu sagen, wo ich bin.

Allerdings weiss man dort gar nicht, wo ich bin, da ich selbst nicht wusste, wo wir leben werden, als wir abreisten. Ich hatte kaum etwas dabei: unsere Papiere, etwas Erspartes aus den letzten Jahren, ein paar Kleider für die Kinder und ein Laptop. Übrigens wollte der Sohn damals nicht mit uns flüchten, er hatte seinem Papa geglaubt, dass die Ukraine die Bösen sind und man sich an Russland halten muss, da dort die Löhne besser sind. Damals konnten wir kaum Ukrainisch, das haben wir dann hier gelernt. Die Schule ist ja auf Ukrainisch. Ich fragte die Nachbarin, ob es bei ihnen eine Epidemie gäbe. Sie antwortete, dass ihnen der Kopf nicht nach Epidemie stehe, in den Apotheken gäbe es sowieso kaum etwas zu kaufen, deswegen seien alle gesund.

Ich beschloss, fernzusehen. Es gab die üblichen Serien, Talkshows, wie man Gewicht verliert, wie man Essen zubereitet. In den Nachrichten kam, wie viele Ukrainer heute im Krieg getötet und wie viele verwundet wurden, etwas über Proteste in Russland, etwas über irgendein Flugzeug, über neue Gesetze gegen Abtreibung, dass der Gaspreis steigt und uns wieder Visafreiheit versprochen wird. Kurz, alles war ruhig und wie immer. Dann sagten sie zum Schluss, dass die ukrainischen Schulen wegen Quarantäne geschlossen sind, erwähnten aber nicht warum. Ich beschloss, dass es wieder irgendein Grippevirus sein muss. Meine Facebook-Freunde wussten auch nicht mehr, sie regten sich über dieses Formular auf, ein Bekannter schrieb, seine Kinder seien ebenfalls zuhause.

Der blaue Fleck an der Hüfte tat weh, unterdessen hat sich noch einer dazugesellt in einer komischen braunen Farbe.

Ich fotografierte mein Bein mit dem Smartphone ab und gab bei Google «Bildersuche» ein. Es kamen nur Panzer, Soldaten in Uniform und so ähnliches. Am nächsten Morgen tat mein Bein noch stärker weh und ich ging zum nächsten Krankenhaus.

Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte, an einen Dermatologen, Chirurgen oder Hämatologen, deshalb meldete ich mich bei der Allgemeinmedizin an.

Es sassen ziemlich viele Leute im Wartezimmer, deswegen fing ich an, auf Facebook im Feed zu scrollen und rieb mechanisch an meinem Bein.

Mein Post auf Facebook über den Zettel aus der Schule hatte einen neuen Kommentar, nämlich dass es ein Virus sei, der HFC genannt wird. Ich verstand nicht, was das heissen soll. Übrigens bin ich der Meinung, dass diese Viren jedes Jahr absichtlich produziert werden, um mehr Medikamente und Impfungen verkaufen zu können.

Die Ärztin untersuchte mich, hörte meine Lunge ab, schaute in meinen Hals, mass den Blutdruck. Die Flecken auf dem Bein untersuchte sie mit Handschuhen. Dann setzte sie sich vor mich hin und sagte: «Sie haben HFC». Ich fragte «Was für ein HFC? Ich huste nicht einmal. Ich habe Flecken am Bein, wahrscheinlich ist etwas mit meinem Blut.» Aber die Ärztin begann, lange und viel in meiner Akte zu schreiben, dann schaute sie auf und sagte, dass HFC «Hautfarbe Camouflage» bedeute. Da ich wegen des Krieges im Dauerstress bin, hat meine Haut angefangen, Tarnfarben anzunehmen. Es habe eine Epidemie begonnen und es sei sehr ansteckend, deswegen empfiehlt sie mir, mich ins Krankenhaus einzuweisen.

Ich verstand nichts. Ich sass da und sah sie an, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf. Was für eine Tarnfarbe? Welcher Krieg? Vor dem Krieg sind wir vor drei Jahren geflohen und seitdem gibt es bei uns keinen Krieg mehr. Der Krieg ist dort, und auch nicht überall. Wovon soll ich denn gestresst sein?

Ich habe unterschrieben, dass ich die stationäre Einweisung verweigere. Was soll ich denn im Krankenhaus, wer kümmert sich dann um meine Kinder? Ausserdem dachte ich, wegen drei Flecken auf dem Bein im Krankenhaus zu liegen wäre unsinnig. Überhaupt ist das alles Unsinn, was sie mir hier sagt. Wie kann denn Krieg zu einem Virus werden, der durch die Haut durchbricht und weh tut? Der Krieg ist dort, im Osten, es ist ein Geschäft, es ist natürlich Tod, Schweiss und Blut, aber ich bin mit den Kindern hier in Sicherheit.

Zu Hause habe ich mir den Newsfeed auf Facebook angesehen, eine Facebook-Freundin schrieb, dass vor einem Jahr Sergej Burlaka an der Front getötet wurde und sich heute sein Todestag jährt. Ich glaube, ich kannte ihn, er ging mit mir zur Schule. Ich war sogar ein wenig verliebt in ihn, er war sehr gutaussehend. Dann, einige Jahre später haben wir auf Facebook miteinander geschrieben und es stellte sich heraus, dass er zwei Kinder hat und ein gutes Leben führt. Ich wollte nicht, dass er das ist, also habe ich schnell weitergescrollt. Das Bein begann noch mehr weh zu tun. Ein weiterer Fleck erschien, der sandfarben war.

Ich googelte: «Wie behandelt man Hautfarbe Camouflage?» Die Suche ergab nicht viele Ergebnisse, aber es stellte sich heraus, dass es sich wirklich um eine Epidemie handelt, und alles, was das Gesundheitsministerium aktuell empfiehlt, ist Ruhe, Erholung und Krankschreibung.

Nun, vom Ausruhen können wir nur träumen, dachte ich. Während die Kinder in Quarantäne sind, müssen wir einen Frühjahrsputz machen, der jüngeren neue Schuhe kaufen gehen und beim älteren einen Zahn versiegeln lassen.

Auf Facebook schrieb ich einen neuen Post darüber, dass ich herausgefunden habe, dass es sich um eine HFC-Epidemie handelt, aber beschloss nicht zu schreiben, dass ich diese Diagnose erhalten habe. Für alle Fälle.

Eine Woche später sprachen alle von HFC. Facebook kochte geradewegs über, im Fernsehen gaben Stars Interviews in Talkshows, die Politiker*innen versprachen wie immer alles in ihrer Macht Stehende zu tun und die Wissenschaftler*innen entwickelten bereits den Impfstoff. Jeden Tag untersuchte ich die Kinder auf Flecken, sogar den Ältesten. Die Kinder waren gesund. Mir ging es jedoch immer schlechter, der Fleck wuchs und erreichte bereits mein Knie, es sah aus wie ein Hosenbein mit Camouflage-Muster und tat weh. Ich cremte das Bein mit einer Salbe gegen Prellungen ein, aber es half nicht.

Ich dachte ständig darüber nach, warum ich krank wurde, vielleicht weil ich im Militärdienst war? Aber ich habe in Friedenszeiten gedient, an der Grenze. Und überhaupt trainierte ich hauptsächlich Hunde. Als der Krieg ausbrach bin ich geflohen, mitgekriegt habe ich ihn kaum. Wir wurden nicht einmal bombardiert, das Nachbardorf schon, aber wir nicht.

Wie behandelt man Hautfarbe Camouflage? Ratschläge strömten von allen Seiten auf mich zu. Man empfahl mir blutreinigende Kräuteraufgüsse zu trinken, Entspannungsbäder zu nehmen, zur Massage zu gehen, klassische Musik zu hören, zu meditieren, in ein anderes Land ohne Krieg zu fahren, die Flecken mit Salben einzucremen, schöne Landschaften zu geniessen, mehr Komödien zu schauen und Vitamin C einzunehmen.

Eine Woche später begann online der Flashmob #WOMITHEILTMANKRIEG. Menschen luden Bilder von ihren Flecken hoch und es stellte sich heraus, dass fast alle meiner Bekannten an dieser HFC erkrankt sind. Ich machte auch ein Foto von meinem Bein, die Flecken hatten schon meinen Knöchel erreicht und taten ständig weh. Nachts nahm ich Ibuprofen ein, der Schmerz wurde gestillt und ich schlief ein.

Den Kindern tat ich sehr leid, meine Tochter fragte, ob ich sterbe. Aber ich wusste die Antwort nicht, niemand auf der ganzen Welt wusste die Antwort auf die Frage, wie diese Epidemie enden wird.

An diesem Abend sahen wir gemeinsam die Nachrichten an, in denen alles wie früher ruhig war. Im Ersten sprachen sie über die Kämpfe, über einen Flüchtling, der in Kiew ein erfolgreiches Geschäft aufgebaut hat und über diese Epidemie. In den Nachrichten kam eine Meldung über den Flashmob #WOMITHEILTMANKRIEG, und da sprang meine jüngste Tochter, Oletschka, auf und schrie: «Wie, womit? Den Krieg muss man mit Frieden heilen!»

Danach habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen und über ihre Worte nachgedacht. Es ist tatsächlich logisch, den Krieg kann man nur durch Frieden heilen. Wenn die Ursache der Krankheit der Krieg ist, dann muss man nicht «Hautfarbe Camouflage» heilen, als Symptom, sondern den Krieg, als die Ursache.

Aber wie? Der Sohn sagte, dass man Putin töten müsse. Die Idee ist sicherlich gut, aber wie sollen wir ihn töten? Ausserdem gibt es Gerüchte, dass er viele Doppelgänger hat und selbst vor langer Zeit gestorben ist. Und ob mir das dann hilft? Am Morgen beschlossen wir, dass ich einfach nichts mehr über den Krieg hören oder lesen darf und nicht einmal darüber reden oder nachdenken soll.

Andererseits, ich denke doch sowieso nicht daran? Ich überlege mir, was ich gegen meine Beinschmerzen tun kann, was ich zum Frühstück kochen soll, dass wir den Frühlingsputz immer noch nicht gemacht haben, dass der Sohn jetzt einen Pass hat, aber immer noch nicht bei der Musterungsbehörde war, aber bald ist er schon 17 und dann 18 und wenn der Krieg nicht aufhört, wird er gezwungen hinzugehen. Stopp.

Da. Da haben wir’s: Ich habe an den Krieg gedacht. Das war ja klar. Gedanken sind ja materiell, sie ziehen das an, woran wir denken. Deshalb muss man umschalten und über etwas Schönes nachdenken. Meditieren. Damit Frieden in der Seele herrscht. Denn jetzt, was ist dort? Krieg? Oh Gott, wieso ist das denn so schwierig.

Ich öffnete Facebook und beschloss mich abzulenken. Die Flashmob-Welle war vorbei, die Leute müssten also langsam etwas anderes als ihre tarnfarbenen Körper posten, Kätzchen zum Beispiel, irgendwelche Memes, oder lustige Videos. Die Ärzte empfehlen ja gerade mehr zu lachen. Ich entschied mich für eine gründliche Säuberung meines Newsfeeds und stellte alle, die mich daran erinnern könnten, dass in meinem Land Krieg herrscht, auf stumm.

Hier schreibt zum Beispiel eine Freundin, dass sie eine Öko-Siedlung aufbaut. Kein Krieg. Ah nein, weiter schreibt sie, dass es eine Reha-Siedlung für Soldaten und Veteranen sein soll. Okay, dann schalten wir sie auf stumm.

Weiter. Die Frau meines Exfreundes postet ein Videorezept für eine Torte. Hier geht es doch nicht um Krieg? Sie mussten aber mit den Kindern fliehen, als ihre Stadt eingenommen wurde, und ich erinnere mich immer daran, wenn ich einen ihrer Posts lese. Also werden wir sie auch aus der Sichtbarkeitszone entfernen.

Ja, hier posten meine feministischen Freundinnen etwas gegen Gewalt in der Familie. Nun, das kann man lassen.

Nein, kann man auch nicht. Sie schreiben weiter über das posttraumatische Belastungssyndrom der Soldaten, das die Gewaltbereitschaft erhöht. Verdammt.

Gut, was kommt als Nächstes? Als Nächstes kommt ein guter Post über Kaffee. Dieser Typ, der diesen Post gemacht hat, hat ein ganzes Jahr Bilder von Kaffee im Krieg online gestellt. Und seine Frau Bilder von ihren Kindern, die auf ihren Papa warten. Hmm, da geht es doch nicht um Krieg? Oder doch? Fürs Erste verbergen wir ihn auch, sicherheitshalber.

Nun, die Journalist*innen können wahrscheinlich alle direkt entfernt werden. Das sind tägliche Nachrichten über Krieg, Krankheiten und so weiter. Und die Politiker*innen entfernen wir auch gerade.

Wer bleibt hier noch übrig? Ja, die Freundinnen aus Russland fallen ebenfalls in Ungnade, der Krieg wird ja gegen Russland geführt.

Hier, die Bohème, die Bohème ist geblieben. Das sind Ausstellungen, Filme. Obwohl, bei näherer Betrachtung unserer Bohème stellt sich heraus, dass der Film von Krieg handelt, und die Ausstellungen und Stücke sich ebenfalls um dieses Thema drehen.

Wie habe ich das früher nur nicht bemerkt? Hier ist alles mit Krieg durchtränkt, wie mit Gift. Es scheint, als handeln alle diese Posts von anderen Themen, aber dann drehen sie sich doch um das Eine. Natürlich, der Krieg tritt in Flecken zum Vorschein. Er hat sich in meinen Organismus hineingefressen.

Nach der Säuberung wurde Facebook langweilig, eine einzige die Werbefläche für Epillierwachs und Antifaltencremes.

Ich änderte meinen Status auf «Krieg kann man mit Frieden heilen» und schloss meinen Computer.

So, den Fernseher muss ich gar nicht erst einschalten, das ist klar.

Ausserdem kann man auch das Telefon ausschalten und die Kinder zum Einkaufen schicken, auf der Strasse hängen ja Werbetafeln mit Aufrufen, sich der Armee anzuschliessen, der Armee zu helfen, man trifft Menschen in Uniform, bekannte Umsiedler und so weiter. Es ist so seltsam, dass ich bis heute nicht verstanden habe, wie viel Krieg um mich herum ist.

Anfangs fühlte es sich komisch an, so ohne Informationsquellen. Ohne Internet, ohne Fernsehen und Anrufen. Bekannte riefen die Kinder an, sie antworteten, dass es ihrer Mutter gut ginge, sie aber sehr beschäftigt sei. Ab und zu lasen sie über das HFC und erzählten mir, dass die Epidemie weiter ginge, aber weder tödliche Folgen habe, noch eine Behandlung gefunden wurde. Die Kinder hoben Geld von meiner Karte ab, kauften Lebensmittel und notwendige Dinge, holten in der Apotheke Schmerzmittel und ich stellte fest, dass sie plötzlich sehr erwachsen geworden sind. Sie haben sich daran gewöhnt, ihre Körper jeden Tag auf Flecken zu untersuchen und scherzten, dass sie eine Immunität gegen den Krieg entwickelt hatten.

Ein paar Monate später kam der Frühling, die tarnfarbenen Flecken bedeckten meine gesamte linke Körperhälfte und erreichten das Gesicht. Die Informationsisolierung brachte keine Ergebnisse. Ich beschloss, nach draussen zu gehen.

Ich zog Kleidung an, die den Körper bedeckte, trug Foundation auf das Gesicht auf und ging in den nächsten Park. Ich setzte mich auf eine Bank und rauchte. Ich schaute in den Himmel, sah die Bäume an und dachte endlich an nichts. Ich freute mich einfach über die Sonne, den Wind, diesen blauen Himmel, das wachsende Gras.

Ich sah auf den Boden neben der Bank und sah, dass dort kleine Soldaten herumkrabbelten. Es waren viele. Sie krochen hintereinander her, trafen manchmal in kleinen Pulks aufeinander und hörten nicht auf, sich zu bewegen. Ich nahm das Handy heraus und fotografierte sie. Stellte – zum ersten Mal seit mehreren Monaten – das Foto auf Facebook, und schrieb darunter «Der Frühling heilt nicht».

Tränen strömten über mein Gesicht. Ich sass da und weinte bis zum Abend und versuchte mich immer wieder daran zu erinnern, wie diese Käfer richtig heissen.

Die kleinen Soldaten-Käfer, rot mit schwarzen Punkten, krabbelten neben der Bank herum und krochen an meinen Schuhen hoch.

Zu Hause sagte mir Wikipedia, dass es keine Käfer, sondern Wanzen sind. Die Soldaten-Wanze oder Gemeine Feuerwanze (lateinisch Pyrrhocoris apterus) ist eine gewöhnliche Landwanze aus der Familie der Feuerwanzen, 9-11 mm gross. Im Frühjahr und Spätsommer versammeln sich diese Wanzen in grossen Haufen in der Nähe von Baumstümpfen, Baumstämmen, Zäunen, Holzstössen, und das immer auf der Sonnenseite.

Und dann endete der Krieg. Die Politiker*innen haben sich geeinigt, Amerika hat Russland in die Ecke gedrängt, die Sanktionen zeigten Wirkung, die Krim wurde der Ukraine zurückgegeben, die Truppen verliessen den Donbass, die Liebhaber der russischen Welt reisten mit ihnen gemeinsam ab, und alles wurde sozusagen gut. Die Kinder gingen wieder zur Schule.

Meine Flecken begannen zu verblassen. Sie verblassten auch bei allen anderen. Ein Jahr lang freuten wir uns über den Frieden, das Ende der Epidemie und feierten sogar den Tag des Sieges am 18. Juli.

Ich musste schon fast keine Schmerzmittel mehr einnehmen, Gesicht und Körper waren wieder rein, und ich wurde erneut auf Facebook aktiv. Ein Jahr später entschied ich mich, nach Donezk zurückzukehren. Als Erstes wollte ich hinfahren, um zu sehen, wie es dort ist, aber geplant war, zusammen mit den Kindern für immer zurückzukehren. Wir fuhren mit dem Bus und stiegen am Busbahnhof aus. Wir gingen die schmerzlich vertraute, staubige Strasse entlang, bogen an der alten Linde ab und sahen von weitem, dass unser Haus weg war. An seiner Stelle standen Ruinen. Wir liefen auf ihnen herum und gelegentlich fanden die Kinder vertraute Dinge. Ich setzte mich neben dem Haus auf eine wie durch ein Wunder verschont gebliebene Bank, die noch mein Mann gemacht hatte, als es uns noch gut ging. Ich hatte grosse Lust, zu rauchen. Ich dachte, dass mein Mann sehr wahrscheinlich mit der Miliz abgereist ist, ihm wäre zuzutrauen das Haus eigenhändig zu sprengen, aus reiner Wut. Ich dachte mir, dass man alles wieder aufbauen kann, das Land gehört ja uns und die von mir gepflanzten Blumen wachsen neben dem Haus.

Plötzlich fühlte ich einen starken, aber sehr vertrauten Schmerz. Ein paar Camouflagefarbige Flecken erschienen auf der Hand. Die Krankheit kehrte zurück.

Wie sich später herausstellte, kehrten die Flecken nicht nur bei mir zurück. Die Ärzte sagten uns, dass der Krieg, sobald er sich in einer Person niedergelassen hat, niemals verschwindet. Man kann nur den Schaden begrenzen, indem man das Leben geniesst und versucht, sich nicht an die Vergangenheit zu erinnern. Aber jeder von uns, der den Krieg durchgemacht hat, weiss, dass es reicht, sich kurz zu entspannen, die Vorsicht zu vergessen und sich an den Krieg zu erinnern, und schon erscheinen die Flecken wieder,

und dieses Mal

bleiben sie für immer.

Der Text wurde 2017 geschrieben und von Julia Gonchar ins Deutsche übersetzt.

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