Überlegungen mit Virginia Woolf für ein anderes Wissenschaffen.

Fast jeden Herbst seit zehn Jahren unterrichte ich «The Room of One’s Own» von Virginia Woolf. Jedes Jahr nehme ich das Buch zur Hand und stimme mich auf das Semester ein. Bei jeder Lektüre wandere ich mit Woolfs Protagonistin durch das goldschimmernde Herbstlaub in Oxbridge, stolpere mit ihr über eine Bordkante und bleibe mit ihr vor einer Bibliothekstür stehen. Ich schaue aus dem Fenster und die Bäume schimmern genauso golden und purpurfarben, wie sie womöglich 1928 schimmerten, als die Ich-Erzählerin darüber nachdenkt, warum es so wenige Schriftstellerinnen gibt – das Thema der zwei Vorträge, die Woolf vor den ersten Studentinnen in Cambridge hält, und auch Thema von «A Room of One’s Own», der publizierten Version der Vorträge.

Woolfs Herbstlaub und ihre Pflanzenwelt lassen mich seit einiger Zeit nicht los. Denn von den Pflanzen aus lesend (statt der ich-erzählenden Protagonistin folgend) entfalten sich Woolfs Argumente nochmals etwas anders, tiefer, was auch schon andere vor mir vor allem in Bezug auf Woolfs literarische Werke hervorgehoben haben.

In diesem Aufsatz möchte ich also Teile aus Woolfs «A Room of One’s Own» durch die Blume (oder besser: die Pflanzen) lesen und mich mit dieser Lesart ihren Überlegungen zur Wissensproduktion annähern. Wer und was hat daran teil und wer nicht? Wo wird Wissen hergestellt (und wo nicht) und welche Techniken werden dazu eingesetzt? Und vor allem: Könnte es auch anders gehen?

Virginia Woolf gibt auf diesen Fragenstrauss sehr weitreichende, konkrete Antworten, die gerade wieder höchst aktuell debattiert werden. Ich werde mich im Folgenden auf zwei Fragen konzentrieren, um die Woolf in mehreren Passagen kreist: Welche Art von Wissen wird an der Universität als Institution hergestellt? Und wie sollte Wissen artikuliert, in Form gebracht, werden?

Sortieren und Hierarchisieren in der heiligen Stätte

Woolf nimmt uns Lesende mit auf einen Spaziergang. Was als unscheinbare Hintergrunderzählung und leichtes Einstiegsgeplänkel erscheinen mag, sind gekonnt gesetzte narrative Kniffe, für die Woolf hinlänglich bekannt ist. Es eröffnet das grundsätzliche Thema des Buches: Frauen & Fiktion. So begegnen wir der Vielnamen-Protagonistin zum ersten Mal, als diese gedankenverloren am Ufer eines Flusses inmitten von Büschen glühender Herbstfarben sitzt.

Sie beobachtet Weiden, die in perpetueller Klage weinen; einen eigenwilligen Fluss, der entscheidet, was er gerade vom Himmel, einer Brücke und den lodernden Bäumen widerspiegeln möchte. Sie legt sich ins Gras, fühlt sich klein, ihre Gedanken unwichtig. Doch hier kann sie denken, ihren Gedanken freien Lauf lassen – sie kommen und entschwinden. Hier kann sie kreativ sein, mehr noch: sein.

Nicht nur sie hat hier Handlungsfähigkeit: Bäume haben Gefühle, der Fluss entscheidet – und die Protagonistin wird zu einem gleichwertigen Teil einer handelnden (Um)Welt. Mehr noch, Menschen sind hier nur de passage, wie die Protagonistin selbst und auch der Ruderer, den der Fluss kurz passieren lässt, bevor er abermals eine selbstgewählte Collage von Himmel, Brücke und Bäumen spiegelt.

Dieses Einswerden mit der Landschaft ist ein Grundgedanke, für den Donna Haraway Ende der 2000er durch das Buch «When Species Meet» bekannt geworden ist. Woolf hat dies auch als «moments of being» beschrieben. Dies sind (unvergeschlechtlichte) Momente des Seins, die ihr immer wieder deutlich machten, dass sie Teil eines grösseren Zusammenlebens und in dieses eingewoben ist. Mit dieser Feststellung beginnt eben auch der Spaziergang in «A Room of One’s One».

Es sind jedoch die zwei folgenden Momente des Spazierganges, die üblicherweise stellvertretend für Woolfs Feststellungen zur Wissensproduktion im Jahre 1928 herangezogen werden: Eine in Gedanken verlorene, rapide laufende, zielstrebige Protagonistin kommt verbotenerweise vom Kiesweg ab und wird gemassregelt. Und der Moment danach, in dem ihr bestimmt-höflich der Zugang zu einer Bibliothek verwehrt wird.

Der Rasen, den die Protagonistin unerlaubterweise überquert, ist jedoch nicht dasselbe Gras, in dem sie vorher entspannt ihren Gedanken folgte. Es ist ein von einem Kiesweg eingerahmtes Rasenstück, das ein Alter hat, das von Menschen gepflegt und von einem Mann kontrolliert und patrouilliert wird.

Aus ihren Gedanken aufschreckend, ist die Ich-Erzählende so eben auch mit einer entsetzten Mann-Figur konfrontiert, die sie in diesem Moment als erstes an ihr Geschlecht und nicht an das gebrochene Verbot denken lässt: «I was a woman». Denn diese Geschlechterkategorie bedeutet: Ihr sind Dinge verwehrt und (nicht nur metaphorische) steinige Wege klar vorgegeben. Und dies wie allen Frauen, so stellt die Protagonistin fest, seit 300 Jahren.

Doch viel wichtiger ist, dass ihr in diesem Moment ihr Gedanken entschwindet; er versteckt sich (wie sie sagt). Vor der Bibliothek angekommen, wird sie zwar von dem im flatternden Schwarz erscheinenden Bibliothekswächter zu einer «lady» gemacht, doch genau diese vergeschlechtlichende Fremdkategorisierung verhindert ihr den Zugang zu dem über Jahrhunderte angesammelten Wissen. Zudem ist sie in diesen beiden Momenten, im Gegensatz zu dem am Fluss, nicht willkommen, ausgegrenzt und verliert immer wieder ihre Gedanken, anstatt sich in ihnen zu verlieren.

Nach diesen beiden unwillkommenen Momenten zieht die nun wutentbrannte Protagonistin weiter. Sie hat eine Stunde zu überbrücken und will zurück zum Fluss und auf dem Weg dorthin durch das Weideland bummeln. Sie reduziert, abermals in Gedanken, ihr (Schritt)Tempo. Im Flanieren denkt sie darüber nach, wie dort, wo sich jetzt geschmeidige Rasenflächen ausbreiten und massive Gebäude inklusive Kapelle stehen, früher Schweine im wehenden Gras nach Wurzeln wühlten. Dieses Marschland musste über Jahrhunderte in einer dauernden Anstrengung von Menschen, Ochsen und Pferden, finanziert von einem endlosen Geldstrom, geebnet, ausgeschachtet, umgegraben und entwässert werden, bis über das wilde Gras ein solides Pflaster gelegt werden konnte, und hier nun Gelehrte unterrichten.

Die von Woolf beschriebene Universität zeichnet sich also nicht nur dadurch aus, dass Frauen der Zugang verwehrt ist und Wissen von und über Frauen fehlt (was sie später im Buch verdeutlicht). Sie konnte überhaupt erst etabliert werden, indem eine harmonische, von Pflanzen und (Haus)tieren bevölkerte, menschenleere Umwelt von geldgebenden Königen und Königinnen sowie Adeligen unterworfen, zerstört, hergerichtet und domestiziert wurde. Nach dieser ersten Fundierungsarbeit waren es dann vermögende Industrielle, die diese Arbeit im Zeitalter der Aufklärung fortführten und die Universitäten mit mehr Lehrstühlen, Dozenturen und Stipendien und Laboren und Observatorien ausstatteten.

Es ist hier kein Miteinander, kein alltägliches Mit-Sein mehr mit der Natur. Natur ist allein eine Ressource, die von Menschen für ihren eigenen Fortschritt (hier dem wissen- und wirtschaftlichen) eingesetzt, ausgebeutet und geformt wird. Wo noch vorhanden, werden die Pflanzen zu nützlichen Objekten, wie der überquerte Rasen oder die farbenprächtigen Blumen, die in Balkonkästen die Gebäude zieren. In Ausführungen wie diesen, so scheint mir, arbeitet Woolf ein Hand-in-Hand-Gehen der Unterdrückung von Frauen und Natur als Grundlage des modernen wissenschaftlichen Wissens heraus.

Im zweiten Kapitel detailliert Woolf ein weiteres Vorgehen moderner Wissenschaft. Professor X ist gerade dabei, die mentale, moralische und physikalische (später heisst es: natürliche) Unterlegenheit von Frauen unter Männern in einem monumentalen Werk mit einer Besessenheit darzulegen, als töte er ein schädliches Insekt. Später, im fünften Kapitel, tritt dieser Professor nochmals auf. Diesmal sieht er seine Aufgabe darin, neu entdeckte, bislang unbekannte menschliche Geschlechter zu klassifizieren – mit dem Ziel, abermals die Überlegenheit des eigenen Geschlechts festzustellen. Professor X misst, vermisst und ordnet in ein hierarchisches System ein; alles von dem Begehren der Beherrschung anderer Geschlechter (und Natur im weiteren Sinne) bestimmt. Er bedient sich insofern der Wissenschaft und ihrer Messinstrumente und -techniken sowie Klassifizierungssysteme, um die Vormachtstellung und Herrschaft von Männern über Frauen und anderen Geschlechtern zu sichern und legitimieren.

Im Gegensatz dazu stellt Woolf rund um die Figur der debütierenden Schriftstellerin Mary Carmichael zukunftsgerichtete Überlegungen an zu einem Wissenschaffen ohne dieses Ein- und Aussortieren. Sie umschreibt die Konturen einer Wissensherstellung, die sich dem verschreiben wird, was die Anthropologin Anna Tsing 2015 die «Art of Noticing» genannt hat: Aufmerksam zu sein, genau zu notieren und beschreiben und dies von den (prekären) Rändern des Zusammenlebens aus.

Woolf erörtert die Notwendigkeit des Aufmerksamseins für die Multiplizität von Erfahrungen und Sichtweisen; also eine Detailschärfe im Festhalten der feinsten Unterschiede. Dies schliesst durchaus Erfahrungen und Sichtweisen von nichtmenschlichen Entitäten mit ein, wie Woolf das beispielsweise mit dem Wind in «To The Lighthouse» demonstriert hat. Diese Aufmerksamkeit beruht auch auf einer Sensibilität und subtilen Neugierde, die im Geiste der Gemeinsamkeit («spirit of fellowship») vor allem Unbekanntem oder noch Unbeschriebenem nachgeht. So fördert sie Dinge zutage, die im Sortieren eines Professor X entweder verborgen bleiben oder unsichtbar gemacht werden. Diese Aufmerksamkeit vergleicht Woolf dann auch mit einer Pflanze, die sich an jedem Anblick und Geräusch labt, das ihr über den Weg läuft.

Woolf macht hier nicht nur Einschätzungen zu den Konsequenzen des Klassifizierens moderner Gesellschaften und deren Informationsinfrastrukturen, sondern konturiert in den Grundzügen eine Methode, die es ermöglicht, diesen (teilweise) zu entgehen.

Aus dem Schatten des Ich-Pronomens

Das schriftliche Artikulieren von Beobachtungen, überlegt Woolf weiter, kann und muss unterschiedliche Formen annehmen. Formen, mit denen Woolf während ihrer gesamten Karriere spielte, sie über die Blattränder hinweg ausreizte und Vor- und Nachteile diskutierte. So auch in «A Room of One’s Own»; eine Erzählung, die mit klaren Aussagen zur narrativen Form gerahmt ist – Aussagen, die ich abschliessend aufnehmen möchte. Denn bevor uns Woolf überhaupt auf den Spaziergang mitnimmt, stellt sie uns zunächst die Ich-Erzählende vor, die am Flussufer sitzt.

Das «Ich», das hier spricht und schreibt, ist multipel und changierend, dies stellt Woolf gleich nach dem Umblättern der ersten Seite klar. «Nennen Sie mich Mary Beton, Mary Seton, Mary Carmichael oder wie immer Sie wollen – das ist unwichtig». Dies gibt den Ton für die weiteren Seiten an, in dem sich unterschiedliche Erzählende abtauschen. In Passagen wird mit dem namenlosen Englischen «one» in die indirekte Sprache gewechselt, und die Umrisse eines erzählenden Ichs verschwimmen.

Diese Multiperspektive erlaubt Woolf, das Thema – wenn auch vornehmlich aus Frauensichten – aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten; stets entweder in alltäglichen Erfahrungen verwurzelt oder spekulierend in die Zukunft gedacht. Woolf multipliziert also nicht nur die Erzählenden, sondern dezentralisiert in dieser Bewegung die Erzählung und lässt sie auf mehreren (auch unbekannten) Schultern ruhen.

So ist es auch einleuchtend, wenn Woolf erklärt: Weder Orte (auf dem Spaziergang) noch die Ich-Erzählenden haben ein reales Wesen. Die Multiperspektive eröffnet sich allein durch und mit fluktuierenden Ich-Erzählenden. Woolf betont weiter, sie erzähle keine einzige und eindeutige Wahrheit und damit auch keine einzelne und einseitige Geschichte. Sie insistiert damit auf die Wichtigkeit jeden Blickwinkels, die sich nur in Kombination – im «wir» (wie es die Literaturkritikerin Gillian Beer interpretiert) – einem Gegenstand, einer Realität annähern kann.

Diese Multiplizität wird noch dadurch verstärkt, indem Woolf bewusst die Grenze zwischen Fiktion und Fakt (wie sie es nennt) in der Schwebe hält. Dies erlaubt ihr, aktuelle und fabulierte Erfahrungen von Menschen und anderen (Lebe)Wesen zu einem Gesamtnarrativ zu verweben – ein Schreibregister, das sich in den letzten Jahren als «spekulatives Fabulieren» in feministischen Schriften etabliert hat.

Woolf kommt zum Abschluss nochmals auf diese multiple, wesensentleerte und fiktive Wendung der Ich-Erzählenden zurück. Die nun Ich-Erzählende Mary Beton stolpert beim Lesen des Romans eines Mr. A immer wieder über den Buchstaben «I» – dem englischen «ich». Vor lauter ich, ich, ich ermüdet Beton und hat Schwierigkeiten dem Inhalt zu folgen. Sie sei dieser über Jahrhunderte geschliffenen, ehrlichen, logischen Ich-Erzählung an und für sich nicht abgeneigt. Ihr Ermüden durch Langeweile habe mit dem Schatten zu tun, den dieser Buchstabe werfe. Das in Grossbuchstaben geschriebene, allein-stehende, autarke Englische «I» tritt ihr nicht nur als typografischer gerader dunkler Balken entgegen, sondern steigt als dreidimensionale Form aus dem Text auf und legt sich derart über diesen, dass es alle anderen Buchstaben verstellt, erdrückt (gar unterdrückt?) Auch wenn sie es versuche, könne sie die Landschaft dahinter nicht mehr sehen.

Ob Frau oder eben Baum, alles löse sich hinter dem Ich in formenlosem Dunst auf und hinterlasse allein die Ungewissheit, was sich dort verstecke. Ja, das «I» kreiere eine Dürre, in der nichts anderes wachsen könne. Doch dies sei alles kalkuliert, so Woolf, denn Mr. A schreibt als Mann. Ehrlich und logisch, und zwar gegen die Gleichstellung der Geschlechter. Er bediene sich diesem Ich-Monolog, um seine Überlegenheit über Frauen (und womöglich auch anderer Geschlechter und der Natur) immer wieder zu vergewissern.

Diese so gesetzte Ich-Form ermöglicht Mr. A und allen Männern, für die er von Woolf repräsentativ gemacht wird, Frauen und nichtmenschliche Wesen aus dem Text herauszuschreiben. So gesehen und gerahmt, tritt die von Woolf gesetzte offene Wendung der Ich-Narration deutlich und klar als eine strategische feministische Schreibtechnik der Inklusion und Polyphonie hervor.

Dies wird auch nochmals deutlich, als Woolf am Ende des Buches angekommen, die unscharfe Trennung zwischen Fiktion und Fakt auflöst und sich zu einem klaren Fakt bekennt: Wir Menschen stehen nicht allein in Beziehung zu anderen Menschen, sondern in Beziehung mit der Realität – mit allem, was diese einschliesst. Himmel, Bäume und alles weitere.

Marion Schulze hat eine Assistenzprofessur für Geschlechterforschung am Zentrum Gender Studies der Universität Basel inne.

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