Es war dies mein letzter Deal mit Gott. Ich stand unter der Dusche und schrubbte meine Zehen, ich war eine Wasserfee und bot Gott meine Feenkraft an, meine ganze. Hier, du Gott, sagte ich, nimm. Der Duschkopf flocht seine klaren Bänder über meinen unklaren Körper.

Ich war im grossen Fluss gewesen mit Wolf, Larve und Kuckuck. Die Eltern hatten uns das erste Mal vertraut. Wir tauchten unter und flogen über die grüne Bläue. Und aus ihr stieg unsere Angst. Unsere Ängste. Denn wir hatten verschiedene, erfuhr ich danach, am Ufer. Die Wolfslarvenkuckucksangst war diese: Dass die Tiefe Tiere birgt. Dass die Tiefentiere anders sind als wir. Dass sie uns holen kommen. Das sagte Larve. Dazu nickte Wolf. Dazu nickte Kuckuck. Da realisierte ich endgültig, dass ich anders war. Denn meine Angst, die Delphinangst – denn ich war Delphin, das bestimmten die anderen ohne Vetorecht meinerseits – war eine andere.

Ich konnte das damals nicht sagen – nicht weil es «unaussprechlich» war oder so’n Crap. Ich konnte das damals nicht sagen, weil ich das Sagen noch nicht hatte, weil ich noch kein Schreiben hatte, weil ich nicht wusste, dass es die Möglichkeit gibt, die Worte aufzuschneiden und ihnen das menschliche Herz hinauszuzüngeln und sie an die Arterie des grossen Stromes anzunähen. Weil ich noch nicht wusste, dass man der bestehenden Sprache mit ihren in Beton gegossenen Händen ausweichen kann. Weil ich noch keinen Satz Virginia Woolf gelesen hatte. Aber was ich gesagt hätte, wäre dies:

Ich fürchte mich davor, dass sich mein Körper auflöst, dass das Wasser mich nimmt. Dass die Tiefentiere mich nicht von mir rauben, sondern mich erkennen. Ich bin nicht mir, ich bin ein Ihriges. Ich fürchte mich, dass ich ihnen aus freien Stücken folgen wollen werde, dass mein Körper eine Kiesbank ist und die Forellen ihre Eier in mich legen und ich ein Schwarm gewesen sein werde. Ich fürchte mich vor der Wasserlöslichkeit dieser Beine, Arme, Augen; dieser Menschmaschine.

Das hätte ich gesagt, wenn ich es hätte sagen können, damals, im Sommer Zweitausendundeins, aber ich habe es natürlich nicht gesagt, zweitausendundzweiundzwanzigmal nicht gesagt, das wäre ja auch absolut lächerlich gewesen, denn sowas sagt ja nun mal echt kein Kind, das ist pure Nachhineinpoeterey. Und so habe ich einfach getan, was ich immer tat in solchen Situationen: Ich begann zu schlottern.

Wolf, Larve und Kuckuck meinten wohl, es sei die Wolflarvenkuckucksangst oder mir wäre kalt, sie steckten mich unter die Dusche oben bei den Swimmingpools, drehten das Wasser auf sehr heiss und liessen mich in diesem anderen Wasser allein. Und da merkte ich erst, dass ich meinen Körper gar nicht mehr spürte. Ich hatte es zuvor nicht bemerkt, da das oft geschah, und ich mir gewöhnt war, wie von einem Heissluftballon aus auf meine Glieder zu schauen. Ich schrubbte mein Ich mit meinen Waschmenschenfingern zurück in diese Zehen.

Und da bot ich dann eben Gott meinen Deal an. Gott, sagte ich. Mach mich bitte wie die anderen Kinder. Ich will auch ihre Angst haben und ich will auch einfach einen Körper haben, den man nach dem Kraulenlernen auf den warmen Asphalt legt, der sich nicht ständig verflüchtigt. Und weil ich eben im Geheimen insgeheim eine geheime Wasserfee war – was nur ich wusste – bot ich dem lieben Gott meine ganze Wasserfeenkraft an, denn es war das Wertvollste, was ich besass. Gott hatte mich schon oft im Stich gelassen: an Weihnachten, im Fussball, beim Mathetest, an Marcos Faust und bei Grossmutter Lisbeths Pilznüdeli. Aber ich hatte noch diesen letzten Trumpf im Ärmel, im Arm, ich hatte mir meine Feenmagie als unausschlagbaren Deal aufgehoben. Ich war nämlich höllensicher, dass Gott mir diese Hexenwerkerei hundertpro würde abnehmen wollen. So viel wusste ich von Grossmutter Lisbeth. Also. Auf zehn.

Eins – Kein Singen mehr unter der Dusche, um meine Stimme mit dem Wasser zu verflechten – Zwei – Keine Zaubersprüche mehr im Regen – Drei – Keinen Austrocknungszauber gegen die von Mama so verhassten Schnecken – Vier – Kein Inderwiesesitzen mehr, um die Wiese als echtbeblumtes Kleid um mich zu fühlen – Fünf – Nie mehr die Erde auf ihren Kopf stellen, indem ich in den Pfützen Splitter von Himmel hineinschaue – Sechs – Keinen blauen Schimmernagellack mehr – Sieben – Kein Flüstern mit dem Fluss mehr – Acht – Kein Beschwören des Meeres mehr: die Ohren nicht mehr an die Muscheln halten, kein Rauschen mehr herbeihören – Neun – Kein Trinken von Morgentau mehr: kein Betrinken am Silber, um die Blätter in mich hineinzulassen – Zehn! Mali muli fa, der Feenshit ist nicht mehr da. Abschneid Brech Rupf.

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Virginia Woolfs Spur ist eine wässrige. Ob «Mrs. Dalloway», «To the Lighthouse», «Orlando» oder «The Waves» – Wasser zieht sich in verschiedenen Aggregatszuständen durch ihre Texte. Und es ist nicht nur der oft besungene «Stream of Consciousness», der in ihren Texten strömt. Ihre lyrischen Romane sprudeln und fliessen und lösen auf allen Ebenen auf, was da war. Ich möchte dieses Fliessen hier aber nicht einfach als high-browige Meisterinnenung des modernen Romans beschreiben, oh hell no, may the watery and tentacular ones have mercy on my dekonstruierte soul, nein. Ich möchte mit Woolf und den durch sie geschwommenen Denkerinnen an einer écriture fluide arbeiten, an einer Meute von écritures fluides, an unzählbaren Schreibweisen, die nicht in fixen Identitäten verhaftet sind, sondern ein stetiges deleuze-guattarianisches WERDEN anstreben; ein DEVENIR; ein Schreiben, das DE VENIR spricht; VOM KOMMEN spricht, vom BECOMING, vom BEING TO COME; vom erst noch kommenden Sein.

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In «To The Lighthouse» möchte die Gemeinschaft der Figuren zum Leuchtturm. Sie erreicht ihn aber erst nach 10 Jahren und drei Todesfällen. Der Wellengang, die Flut: Irgendwie kommt immer das Wasser dazwischen. Der eigentliche Leuchtturm ist aber nicht jener in der Bucht, sondern das menschliche Subjekt selbst: Die Figuren sind von ihren Körpern und Unterschieden wie durch Meere voneinander getrennt. Ihre Gedanken und Gefühlen umströmen die Inseln, auf denen die anderen stehen, aber sie gelangen nie ganz zueinander, und das ist ihr grosses Unglück, die grosse Einsamkeit, um die alle von Woolfs Texte strudeln. (1) Und doch schwappt der Text von einer Figur zur anderen, ebnet alle Wahrnehmungen ein wie die zur Ruhe gekommene See. Und nicht nur die Menschen, auch die Grenzen beginnen sich mehr und mehr aufzulösen. «She felt (…) that community of feeling with other people which emotions gives as if the walls of partition had become so thin that practically (…) it was all one stream, and chairs, tables, maps, were heirs, were theirs, it did not matter whose, and Paul and Minta would carry it on when she was dead.»

Wasser ist in «To the Lighthouse» also ein zweiköpfiger Agent: Einerseits trennt es die Figuren, andererseits weicht es die Grenzen von Mensch und Gegenständen auf. «Orlando» geht dann ziemlich viel sassyer mit dem H2O um: Zu Beginn hält der kälteste Winter die englische Gesellschaft in seinen Fängen. Die Themse ist gefroren und Orlando und seine Geliebte tänzeln über das Eis. Dann aber kommt ein grosser Regen, bringt zwar den Abschied zur Geliebten, aber bringt auch Orlando in Fluss, aufs Meer, nach Konstantinopel, ins andere Geschlecht. Mit Orlando taut Woolf nicht nur die Geschlechtergrenzen auf, sondern auch die starren Vorstellungen einer Lebenszeit: Orlando hat mehrere.

Die Auflösungen von Mensch, Gegenständen, Geschlechtern und Zeiten führt «The Waves» noch weiter. Die Figuren lösen sich vollkommen auf, fransen aus, strömen ineinander über, infizieren einander mit ihrem Sein, sind ein einziges Ineinanderübergehen von Altern, Geschlechtern, Bewusstseinen, Tier- und Pflanzenreichen. Die Schwellen zwischen den einzelnen Figurenperspektiven sind nur minimal markiert. Jede neue Figur wird bloss ganz am Anfang ihres Abschnitts, dann über Seiten hinweg nicht mehr benannt. (2) Die Stimmen vermischen sich mehr und mehr und werden eine einzige vielstimmige Stimme, ein Chor aus einem Mund: «we melt into each other with phrases», wie die Figur Bernard selber sagt. Oder nach Rosi Braidotti: «Virginia Woolf richtet ihren schriftstellerischen Blick auf die vollkommene Stille des Lebens, das sie als fortwährenden Fluss begreift. Schreiben ist eine Methode der Umwandlung kosmischer Intensität in (aus)haltbare Teile des Seins.» (3)

Woolfs Projekt ist eine Verflüssigung der binären Strukturen unserer Kultur. Individuum – Gruppe, Mann – Frau, Mensch – Natur, belebte Körper – Gegenstände. «Like a long wave, like a roll of heavy water, he went over me, his devastating presence – dragging me open, laying bare the pebbles of my soul.» Die Verflüssigung ist nicht schmerzfrei, aber wichtig, um diesem sogenannten Leben näherzukommen. Kommet, ihr Kinder, in den Jacuzzi des Chaosmos.

***

Um nun an den Stränden der écritures fluides anzukommen, müssen wir mit den von Woolf infizierten Denkerinnen untertauchen. Für die Materialistinnen des Fleisches (4) sind Woolfs Texte ein Herd, an dem sie ihr kategoriensprengendes Süppchen kochen. Deleuze-Guattari staksen in vollem Wolf-Drag auf ihren «Mille Plateaux»-Schuhen durch die Wellen. (5) Ihre Theorie des Werdens, des Frau-Tier-Unwahrnehmbar-Werdens hat sich übersatt gesoffen an Virginia, und auf der Gischt dieser Wellen sörft die rüstige Rosi Braidotti auf dem Softboard ihres Posthumanismus, verwässert unseren Anthropozentrismus, und spritzt auch Astrida Neimanis’ Hydrofeminismus feucht. Und immer wieder treffen sich diese alle am Infektionsherd der Wölfin. (6)

Aber nun endlich: What. The. Fuck. Sind écritures fluides?

Die kosmischen Geplätscher. Die Orchideen, die sich in hard-core drag das Geschlecht der Wespen auftätowiert haben und die besamenden Wespen zu Orgasmen verführen, die keine Nachkommen bringen. Die verschiedenen Nichtse, in die der Besen die Hexen trägt. Wolfsgewimmel. Die Zonen der Ununterscheidbarkeit. Ansteckung statt Vererbung. Ein Schreiben, das nach Virginia Woolf nicht spezifisch weiblich sei, sondern ein Frau-Werden produziere: Atome von Weiblichkeit, die fähig sind, einen ganzen gesellschaftlichen Bereich zu durchlaufen, die Männer anzustecken und sie in dieses Werden hineinzuziehen. (7)

Die écritures fluides sind das Meer, das sich Füsse wachsen liess, um die Unwirtlichkeit zu begehen, das sich Lungen einstülpte, um an der Trockenheit zu singen, das sich Haut, Rinde, Fell und Myzelien nähte als Taucheranzüge (8) für die Belebung dieser Gegenden, die voller Enden sind. Wir sind alle fluide, wir sind alle écritures fluides, wir sind das Nasse, das sich ins Trockene schrieb und schreibt und schreiben wird, selbst wenn wir unsere Art auslöschen. Alle Erdkörper sind bodies of water: «We live in watery commons, where the human infant drinks the mother, the mother ingests the reservoir, the reservoir is replenished by the storm, the storm absorbs the ocean, the ocean sustains the fish, the fish are consumed by the whale.» (9)

Die écritures fluides schreiben die Geschichtungen von und über die watery und tentacular ones, den carrier bag of water, (10) den Amphibien zwischen hier und dort, dem anderen Wir, das eine Wirrnis ist, eine Vielzahl, eine Viehzahl, die unzählbar, aber – hell yes, bitch – erzählbar ist. Unsere Mannigfaltigkeit, unsere Fluidfalterkeit. Die leidet. Die überlebt, immer wieder. Die aber verdammt nochmal mehr fun ist als der Altmännerchor des Zentrums.

Entgegen der soziologisch durchtränkten Literatur, wie sie in Frankreich von der Schreibmaschine Ernaux-Eribon-Louis-Bourdieux geschrieben wird, betonen die écritures fluides die FICKTION in Autofiction. Die fluiden Schreibweisen sind zwar auch gespeist von den verorteten Erfahrungen bestimmter Individuen, aber sie durchsickern die Membrane, die diese sogenannten ICHS zusammen- und auseinanderhalten, sie quaken ein in das kosmische Blubbern und Blabbern, das nicht festschreibt, sondern aufweicht, ja baby, die écritures fluides sind EF, sind elfenfüssig, elefantenfingrig, Einzelfielzahl, einfach fresh, die EF sind keine weiblichen Schreibarten, aber sie sind effeminiert, sie sind dem Nichtmännlichen zugeschrieben, sie wurzeln im Feministischen, aber sie lassen sich nicht von Geschlechterfragen oder Artengrenzen eindämmen, sondern kümmern sich um die Körper, um die sich das Zentrum nicht kümmert, sie öffnen das Sosein unserer Körper, unserer corporeality, sie kommen in eine Körp-ehrlichkeit: Die Anerkennung, dass wir alle im selben Boot sitzen. Aber dass das WIR nicht bloss menschlich und nie gleiche Möglichkeiten hat. (11) Jedes Wort der écritures fluides flüstert: «I am rooted, but I flow.» (12)


Anmerkungen

1. Da ist beispielsweise die Mrs.-Ramsay-Einsamkeit. Mrs. Ramsay, die leuchtendste Leuchttürmin, hat eine existentielle Erschüttelung, als sich das ferne Lichtturmlicht in den Augen ihres Lieblingssohnes spiegelt und sich ihr in Zeitlupe nähert – ihr ganzes Tun und Sein löst sich auf, «evaporated», und sie ist auf ihre pure Existenz zurückgeschleudert. Sie fühlt sich nur noch als «wedge of darkness», ein Schnipsel Unförmigkeit, der für andere unsichtbar sei. Im Kapitel darauf erfahren wir jedoch, dass ihr Mann sie beobachtet und wahrgenommen hat, dass etwas Tiefgreifendes geschah – aber Mrs. Ramsay ist es nicht möglich, ihren wedge-of-darkness-Zustand mit ihm zu teilen. Sie fasst sich nicht in Sprache. Sie bleibt ihre Inselei.
2. Lies beispielsweise S. 44 – 53. Neville und Bernard werden richtiggehend zusammengesauced.
3. Braidotti, 2014, S. 169.
4. Braidotti, 2002, S. 5.
5. Das findest du dort auf den Seiten 47, 326, 343 f., 357 f., 376 f., 381 f., 401 und 449. Und ja, du kannst diese Seiten zusammenhangslos lesen: Das ist ja ein Rhizom, und es gibt kein Vorne und kein Hinten und schon gar kein Verstandenhaben.
6. Braidotti, 2008, S. 69-102, Braidotti s. 94 f., S. 127 ff, S. 203, Neimanis S. 87.
7. Es könnte gewisse Ähnlichkeit mit hier vorkommenden Wörtern und zwischen S. 326 bis 449 vorkommenden Wörtern aus «Mille Plateaux» geben.
8. Neimanis, 2012, S. 93.
9. Neimanis, 2012, S 92.
10. Lies dazu bitte die «Carrier Bag Theory of Fiction» von Ursula K. Le Guin, die wir ja alle gerade wiederentdecken.
11. Braidotti, 2022.
12. Woolf, 2015, S. 59.

Bibliographie

– Braidotti, Rosi: «metamorphoses. Towards a materialist theory of becoming». Malden, 2002.
– Braidotti, Rosi: «Politik der Affirmation». Berlin, 2018
– Braidotti, Rosi: «Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen». Frankfurt am Main, 2014
– Deleuze, Gilles & Guattari, Félix: «Tausend Plateaus». Vilnius, 1992
– Neimanis, Astrida: «Hydrofeminism: Or, On Becoming a Body of Water». New York, 2012.
– Woolf, Virginia: «The Waves». New York, 2015
– Woolf, Virginia: «To the Lighthouse». Croydon, 2004.

Kim de l'Horizon ist Autor*in. Zurzeit Hausautor*in an den Bühnen Bern. Kims Debütroman erscheint im Herbst 2022.

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