«Ich bin so weit, dass ich in fünf Wochen mit der ganzen ökonomischen Scheisse fertig bin», schrieb Marx 1851 über ‹Das Kapital› an Engels. Er brauchte noch 16 Jahre. Das ist jetzt 150 Jahre her.

Was hat sich seither getan? Die Industrie ist gewachsen, mit ihr der Reichtum und die Belastung für Mensch und Umwelt. Ein paar Staaten haben sich am Sozialismus versucht. Die andern treiben den Kapitalismus dermassen ad absurdum, als ob sie Marx beweisen wollten, dass dieses System sich eben nicht und niemals selber abschafft, egal wie blöd man tut. Die Ungleichheit wächst dabei ins Groteske.

Wer liest denn heute noch das meterlange Kapital?

Und nun, man munkelt, es sei seit der Finanzkrise, prangen auf den Titelseiten von bürgerlichen Blättern: «Marxismus wird wieder salonfähig», oder gar: «Marx is back»! In Zeiten, in denen sich jeder selbst ausbeutet, weil alles Kapital ist – der strahlende Körper, das gepützelte soziale Netz, die Diplome und Preise, der vegane biodynamische Kühlschrank – findet scheinbar eine Rückbesinnung auf den bärtigen Herrn statt. «Die Zeit» behauptete Anfang Jahres gar: «eingefleischte Liberale bewundern seine Prognose-Fähigkeiten». Wird da etwa die Vernunft wieder salonfähig? Aber mal ehrlich, wer liest denn heute noch das meterlange ‹Kapital›? Die Ökonomen, die je etwas davon gehört haben, maulen, es sei zu schwierig. Die gehetzten Studenten im Bologna-System lesen für ihr Referat die Zusammenfassung auf Wikipedia.

Schliesslich sind sich selbst Experten nicht einig, wie dieses Werk überhaupt eingeordnet werden soll: Kritisiert Marx darin die Ökonomie an sich oder war er gar selber Ökonom, auf der Suche nach einer besseren Wirtschaftsform?

Wer war dieser Mann, der so verteufelt wie vergöttert wird? Welche Bedeutung hat er für die heutige Soziologie? Für die Wirtschaft? Den Alltag? Inwiefern ist sein ‹Kapital› heute noch aktuell? Wie könnte eine aktuelle Kapitalismuskritik aussehen?

Wo bleibt eigentlich die Revolution?

Und à propos Prognose: Wo bleibt eigentlich die Revolution der Arbeiter, die Marx beharrlich heraufbeschwor? Gibt es «den Arbeiter» in nächster Zukunft überhaupt noch – oder wird er demnächst komplett durch technologische Errungenschaften ersetzt? Und die Gesellschaft somit zweigeteilt in eine «nutzlose» und eine göttergleiche Klasse, wie der Historiker Harari schreibt?

In dieser Ausgabe kommen Marx-SpezialistInnen zu Wort: Professoren, Studentinnen wie Funken-Aktivisten umkreisen das ‹Kapital›, untersuchen zentrale Begriffe daraus und verbinden sie mit unserer heutigen Zeit. Und ja: «Revolution» kommt auch vor.

 

PS. Das ganze Semester über fürchtete ich mich vor dem Referat, das Farah und ich gegen Ende desselben im Kapital-Seminar halten sollten. Glücklicherweise stellte sich unser Kapitel: das 24. über die «sogenannte usprüngliche Akkumulation», als bildhaft geschrieben und somit – im Gegensatz zu anderen – sogar mir recht verständliches heraus. Und weil Zeit ein kostbares Kapital ist, versuchte ich das Handout zum Referat im Zug zu schreiben. Genauer: Im Regionalnachtzug von Zürich nach Basel. So klickerte ich beim Anrollen schon fröhlich in die Tastatur, als zwei betrunkene Aargauer Prolos sich in die freien Sitze meines Abteils fallen liessen. Ich tippte beflissen weiter, was die beiden – ein Automechaniker und ein Heizungsmonteur – sehr interessant und verrückt fanden. «Was schreibt die wohl! Schreibt die noch oder schon?»

Aaku! Muulu! Zion!

Bald lehnte sich der eine über meinen Bildschirm und las laut: «Aaku! Muulu! Zion! Hm.» Und weil sie nun zu werweissen anfingen, um was für eine Anhäufung (sic!) es sich hier wohl handeln könnte, schlug ich einen Deal vor: Wenn sie mir schon nicht mit konzentriertem Schweigen dienlich sein können, müssen sie wenigstens mit mir besprechen, was Marx mit der sogenannten ursprünglichen Akkumulation gemeint hat. Sie waren sofort gewillt, und so versuchten wir die nächsten 20 Minuten der Strecke Zürich-Lenzburg, uns gegenseitig den Marx verständlich zu machen. Ich brachte Zitate und Definitionen ein, die ich so einfach wie möglich – gar nicht so einfach! – darzulegen versuchte und sie trumpften auf mit real-life-Erkenntnissen aus ihrem Arbeitsleben.

Marx, Leute! Könnt ihr euch auch mal geben!

Das klang dann etwa so: «Also, es gibt Besitzer von Produktionsmitteln, eben von Kapital, und es gibt die anderen, die nichts als ihre Arbeitskraft haben, die sie verkaufen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und dein Chef, also der Produktionsmittelbesitzer, zahlt dir einen Lohn, von dem du leben kannst. Aber du arbeitest viel mehr, als du bezahlt wirst, und das ist dann sein Profit.» – «Genau! Mein Chef könnte seine Millionen nie allein verdienen.» – «Ohne uns wären die gar nichts! Gehen wir in den Streik!» – «Aber ich will ja auch mehr als das Nötigste, ich wünsche mir zum Beispiel unbedingt diesen neuen Chlapf…» – «Das ist es, warum wir keine Revolution machen, wir wollen auch Luxus!» Dann fuhren wir in Lenzburg ein und sie kicherten, während sie überlegten, wo sie noch weitertrinken könnten, bevor sie nachhause zu ihren wütend-wartenden Freundinnen stolperten.
Im Gang drehte sich der Mechaniker nochmal um und rief: «Das war spannend, mässi!» Und an den ganzen Wagen gerichtet: «Marx, Leute! Könnt ihr euch auch mal geben!» In dem Sinne: Gebt euch.

Michelle Steinbeck ist Autorin und Redaktorin der Fabrikzeitung.

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