Es ist im Innern einer dunklen & düsteren Schlucht. An den strömenden Linien ihres Haars erkennen wir dass die Jungfrau
von anderswo gelandet ist ziemlich schnell herabgekommen vor dem Indianerjungen dessen Schrecken deutlich ist:
sein plötzlich verhaltener Schritt
sein Begehren. Der Mond macht das Beste aus der Szene, die Andeutung von Wolf um ihre Augen & ihren Mund. Ist es
Vampir, wie wir ihn kennen? Werwolf
wie in den slawischen Hügeln? Die Landschaft: steinerne Mesas, reitend auf Sand, Wind in endloser Weite sagt fremd.
Welche Kräfte sind hier im Spiel
die wir als «Navaho-Hexerei» bezeichnen?

Die weisse Wolfsfrau tanzt auf den Hügeln
am Rand schwarzer Tafelberge unter dem vollen Mond Yuccastengel zeichnen sich vor dem Himmel ab.
Ich denke, sie singt; ich denke ihr Jagdlied
ist’s, dem wir lauschen.

Die Mesas werden zu Bergen, die Yuccas
zu Ponderosa-Kiefern. Sie fallen ab
zu hochgelegener, flacher Wüste, kahl bis auf Salbei & dennoch singt sie:
sie richtet ihre Nase auf die Sterne, sie füllt ihre Kehle sie steht fest auf dem Boden; Landschaft hinter
ihr verschwimmt
wie eine Bildrolle in Bewegung: der Mond &
sie steh’n still.

Von Diane di Prima, deutsche Übersetzung von Judith Pouget

Diane di Prima war eine US-amerikanische Dichterin (*1934 in Brooklyn, New York City, †2020 in San Francisco, CA) sowie eine der inspirierendsten Stimmen der Beat Generation.
NAVAHO-HEXEREI: Anspielung auf eine Gestalt in der Mythologie der Navaho. Der Skinwalker (einer, der sich eine fremde Haut überzieht) oder Shapeshifter (Gestaltwandler) ist ein Hexer oder abtrünniger Schamane, der sich in ein Tier verwandeln kann, am häufigsten in einen Wolf oder einen Koyoten, oft aber auch in eine Eule. Ein Skinwalker kann direkt töten, er bläst jedoch auch Totenstaub durch die Dachöffnung des Hogans (das Haus der Navaho), worauf die Bewohner erkranken und sterben. In unzähligen Geschichten verwandelt sich ein Verfolger plötzlich in einen Wolf, der unheimliche Fähigkeiten entwickelt, zum Beispiel neben einem fahrenden Auto herzulaufen. In di Primas Gedicht ist es die Loba, die sich in ein Mädchen (eine Jungfau) verwandelt hat und den Indianerjungen in ihren Bann zieht.