Die Explosion des Meinens im Netz bedeutet einen Stresstest für die Demokratie. Wie eine digitale Demokratie funktionieren kann, zeigt eine Initiative aus Taiwan.

Mit dem World Wide Web war einst die Utopie einer herrschaftsfreien Kommunikation verbunden, einer globalen Cyber-Agora, in der Ideen frei flottieren und alle ungehindert ihre Meinungen zu Markte tragen können. Noch 1996 schrieb der Internetpionier John Perry Barlow in seiner «Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace» an die «Regierungen der industriellen Welt, ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl»: «Ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich Euch, Vertreter einer vergangenen Zeit: Lasst uns in Ruhe! Ihr seid bei uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, besitzt Ihr keine Macht mehr.»

Allein, diese Hoffnungen sind zerstoben. Autoritäre Regime zensieren das Netz und errichten elektronische Sperrzäune, Troll-Fabriken verbreiten Fake-News, Hasskommentare vergiften das diskursive Klima, Meinungsroboter torpedieren ganze Wahlkämpfe. Soziale Netzwerke und die zugrunde liegende Algorithmentechnik haben zu einer beispiellosen Polarisierung der Gesellschaft geführt. Noch nie war der Ton so rau wie heute. Das Internet, so der einhellige Befund, ist kaputt und muss repariert werden. Nur wie?

Pro Minute werden eine halbe Million Facebook-Kommentare abgesetzt. Diese Datenmenge kann das politische System kaum verarbeiten.

Das Problem ist nicht nur, dass die bürgerliche Öffentlichkeit das Transparenzgebot gegenüber Black-Box-Algorithmen nicht einfordern kann, sondern auch, dass die Öffnung politischer Foren durch soziale Netzwerke die Demokratie enorm unter Druck setzt. Pro Minute werden eine halbe Million Facebook-Kommentare abgesetzt. Diese Datenmenge kann das politische System kaum verarbeiten. Die Folge: Die Responsivität schwindet, die Systemperformanz leidet. Die sich beschleunigenden Ereignisströme vermitteln den für die Demokratie fatalen Eindruck, dass die Politik ihre Aufgaben nicht erledigt und den Wählerwillen ignoriert, was letztlich auch dem globalen Populismus Vorschub leistet.
Die Politik hat das revolutionäre Potenzial des Internets und seiner Vehikel, der Smartphones, unterschätzt – und das nicht nur, weil alle mit einer Handy-Kamera herumlaufen und Skandale publik machen können. Auch hat die Klickhaftigkeit des Mediums und seiner Bedienelemente die Illusion erzeugt, dass gesellschaftliche Veränderungen per Knopfdruck herbeigeführt werden könnten. Zwischen den Zyklen des Internets und der Demokratie klafft ein eklatantes Missverhältnis. Man kann im Netz sekündlich seine Stimme abgeben, aber nur alle paar Jahre oder Monate (in einem direktdemokratischen System wie der Schweiz) auf dem Wahlzettel. Diese Desynchronisation von Stimmungen und Stimme verfestigt ein Gefühl, dass sich die Welt immer schneller dreht, aber politisch alles stillsteht. Womöglich ist das Phänomen Donald Trump, der mithilfe von Computerbefehlen auf Twitter und dem Gehorsamsprinzip der Followerschaft eine neue Form der Echtzeit-Herrschaft begründet hat, genau auf diese Zeitkrise der Demokratie zurückzuführen.

Der Vorwurf, den einige Internetaktivistinnen und Libertäre der Demokratie machen, ist, dass ihre Institutionen veraltet seien und mit ihrer tradierten Informationstechnologie nicht auf die rasanten Entwicklungen der Technik reagieren könnten. Das Argument ist nicht ganz von der Hand zu weisen: Die Wahlperioden stammen noch aus einer analogen Zeit, in der man morgens die Zeitung las, mittags Radio hörte und abends die Nachrichten im Fernsehen schaute. Dazwischen passierte ausser dem üblichen Politikbetrieb von Gremiensitzungen und Plenardebatten nicht viel. Es gab keine twitternden Präsidenten und keine Hasskommentare im Netz. Natürlich gab es den Hass, der heute öffentlich im Netz überquillt, auch vor 30 oder 50 Jahren schon, er wurde nur eben in «nichtöffentlichen» Sitzungen am Stammtisch ventiliert. Diese Ressentiments, die sich in der Wahl von extremen Parteien artikulierten, waren auch damals ein Problem, aber zumindest keines, auf das binnen weniger Minuten in einem Tweet reagiert werden musste. Sie waren auch nicht in dem Ausmass wahrnehmbar, weil die Filterblasen der Gesellschaft damals noch intakt(er) waren. Das politische System war vor allem durch die grosse Verzögerungszeit der Medien ein recht überschaubarer Raum, in dem in einem geordneten und für alle nachvollziehbaren Verfahren Interessen ausgehandelt wurden.

Durch die Digitalisierung ist der politische Raum überfüllt. Im Sekundentakt prasseln Forderungen auf das politische System ein, die dort wie nicht abgeholte Pakete herumstehen.

Durch die Digitalisierung und damit einhergehende Verkürzung der Latenzzeiten ist dieser politische Raum jedoch überfüllt. Im Sekundentakt prasseln Forderungen auf das politische System ein, die dort wie nicht abgeholte Pakete herumstehen. Ein Parteimitglied setzt einen Tweet ab, der die Reaktion eines Hinterbänklers provoziert, der sonst weder auf dem Parteitag noch in den Abendnachrichten zu Wort gekommen wäre, was wiederum die Ministerin zu einer Stellungnahme nötigt und, angeheizt durch algorithmische Feedbacksystem, eine nicht mehr enden wollende Informationskaskade in Gang setzt. Daten sind die Treiber des politischen Systems, dessen Repräsentanten wie Getriebene agieren. Überall heisst es, die Politik müsse «liefern», als wäre Politik ein Bestellservice à la Amazon, wo die Ware per Knopfdruck an die Haustür geliefert kommt. Die soziale Kompression dampft den (Spiel-)Raum des Politischen immer weiter ein.
Für den israelischen Historiker Yuval Noah Harari ist die Demokratie ein Datenverarbeitungssystem, das im Informationszeitalter gegenüber der Diktatur einen entscheidenden Wettbewerbsnachteil habe: «Da sowohl Menge als auch Geschwindigkeit der Daten zunehmen, könnten altehrwürdige Institutionen wie Wahlen, Parteien und Parlamente obsolet werden – nicht weil sie unmoralisch wären, sondern weil sie Daten nicht effizient genug verarbeiten können», schreibt Harari in seinem 2015 erschienenen Buch ‹Homo Deus›.

Gewiss ist es verkürzend, Demokratien auf ein Datenverarbeitungssystem zu reduzieren, weil sie nicht nur Daten, sondern auch Ideen «verarbeiten» und produzieren. Und natürlich kann Geschwindigkeit kein Kriterium der Legitimität sein, weil demokratische Prozesse Raum und Zeit benötigen. Doch die gigantische Datenmenge stellt die Problemlösungsfähigkeit demokratischer Systeme auf eine Belastungsprobe. Informationstheoretisch gibt es zwei Optionen: Entweder die Datenmenge wird durch Internetsperren oder Account-Löschungen reduziert, was autoritär wäre. Oder man versucht, sie zu bearbeiten.

Unter dem Motto «Reboot Democracy» läuft in Taiwan seit einigen Jahren ein interessantes Demokratieexperiment. Nachdem die Sonnenblumen-Bewegung 2014 gegen das geplante Handelsabkommen mit China demonstrierte, lud die Regierung in Taipeh Aktivistinnen und Hacker der Gruppe «Gov Zero» (unter anderem die spätere Digitalministerin Audrey Tang) ein, ein Online-Konsultationsverfahren zu entwickeln.
Der Grundgedanke der Hacker war, dass periodische stattfindende Wahlen nicht genügend Informationen an die Regierung übermitteln. Die direkte Demokratie in Form von Plebisziten würde die Gesellschaft spalten, das Internet erzeuge zu viel Lärm und statistisches Rauschen, als dass sich daraus Präferenzen ableiten liessen. Also bräuchte es ein neues, webbasiertes Verfahren, das Entscheidungsprozesse und die Rückkopplung an den Souverän optimiert. Die Hacker entwickelten eine Open-Source-Plattform namens vTaiwan, auf der User über Gesetzesinitiativen debattieren können. In einem vierstufigen Prozess werden zunächst Probleme (wie zum Beispiel die Nutzung von Segways auf öffentlichen Strassen) diskutiert und Lösungsvorschläge eingebracht. Im zweiten Verfahrensschritt, der sogenannten «Opinion Stage», werden mithilfe eines Algorithmus die Kommentare der Diskussionsteilnehmenden, die mit Zustimmung, Ablehnung oder Enthaltung reagieren können, geclustert und in sogenannten «Meinungslandschaften» visualisiert. Man sieht also den Standpunkt der User auf einer politischen Landkarte (das dazugehörige Tool pol.is kommt auch bei Willensbildungsprozessen in anderen Organisationen wie etwa Universitäten zum Einsatz). In der dritten Stufe findet eine öffentliche Anhörung der beteiligten Akteure (etwa Lobbyvertreter) statt, die im Netz live gestreamt wird und kommentiert werden kann. Im vierten Schritt, der Ratifikationsphase, werden die Vorschläge schliesslich in eine Gesetzesinitiative gegossen und dem Parlament zugeleitet.
Das Besondere an der Online-Petitionsplattform ist, dass sie nicht nur konsultativen, sondern obligatorischen Charakter hat: Seit 2017 ist jedes Ministerium verpflichtet, einen Bürgerbeteiligungsbeauftragten zu bestellen, der den Gesetzgebungsprozess begleitet. Die Online-Plattform fungiert wie eine Art politische Kammer. Mittlerweile sind 26 nationale Gesetze auf vTaiwan angestossen worden. Als Musterbeispiel gilt die Abstimmung über die Zulassung des Fahrdienstleisters Uber, wo es über die Webkonsultation gelang, einen Konsens zwischen Befürworterinnen und Gegnern herzustellen.

Die niedrige Wahlbeteiligung war schon immer die Achillesferse der Demokratie

Es gab ja schon einige Experimente in Sachen digitaler Demokratie, wie die gescheiterte Crowdsourcing-Verfassung in Island, wo Mitglieder des Verfassungsrats Entwürfe auf einer Webseite posteten, die von der Community kommentiert werden konnten. In Mexico City hat das Stadtparlament 2016 einen crowdgesourcten Verfassungsentwurf ratifiziert. Und in der Schweiz hat der Netzaktivist Daniel Graf im gleichen Jahr die Online-Plattform Wecollect lanciert, die es BürgerInnen ermöglichen soll, sich aktiver in politische Prozesse einzuschalten. Das Konzept der Liquid Democracy als einer deliberativen Demokratieform gilt seit dem Niedergang der Piratenpartei in Deutschland als gescheitert, nicht zuletzt, weil die Beteiligung viel zu gering war und der Leitgedanke des Delegated Voting durch die Delegation von Wertentscheidungen an Algorithmen konterkariert wurde. Bei der Uber-Debatte auf vTaiwan stimmten lediglich 31.000 BürgerInnen ab (was bei 19 Millionen Wahlberechtigten einer Wahlbeteiligung von 0,16 Prozent entspricht).
Die niedrige Wahlbeteiligung war schon immer die Achillesferse der Demokratie, und die mangelnde Input-Legitimation könnte sich auch für das digitale Demokratiemodell als problematisch erweisen, zumal es weniger technologieaffine Wählende oder solche ohne Internet a priori ausschliesst. Die flüssige Demokratie muss sich daher den Vorwurf gefallen lassen, dass sie letztlich das Projekt einer Tech-Elite ist.
Die Diskussionsplattform in Taiwan könnte dennoch zur Blaupause einer digitalen Demokratie werden, weil sie den opaken algorithmischen Prozeduren auf Facebook oder Twitter ein offenes und vor allem transparentes Modell der Interessenaggregation entgegenstellt, das nicht auf maximalen Profit und «user engagement», sondern auf Konsens ausgerichtet ist. Wenn es stimmt, dass Wahlen in demokratischen Systemen nicht mehr als Transmissionsriemen geeignet sind, um politische Präferenzen in Mandate bzw. Mehrheitsverhältnisse zu übersetzen, dann bräuchte es möglicherweise alternative, datengestützte Partizipationsmodi wie eine Debattenplattform, deren Ergebnisse in den politischen Prozess eingespeist werden.

Wir müssen nur Sorge tragen, dass diese Feedbackschleifen nicht auf eine politische Kybernetik bzw. algorithmische Regulierung hinauslaufen, die etwa mit dem Bau von Smart Citys implementiert wird: Das Geschwindigkeitslimit wird automatisch an das Wetter und Verkehrsaufkommen angepasst, und die smarte Mülltonne meldet von selbst, wenn sie voll ist. Dieser Teilautomation von Städten liegt ja auch der Gedanke einer postpolitischen bzw. postideologischen Form des Regierens zugrunde, wo es keine Proteste mehr gibt, sondern bloss noch Störungen. Die Demokratie muss nicht reibungslos wie eine gut geölte Politikmaschine funktionieren. Aber sie muss dort, wo Reibungen entstehen, institutionalisierte Verfahren anbieten.

Adrian Lobe hat in Tübingen, Paris und Heidelberg Politik- und Rechtswissenschaften studiert und arbeitet als freier Journalist. 2016 wurde er für seine Artikel über Datenschutz und Überwachung mit dem Preis des Forschungsnetzwerks Surveillance Studies ausgezeichnet. Für seinen Artikel «Wir haben sehr wohl etwas zu verbergen!» erhielt er 2017 den ersten Journalistenpreis der Stiftung Datenschutz.

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