1. Feministin und Umweltschützerin avant la lettre, lokalpatriotische Metropolitin, engagierte Eigenbrötlerin, sarkastische Karikaturistin und notorisch kratzbürstige Kritikerin – all dies sind Facetten des Phänomens Lydia Eymann.

2. LE – wie Lydia Eymann sich selbst nannte – kam vor 120 Jahren in einem vornehmen Elternhaus zur Welt: Der Vater war Wirt des Hotels «Bären» in Langenthal, die Mutter stammte aus einer Familie wohlhabender «Käsebarone». LE studierte Zeichnung und Malerei in Genf und Paris, besuchte anschliessend auf Drängen der Eltern eine Dekorateursschule in Vevey. Eine Zeitlang leitete sie eine Seidendruckerei in Uster; nach dem Krieg verwaltete sie die geerbten Liegenschaften und betreute die Fischereigewässer, gab sich jedoch zugleich verschiedensten wissenschaftlichen Studien sowie künstlerischen und publizistischen Tätigkeiten hin.

Vor ihrem Tode im Jahr 1972 verfügte sie testamentarisch die Gründung einer Stiftung, welche die hinterlassene Bibliothek öffentlich zugänglich machen sollte. Weil diese immer weniger genutzt wurde, gründete man stattdessen ein Literaturstipendium– 1996 zog Nicole Müller als erste Stipendiatin in die Eymannsche Villa ein. Das Stipendium, dessen Konditionen im deutschsprachigen Raum zu den besten zählen, wurde seither 26 mal vergeben.

3. Als derzeitiger LE-Stipendiat durfte ich das umfangreiche Archivmaterial der Stiftung sichten: Persönliche Dokumente, Korrespondenzen, Zeitungsausschnitte und aufgezeichnete Erinnerungen von Freundinnen und Freunden legen ein zwar lückenhaftes, aber beredtes Zeugnis von Eymanns Leben und Wirken ab. Daneben hat LE ein umfangreiches Werk hinterlassen, das photographische, publizistische und künstlerische Arbeiten umfasst.

Über einen Wissenschaftler, für den sie Aufsätze korrigierte, hiess es: «Sie machte den Professor aus ihm.»

4. In Eymanns künstlerischem Nachlass finden sich zahlreiche Portraits; mit Vorliebe malte LE Frauen jedweden Typs und Alters. Später dienten ihr groteske Karikaturen, in Zeitungen oder als Postkarten publiziert, als scharfe Waffen in den Kämpfen, die sie austrug. Naturdinge hingegen hielt sie lieber photographisch fest. Zugleich näherte sie sich diesen durch exzessive Lektüre. Besonders viel lag ihr an heimatkundlichen Studien zur Geologie, Hydrologie und Archäologie des Oberaargaus. Zu diesen Themengebieten führte sie zahlreiche Korrespondenzen; über einen Wissenschaftler, für den sie Aufsätze korrigierte, hiess es: «Sie machte den Professor aus ihm.»

Die Theorie blieb aber nicht Selbstzweck: Sie setzte sich vehement für Erhaltung von Kulturgütern und Traditionen ein, noch mehr allerdings für den Schutz des Lebensraumes, in erster Linie der Gewässer, was mit ihrer Leidenschaft für das Fischen einherging. Darin war sie rigoros – einmal verklagte sie sogar ihren Onkel, weil er ihre Regeln beim Angeln auf ihrem Fischereigebiet missachtet hatte.

Um für ihre Anliegen einzutreten, publizierte sie unermüdlich – vor allem Spottverse, Leserbriefe und Glossen im «Langenthaler Tagblatt» oder in der regionalen Satirezeitung «Kaktus». Mit ihrem feinen Sinn für Unrecht und ihrem nicht weniger feinen Humor wurde LE immer wieder als kantig, ja störend empfunden und blieb zuweilen auch unverstanden. Diese Qualitäten machten sie jedoch zur geborenen Zeitungspolemikerin und Pressekarikaturistin. Ob es um die Bundessteuer ging oder um einen Mineralfund im Erdöl-Bohrloch von Lotwzil – kein Mensch, keine Einrichtung und kein Gegenstand war vor Eymanns schriftstellerischen Ausfällen gefeit: «Eine alte Jumpfer, unbequem und bissig, / Liess im Tagblatt öfters ihre Galle aus», so beschrieb sie selbst ihre publizistische Tätigkeit.

Einmal erschein ein Mann sogar als LE verkleidet zur Langenthaler Fasnacht.

5. Diese unbequeme «alte Jumpfer» hatte sich seit jeher stereotypen Rollenbildern widersetzt: LE war die jüngste von drei Töchtern, doch ihr Vater wünschte sich einen Knaben, weshalb sie als ein solcher erzogen wurde. Schon im Kindesalter trug sie statt Röcken lieber Hosen und behielt diese Angewohnheit bei; Latzhosen sollten später zu ihrem Markenzeichen werden – einmal erschein ein Mann sogar als LE verkleidet zur Langenthaler Fasnacht. Einen teuren Mädchenhut liess sie absichtlich vom Winde davonwehen, um ihn nicht weiter anziehen zu müssen.

Früh lernte sie – für eine Frau ihrer Zeit ungewöhnlich – «Wägeli» fahren, interessierte sich für Motoren und tüftelte selbst, um das Automobil schneller zu machen. Wenn LE herumfuhr, sprangen ihr die Kinder hinter dem Auto nach und schrien: «Frau am Steuer!» Während des Krieges meldete sie sich, ihrer Fähigkeit gemäss, als Rotkreuzfahrerin für den militärischen Frauen-Hilfsdienst und erlangte den höchsten FHD-Offiziersrang.

LE unternahm ausgiebige Autoreisen quer durch Europa und ging darüber hinaus mit einem Langenthaler Piloten fliegen; gern besuchte sie auch die Schiessbude – Aktivitäten, die eher einem männlichen Lebensstil entsprachen. Die curricularen Unterschiede von Mann und Frau hinterfragte sie auch in ihren bislang unveröffentlichten Notizen, die sie als spitzzüngige Zeitdiagnostikerin und aphoristisch begabte Satirikerin ausweisen. Erstmals können hier Ausschnitte daraus präsentiert werden:

Schweizerbürgerin aus Geldspendegründen

Wenn der Knabe 20 Jahre alt geworden ist, wird er mit grossen Reden ins Bürgerrecht aufgenommen und von den Parteien umarmt. Nun ist er ein Mann. Seine Intelligenz spielt dabei gar keine Rolle. Die Mädchen haben es natürlich leichter. Art. 110 des neuen Strafgesetzbuches vom 21. Dez. 1937 lautet: «1. Frau ist jede weibliche Person, die das sechzehnte Altersjahr zurückgelegt hat.» Da die meisten Mädchen obgenanntes Buch nicht lesen, wissen sie auch gar nicht, wenn sie Frau geworden sind, denn sie werden nicht mit Feiern ins Bürgerrecht aufgenommen, und dass sie trotzdem wie ein Mann Steuern bezahlen dürfen, dies ist eine Ehre. Es kommt aber vor, dass der Staat irgendwie Geld vom Bürger haben möchte, das er nicht mit der Steuerpresse herausdrücken kann. Da sehen wir dann die seltene Sache, dass sich der Staat mit Aufrufen und Reden an die «Schweizerbürgerin» wendet, in der irrigen Annahme, dieselbe habe als legitime Gattin einen Einfluss auf den Verschluss des ehemännlichen Geldbeutels. Meines Wissens ist noch nie eine Frau als «liebe Mitbürgerin» behandelt worden, als aus Geldspendegründen… Der Schule entwachsen, spielt die Frau keine Rolle mehr in der Geschichte, als etwa am Kaffeehaustisch, am Stammtisch, allwo sie nicht persönlich anwesend ist, bis sie 40 Jahre alt ist.

LE war als Dorforiginal selbst die Zielscheibe von Tuscheleien am Stammtisch – vor allem galt sie in Langenthal lange als lesbisch, nicht zuletzt aufgrund ihres burschikosen Auftretens. Dazu passte auch ihre tiefe und raue Stimme – sie war von 16 Jahren an Kettenraucherin. Am Telefon wurde sie manchmal für einen Mann gehalten. Überdies sprach sie – so nahm es ihre Umgebung wahr – besonders «wüescht». Die Gerüchte über ihre Homosexualität stimmten LE jedoch verdriesslich; nach Aussage einer Freundin war sie «einfach neutral». Jedenfalls blieb LE zeitlebens unverheiratet; potentiellen Anwärtern wie auch den in ihre Familie eingeheirateten Männern stand sie skeptisch gegenüber – hatten sie es doch in ihren Augen allein auf das Vermögen der Eymanns abgesehen. Diese Einschätzung entsprach im Übrigen durchaus der Art, wie LE die Ehe als Institution beurteilte:

Eheschliessung = Gründung einer Aktiengesellschaft

Die Ehe beginnt mit einer Photographie des Brautpaars. In den ersten Jahren hängt dieselbe im Salon, nach einigen Jahren im Schlafzimmer, später im Gästezimmer und zuletzt liegt sie unter den Reserveziegeln im Estrich. Wenn auch die Ehe immer mit einer Photo als Brautpaar beginnt, endet sie des öftern mit einer Scheidung. Davon existieren keine Bilder. Vor der Ehe spricht man von Liebe, nach der Ehe von Geld. Bis heute ist der umgekehrte Fall in der Weltgeschichte nie vorgekommen. Eheschliessung = Gründung einer Aktiengesellschaft. Im Verwaltungsrat sitzen Kirche und Staat. Erstere bezieht die Tantièmen in Form von Lämmlein, letzterer in Form von Kanonenfutter und Steuerzahlern. […] Wenn die Ehe geschlossen und rechtsgültig geworden, werden die beiden Partner wieder normal. Und es kommen die Nachkommen. Diese sehen in ihren guten Qualitäten dem finanziell besser gestellten Teil der Verwandtschaft ähnlich, mit ihren Fehlern schlagen sie zurück zu den armen Verwandten. Zu denen, die nicht einmal ein Klavier besitzen. Somit sind die Ehepartner Eltern geworden. Die Nachkommen heissen Kinder. Früher kamen die Knaben in einem Röckchen zur Welt, heute mit einem Fahrrad. Den Mädchen fehlt heute noch das Notwendigste, wenn sie das Licht der Welt erblicken.

LE wurde nicht müde, die Männer an der Macht zu diskreditieren, wo sie es für nötig hielt, ging aber auch mit den Frauen hart ins Gericht.

Wenn LE die Bevorzugung von Männern anprangert, tut sie dies meist im Kontext der Kritik an weiteren sozialen Missständen, an staatlicher Ausbeutung und politischer Trägheit. LE wurde nicht müde, die Männer an der Macht zu diskreditieren, wo sie es für nötig hielt, ging aber auch mit den Frauen hart ins Gericht. Zugleich inkriminierte sie immer wieder deren Entmündigung, und besonders scharf empfand sie die Unbill des fehlenden Frauenstimmrechts, die sie in ihren Aufzeichnungen ebenfalls spöttisch aufs Korn nahm:

Die Elite der Intelligenz und die Leiter des Erfolgs

Das Frauenstimmrecht existiert bei uns nicht. Es würden zu viele «schöne» Männer in den Nationalrat gewählt. Schönheit aber ist nicht immer mit Intelligenz gepaart. Dass aber der heute noch von Männern gewählte Nationalrat die Elite der Intelligenz repräsentiert, wird dadurch bewiesen, dass die Räte während der Versammlung die Zeitung lesen. Die Frau Doktor ist meistens die Gattin eines Doktors. Es gibt deren viele, die phil. jur. vet. med. h.c. etc. Die Frau Doktor hat das Gefühl, zuoberst auf der Leiter des Erfolges zu stehen. Die Frau eines Mannes, der zuoberst auf einer Leiter steht, heisst Frau Wändrohrführer [d.h.: Feuerwehrmann]. Denn wir Demokraten kennen gottlob keine Titelsucht.

Intellektuelle und politische Abhängigkeit von männlichen Autoritäten war ein ärgerliches Hindernis für LE, die unbedingt mitreden wollte, die zu verschiedensten Belangen etwas beizutragen wusste. Wie sehr muss es sie enttäuscht haben, als 1959 die eidgenössische Volksabstimmung über das Frauenwahlrecht scheiterte! Dieser Enttäuschung verlieh LE satirischen Ausdruck in einem Gedicht, das unter dem sprechenden Pseudonym «Suff-Ragazza» publiziert wurde:

Klagelied einer verhinderten Nationalrätin

Oh weh, jetzt isch’s mer abverheit,
Ich hatte mich schon so gefreut
Demnächscht ga Bärn ins Bundeshaus zu hocken.

Die blöden Hächeln schtimmten NEI,
Ich Aermschte bleibe nun dehei
Und lisme weiter – Socken.

Im Ochsenstall wollt ich die Zeitung läsen,
Statt Tag für Tag mit Fäglumpen und Bäsen
Das traute Heim auf Hochglanz aufzuputzen.

Das Taggäld wär mir angenehm gewesen
Und auch die tollen Reisespesen –
Entschädigungen wollt ich gar gern verjutzen.

Jetzt sitz ich hier mit einem Bart
Und werde älter und bejahrt,
Und bei der nächsten Abstimmung hab ich schon Runzeln.

Und wenn in hundert Jahren dann
Doch gleichberechtigt – Frau und Mann,
Dann stimmen andere Pfunzeln.

Nachdem das Frauenstimmrecht endlich eingeführt war, erschien im «Kaktus» ein Foto Lydia Eymanns mit der Beischrift: «Das Jahr 1969 brachte für LE eine grosse Genugtuung. Wir sehen sie hier ihr erstes überzeugtes «Nein» kraftvoll in die Urne versenken.»

Alexander Estis (*1986) lebt als freier Schriftsteller in Aarau. Bislang veröffentlichte er drei Bücher, zuletzt 2021 das «Handwörterbuch der russischen Seele» (Parasitenpresse Köln). Seine Texte erscheinen ausserdem in Zeitungen und Zeitschriften. 2020–2021 ist er Lydia-Eymann-Stipendiat in Langenthal.

Comment is free

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert