Auf SRF lese ich, dass wir SchweizerInnen bereits heute die natürlichen Ressourcen des Planeten aufgebraucht haben. Wir brauchen jährlich 2,8 Erden, Tendenz steigend. Diese Information verursacht starke Kopfschmerzen (zu viel Nachdenken), Bauchweh (zu viele Kopfwehtabletten) und schliesslich ein Magengeschwür (zu viel Wein an den Abenden ohne Kopfweh).

Der Frühling will nicht starten. Ich sage Sebastian, er soll billigen Honig kaufen für in den Tee. 500 Gramm aus «Europa, Mittel- und Südamerika, Asien», im Denner für 2.50 Fr. Den wollte ich nicht. Ich wollte Bio-Billig-Honig-aus-dem-Lidl. Der im Denner ist nicht bio.

Vielleicht sollten wir tatsächlich aufs Land ziehen, denke ich, während ich die Türe zur Naturheil-Praxis von Frau Doktor Gerda Urwald – alias die Stimme von Biel – öffne. Gerda sitzt hinter einem grossen Schreibtisch, lange Haare, FFP2 Maske. Sie war mal Background-Sängerin von Sebastians erster Band. Sie lächelt und ich zücke den Gutschein. Wir reden über das Take-away Angebot in Biel.

«Wie fandest du die Box vorgestern?» Jetzt müsste ich ihr erklären, dass ich den Inhalt auf den Boden fallen lassen habe, als ich merkte, dass meine Tochter hinter einer Taube zur Strasse gelaufen war. Ich fange an zu weinen. Halte Gerda den Gutschein entgegen. Sie zeigt mir die Liege. Ich will mich nicht allzu entblössen. Die Stadt ist klein und alle kennen Gerda. Ich spreche also über meine Magendarm-Problematik. Das macht es nicht besser. Was mache ich hier?

«Versuche, dich zu entspannen.» Der Gutschein verfällt nächste Woche. Geldverschwendung mag ich nicht. Wann hat Sebastian aufgehört mir Blumen und Schmuck zu schenken? «Du solltest vielleicht zum Arzt.» Wie soll ich mich entspannen, wenn du sowas sagst! Gerda steht auf, sie ist kleiner als ich. «Wusstest du, dass wir oft verwechselt werden? Das hat wahrscheinlich mit Sebastian zu tun. Dabei ist es so lange her.» 140 Franken für dieses Gelaber, merci. Ich bin hier, um Informationen zu sammeln. Auf der Spur des Örbaniste.

«Ich habe einen Freund, der vor kurzem eine Krebsdiagnose bekam, deswegen bin ich vorsichtiger geworden. Ernsthaft, geh zum Arzt, und zum Psycholog. Reflexologie kann nicht alles heilen.» Ich hake unverschämt nach: «Der Potscha?»

Sie hört auf, in meinem Patientendossier zu schreiben. Sie schweigt und mustert mich. Ich sitze noch am Rand der Liege, bluttfuss. Stelle mir vor, was sie jetzt sagen könnte: «Komm, wir gehen an den Strand» und dann Party. «Komm wir gehen auf die Gurzelen» und dann Party. «Komm wir gehen zum Schlachthof-Areal» und dann Party. «Komm wir gehen zur Fabrik am Finkenweg» und dann Party.

Sobald der Sommer da ist, kriechen die Partymenschen aus allen Löchern. Plötzlich liegen so viele halbnackte Körper rum oder laufen hinter einer Frisbee her. Wo überwintern die alle? Und woher nehmen sie diese Lebensenergie, ständig Party zu machen, gleichzeitig die Dossiers für Kulturförderung zusammenzustellen und eine Weiterbildung als Hair Whisperer (zweiter Teil der Hair Designer Ausbildung) oder Kinesiologin abzuschliessen? Und nebenbei der Brotjob. Und Kinder. Und Tinder.

Gerda Urwald küsst meine Füsse und ich spüre eine Wärme in mir. Plötzlich scheint alles klarer. Die Sonne geht auf.

Gaia Grandin und Sebastian Steffen haben beide am Literaturinsitut in Biel studiert. Diese Information definiert ihr Leben.

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