Nun also 2020 – «Zwänzgzwänzg», wie man in Züri oft in Kombination mit dem Wort «crazy» hört. 2020 ist, wie jedes Jahr, ein Grund für den feuilletonistischen Jubiläumswahn: Beethoven, Hölderlin, Engels. Und nicht zu vergessen: Vierzig Jahre «Züri brännt». Da ich von zwei einst «Bewegten» die sich in jenem «heissen Sommer» 1980 in Zürich verliebten, gezeugt wurde, bin ich wie die Fabrikzeitung ein Kind der Achtziger und somit Expertin. Als solche werde ich ab sofort jeden Monat Rückschau halten. Ich beginne mit dem Januar 1980 – was ist damals passiert? Womit ich zum ersten Problem komme: Nichts. Das Januarloch gab’s schon damals und wird uns wohl alle überleben. Nur: im Unterschied zu heute lief wirklich nichts. Im Dezember 79 hatten immerhin die «Buschband aus Deutschland» und «Benny & others» im Polyfoyer gespielt. Doch im
Januar 80 war nur Leere, grau und Beton.

«So beginnt wieder ein neuer «hängerabend»: man zieht von bar zu beiz, trifft einige leute, hat wenns hochkommt, ein gutes gespräch und träumt von paris, amsterdam, berlin. Dort ist was los, kann man ausflippen. In züri ist alles flau, immer die gleichen typen […]. ES GIBT TATSÄCHLICH NICHTS.»

So heisst es Anfang 1980 in der Zeitschrift ‹Stilett – Zeitung für Spraydosenhändler und Schwarzfahrer›. Wir finden das jetzt lustig, aber so lustig war es vermutlich nicht. Immerhin gab es in den 80ern noch grosse Worte. In den etablierten Zeitungen wie NZZ und Tagi etwa wurden zum neuen Jahrzehnt weitreichende Gedanken formuliert. Der Pillenknick, so schrieb die NZZ am Silvestertag 79, habe sich vermutlich katastrophal auf die wehrfähigen Jahrgänge im Westen ausgewirkt. Neben dem Energieproblem war da noch die Rede von Hegemonie (die Sowjetunion, dieser Kommunisten-Bastard) und davon, dass das Rüstungspotential 60 Tonnen Sprengstoff pro Kopf der europäischen Bevölkerung beträgt. Und der damalige Stadtpräsident Sigi Widmer – selig – liess im Jahresende-Interview verlauten, es sei ein grosses Problem, dass die junge Generation die Stadt verliesse. Der Grund: sie fänden keine angemessene Wohnung. Die Lösung: Renovation «verlotterter Altstadthäuser in anspruchsvolle Wohnungen» und Überbauung des SBB-Areals. Am Ende des Interviews dann das Eingeständnis, es werde sich dabei nicht um «billige Wohnungen» handeln. Auf Sigi, es lebe der Widerspruch!

Energieproblem, teure Wohnungen, Überalterung – man könnte nun behaupten: «Nichts hat sich geändert!» Doch zum Jahreswechsel 2020 fehlen die grossen Worte in Tagi und NZZ. Sie beschränken sich darauf, die neuesten digitalen Gadgets und Pseudo-Energiemassnahmen anzukündigen, die uns im neuen Jahr erwarten, oder uns weise zu machen, welche Personen heuer wahnsinnig wichtig sind: «Karin Keller-Sutter – Das Jahr der Bewährung»; «Benjamin Netanyahu: Schafft es Bibi noch einmal?»; «Ludwig van Beethoven –Der Mann auf dem Sockel». Man möchte rufen: «Laaangweilig! Her mit den Spraydosen! Her mit dem Sprengstoff!» Aber das wurde ja alles auch schon mal gesagt.

Anja Nora Schulthess schreibt kulturwissenschaftliche Beiträge, Essays und Lyrik. 2017 erschien ihr lyrisches Debüt «worthülsen luftlettern dreck». Im Sommer 2020 erscheint ihr Sachbuch zu den Untergrundzeitungen der Zürcher Achtziger Bewegung im Limmat Verlag.

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