Ich möchte einige Gedanken zu einem sehr sensiblen und unbequemen Thema darlegen, ich kann nicht länger darum herumreden. Ich weiss, dass ich mich in Acht nehmen muss, aber wie sehr? Wenn es um den Krieg in der Ukraine geht, herrscht ein gewisses Schweigen, selbst ich als Schwarze Frau habe mich beinahe an der Heuchelei und dem Schweigen beteiligt, nur um in kein Fettnäpfchen zu treten oder missverstanden zu werden. Die Angst vor Kritik, die Angst zu sagen, dass es unfair ist, wie sich die Nachbar*innen oder sogenannten Brüder der Ukraine verhalten. 

Zunächst einmal möchte ich klarstellen, dass die Ereignisse in der Ukraine ein schmerzhafter Anblick sind, es ist ungerecht und es ist falsch. Es will mir noch immer nicht in den Kopf, warum Russland dort ist, was es in dem Land zu suchen hat, und wie sie es wagen können, dort einfach einzumarschieren und die Kapitulation der Ukraine zu verlangen. Die angerichteten Zerstörungen und Schäden und das Leid und die Todesopfer unter den Ukra-iner*innen sind erschütternd.

Wenn man sieht, wie einem völlig unverschuldet das eigene Land, das Haus, die Arbeit, die Lebensgrundlage genommen wird, wie Kinder ermordet werden, wie Männer gezwungen werden, ihre Liebsten zu verlassen und vielleicht nie mehr zurückkehren – und das alles wegen eines Angreifers – dann fällt es mir schwer zu glauben, dass das, was diesen unschuldigen Menschen widerfährt, real ist. Ich habe Dokumentationen über den Krieg auf dem Balkan gesehen, Ethnie gegen Ethnie, aber ich hätte nie gedacht, dass ich zu meinen Lebzeiten einen Krieg in Europa erleben würde, der die ganze Welt betrifft. Oh nein, nicht in Europa. In Afrika, in Afghanistan, in Palästina, überall sonst; aber nicht in Europa.

Lasst mich nun darauf zu sprechen kommen, warum ich über dieses Thema schreibe, ich kann nicht umhin, meine Wahrheit, meine Gefühle und meine Meinung über das Verhalten der Nachbar*innen der Ukraine auszusprechen. Es beunruhigt mich, zu sehen, wie Frankreich, die UK, die USA und viele andere
Länder sich buchstäblich auf die ukrainische Regierung stürzen, ihr Geld, Liebe und Respekt entgegenbringen und fest zusammenstehen, weil ich solche Sorge und solche Unterstützung noch bei keinem afrikanischen Konflikt gesehen habe. Ich verstehe durchaus, dass die USA und die europäischen Brüder ihr eigenes Territorium schützen müssen und dass der Krieg für sie gleich nebenan ist, ich verstehe, dass diese Länder keinen Dritten Weltkrieg wollen, niemand kann Putin vertrauen, jede Sekunde zählt in dieser Welt von Krieg und Terror, und das ist erschreckend. 

Aber was ist mit den anderen Konflikten, zum Beispiel in Ostafrika (Tigray), wo in zwei Jahren bis zu 600.000 Menschen ihr Leben verloren haben? Zehntausende von Frauen wurden vergewaltigt, die Opfer waren Zeug*innen schockierender Menschenrechtsverletzungen. Der Krieg hat zu Hungersnöten geführt, Tausende von Säuglingen leiden an Unterernährung. 

Stellt euch die Frage: Seid ihr euch dieses Konflikts überhaupt bewusst? Setzt sich die Weltgemeinschaft aktiv für die Beendigung dieses Konflikts ein? Werden die vielen Geflüchteten, die vor diesem Konflikt fliehen, in Europa verstanden und willkommen geheissen? Ich glaube nicht. Amerika und Europa werfen ein paar Cent in einen Korb und sagen ihnen, sie sollten sich damit begnügen, und kehren ihnen wieder den Rücken zu.  

Wie viele Regierungen oder Staatschefs sind in die Ukraine gereist? Wie viele Journalist*innen haben sich dorthin begeben, um uns jeden Tag mit Nachrichten zu versorgen? Das hat man bei einem afrikanischen Konflikt noch nie erlebt. Man hat noch nie erlebt, dass afrikanische Migranten, die aufgrund des Krieges in ihren Ländern am falschen Ort sind, so behandelt werden wie die Ukrainer*innen; sie bekommen freien Eintritt, Geld, Arbeitsplätze, Wohnungen und eine Aufenthaltserlaubnis, um in einem Land ihrer Wahl zu leben. 

Das ist Rassismus. Afrika ist diese Art von Freundlichkeit, Respekt und Brüderlichkeit nicht wert. Sie sind Schwarze, die sich untereinander bekämpfen, sie sind nicht unsere Nachbar*innen. Wir sind Nachbar*innen der USA und Europas, wenn es um unser Öl,
Diamanten, Gold, Eisen, Kupfer, Erdöl, Kakaobohnen und Holz geht, aber nicht ihre Nachbar*innen, wenn wir Hilfe brauchen. Das ist eine grosse Schande.

Von Paula Charles 

www.paula-charles.ch

Die Autorin Paula Charles ist 1956 in London geboren und auf der karibischen Insel St. Lucia sowie in London aufgewachsen. Als Aktivistin für Respekt, Toleranz und Kommunikation in der interkulturellen Diskussion engagiert sie sich seit gut zwei Jahren auch in der Roten Fabrik im Rahmen der Gruppe Auf.Brechen, die es sich zum Ziel gemacht hat, diskriminierende (Gesellschafts- und Veranstaltungs-)Strukturen, Praxen und Normen zu verändern. www.paula-charles.ch

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