Ich habe mich nicht finden können, solange ich mich als Menschen suchte.

Staat, Religion, Gewissen, diese Zwingherrn, machen Mich zum Sklaven, und ihre Freiheit ist Meine Sklaverei.

Nach unsern Strafrechtstheorien, mit deren «zeitgemässer Verbesserung» man sich vergeblich abquält, will man die Menschen für diese oder jene «Unmenschlichkeit» strafen und macht dabei das Alberne dieser Theorien durch ihre Konsequenz besonders deutlich, in dem man die kleinen Diebe hängt und die grossen laufen lässt.

Damit der Staat naturwüchsig sich entfalten könne, legt er an Mich die Schere der «Kultur», er gibt Mir eine ihm, nicht Mir, angemessene Erziehung und Bildung, und lehrt Mich – unsträflich sein, indem Ich meine Eigenheit «opfere».

Hege Ich dagegen Gedanken, welche er nicht approbieren, d.h. zu den seinigen machen kann, so erlaubt er Mir durchaus nicht, sie zu verwerten, sie in den Austausch, den Verkehr zu bringen. Meine Gedanken sind nur frei, wenn sie Mir durch die Gnade des Staats vergönnt sind, d.h. wenn sie Gedanken des Staats sind.

Ja der Staat verfährt überall ungläubig gegen die Individuen, weil er in ihrem Egoismus seinen natürlich Feind erkennt: er verlangt durchweg einen «Ausweis», und wer sich nicht ausweisen kann, der verfällt seiner nachspürenden Inquisition.

Unsittlich ist der bürgerlichen Moral der Industrieritter, die Buhlerin, der Dieb, Räuber und Mörder, der Spieler, der vermögenlose Mann ohne Anstellung, der Leichtsinnige.

extravagante Vagabunden – Sie bilden der Unsteten, Ruhelosen, Veränderlichen, d.h. der Proletarier, und heissen, wenn ihr unsesshaftes Wesen laut werden lassen, «unruhige Köpfe».

Dieser Ruhelose Geist ist der wahre Arbeiter. – Er arbeitete um seinetwillen und zur Befriedigung seines Bedürfnisses. Dass er der Nachwelt nützlich war, nimmt den egoistischen Charakter nicht.

Sehe Ich den Geliebten leiden, so leide Ich mit, und es läßt Mir keine Ruhe, bis Ich Alles versucht habe, ihn zu trösten und aufzuheitern; sehe Ich ihn froh, so werde auch Ich über seine Freude froh.

Nur der egoistische Kampf, der Kampf von Egoisten auf beiden Seiten, bringt alles ins Klare.

Ich halte mich nicht für etwas besonderes, sondern für einzig.

Niemand kann an deiner Statt deine musikalischen Kompositionen anfertigen, deine Malerentwürfe ausführen usw.: Raphaels Arbeiten kann niemand ersetzen. Die letzteren sind Arbeiten eines Einzigen, die nur dieser Einzige zu vollbringen vermag.

Nicht die Isoliertheit oder das Alleinsein ist der ursprüngliche Zustand des Menschen, sondern die Gesellschaft.

Nicht das Denken, sondern meine Gedankenlosigkeit oder Ich, der Undenkbare, Unbegreifliche befreie mich aus der Besessenheit.

Irre nicht länger umher im abgegrasten Profanen, wage den Sprung und stürze hinein durch die Pforten in das Heiligtum selber. Wenn Du das Heilige verzehrst, hast Du’s zum Eigenen gemacht! Verdaue die Hostie und Du bist sie los!

Von jetzt an lautet die Frage, nicht wie man das Leben erwerben, sondern wie man’s vertun, genießen könne, oder nicht wie man das wahre Ich in sich herzustellen, sondern wie man sich aufzulösen, sich auszuleben habe.

Endlich aber muß man überhaupt sich Alles «aus dem Sinn zu schlagen» wissen, schon um – einschlafen zu können.

Von: Michael Hiltbrunner
Nach: Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Leipzig 1844

Michael Hiltbrunner ist Kulturanthropologe und Kunstforschender am Institute for Contemporary Art Research der Zürcher Hochschule der Künste. Er arbeitet auch als freischaffender Kurator und unterrichtet Kunsttheorie und Kulturanalyse.
Der Beitrag «Extravagante Gedankenlosigkeit [von Max Stirner]» von Michael Hiltbrunner wurde 2012 im Zürcher Magazin «der:die:das» (Ausgabe h wie Hammer, S. 69–70) erstmals veröffentlicht.

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