Johnny schaffte nie mehr ganz, von seinen Trips zurückzukehren. Er hatte sich mit einer Filmcrew eingelassen & vergebens versucht, einige Szenen aus dem Skript umzuschreiben. Tagelang verliess er das Zimmer nicht, unsicher, wo er gerade war. Undurchdringliches Schattengewirr nächtlicher Filmaufnahmen umgab ihn, Gegenstände, die er berührte, hinterliessen einen zerebralen Abdruck auf seiner Haut.
Mit der abendlichen Dunkelheit wich das Sichtbare aus seinem Gesichtsfeld & gab ihm seine Bewegungsfreiheit zurück. Er zog sich an & tastete sich durchs Treppenhaus, wo es nach Katzenpisse & ranzigem Pommes-Öl roch. Bevor er die Strasse betrat, verharrte er einen Augenblick. Von irgendwoher kamen verzerrt Pianoklänge, die sich wie Fetzen eines Tangos anhörten. Strahlen eines Scheinwerfers streiften ein halb abgerissenes Plakat, als er den ersten Schritt auf der Strasse machte.

Sofort war er von aufdringlichen Geräuschen umringt. Er hörte Knistern von Zeitungspapier, Worte wurden geschrien oder geflüstert, Weichteile gedrückt, Schritte hallten, Körperteile rieben sich, Türen knarrten, Tassen klirrten & blieben im kalten Licht liegen.
Während sich die Nacht in Fetzen auflöste, winkte er ein Taxi heran. Im Café de France entdeckte er Kiki neben einem schleimigen Dealer; einer von vielen, die dort ständig herumhängen & Karten oder Backgammon spielen. Genau wie in alten Filmen zogen von Zeit zu Zeit Rauchschwaden über ihre verschlagenen Gesichter. Die Kellner glitten mit Blicken von Attentätern & in ungebügelten weissen Kitteln geschmeidig an den Tischen vorüber. Die Männer sassen versteinert da, & Frauen, zerbrechlich wie Wachsfiguren, nippten an buntfarbigen Säften, in denen Perlen wie Diamantsplitter glitzerten.

Zeit zu verschwinden, jetzt wo der Tod die Scheiben zum Klirren brachte. Johnny wusste, dass die Filmleute ihn nicht aus den Augen liessen, auch wenn sie sich nicht zeigten. «Macht ihn fertig, er hat uns den Plot versaut.» Aber er war ihnen zuvorgekommen, hatte vor Tagen die Seiten des Skripts vertauscht. Er konnte sehen, wie ihnen vor Hass die Drinks in den Gläsern gerannen & ihre von Zeitkrankheit entstellten Gesichter erstarrten. 
Das verschaffte ihm einen kurzen Vorsprung. Er nutzte ihn & verschwand mit katzenartigen Schritten in einer dunklen Gasse in Richtung Kaffeebar.

Eddie, der sich meist als Agent ausgab, schwang sich nach einem One-Night-Stand mit einer Informatikerin auf die Feuerleiter & verschwand übers Dach. Er hatte versucht, einen Chip mitgehen zu lassen, war sich aber nicht sicher, ob er den richtigen erwischt hatte. Erst anschliessend wurde ihm klar, dass ihm die Informatikerin was vorgemacht & nie ihren elektronischen Keuschheitsgürtel abgelegt hatte. Um sicherzugehen, hatte sie sich nicht nur auf die Elektronik verlassen & ihm einen Drink mit Skopolamin verpasst. Das Ergebnis war, dass er erst gegen Morgen in einem Eck neben der Rezeption wieder aufwachte.

Das war nicht Eddies erste unterirdische Nacht. Er hatte schon öfter Bodenberührung gehabt, wenn er an eine gewiefte Gegenspielerin geraten war. Einmal war er mitten in einer Nummer in Panik geraten & getürmt, ohne sich um die an ein Messingbett gefesselte Replikantin zu kümmern, die den Lockvogel gespielt hatte. Sie war gerade dabei, seinen Schwanz auf ihrer Zunge zu balancieren, als die Flammen eines infernalischen Sonnenuntergangs wie ein Buschfeuer durchs Zimmer schwappten & Eddie die Luft abschnürten. Kurz vor einem Erstickungsanfall schwebte er in einem Funkenschwall sprudelnder Lava davon…

Sternschnuppen zerrissen die Nacht. Irrlichter erleuchteten blitzlichthaft die Landschaft. Man konnte hören, wie die Geister der Finsternis aus ihren unterirdischen Revieren auszubrechen versuchten. Es hörte sich an wie das Scharren von Pferdehufen. Lautlose Flügelschläge liessen die Luft erzittern. Als der Strom ausfiel, verflüssigten sich die Farben der letzten Strahlen des Sonnenuntergangs. Dann wurde es schlagartig dunkel. Auf dem verdorrten Rasen vor dem Dschungelhotel, in dem Eddie festsass, war es drückend heiss.

Immer wieder kam es nach unerklärlichen Kurzschlüssen zu Stromausfällen & er musste sich an den tapezierten Wänden der Gänge entlangtasten, an denen präparierte Tiere wie Fledermäuse, Spinnen mit Fangarmen, Echsen mit fluoreszierenden Häuten & getrocknete Amphibien hingen. Sie sahen aus wie Trophäen von Jägern auf der Suche nach ausgestorbenen Spezies & unbekannten Giften.

Im Schein einer Öl-Funzel erkannte er Lorita, die sich ihm nur mit einem Patronengürtel & Rucksack bekleidet in den Weg stellte.

«Wo willst du hin? Ich bin marschbereit», verkündete sie.
Ihr Atem streifte ihn wie der Flügelschlag eines Falters.

Er folgte den Glanzlichtern auf ihrer Haut ins Freie. Er hatte keine Ahnung, was sie vorhatte, & in der dampfigen Dunkelheit war sein T-Shirt nach wenigen Schritten durchgeschwitzt. Sie bahnten sich einen Weg durch ein Gestrüpp aus Schlingpflanzen & Luftwurzeln, die von unsichtbaren Ästen hingen. Manchmal leuchtete kurz der Silberstreifen eines Rinnsals auf. Hin & wieder schimmerten Blüten wie bunte Leuchtzeichen im undurchdringlichen Gebüsch. In der feuchten Hitze kam er kaum zu Atem. Einmal blieb Lorita unerwartet stehen, & er prallte gegen ihre schweissüberzogenen Brüste.
«Ayahuasca… schon mal davon gehört?», hauchte sie.

Ein Stück weiter endete der Pfad am Eingang einer kleinen Höhle. Eddie wusste nur, dass Ayahuasca aus Lianen gewonnen & von Einheimischen eingenommen wurde, um sich in Trancezustände zu versetzen. Er vermutete, dass sich Lorita Blätter der Pflanze besorgen wollte. Aber sie schien sich in keiner Weise für Gewächse der Gegend zu interessieren.

Die Höhle ging in einen Durchgang über, der dem Flur eines primitiven Krankenhauses glich. Eddie spürte einen leichten Schwindel, den er auf die bedrückende, leicht modrig angehauchte Luft im Gang zurückführte. Er stolperte über einen Kübel, & an den Wänden standen ungewöhnlich kleine Baststühle. Halb verdeckt von verdorrten Kletterpflanzen entdeckte er einen Spiegel & erkannte sein seltsam verzerrtes Gesicht. Durch Ritzen in der Decke drang trübes Licht.

Dann fiel sein Blick auf Lorita. Ihre Schritte waren in die geschmeidigen Bewegungen einer Tempeltänzerin übergegangen, die sich auf ihren Patronengürtel übertrugen, der ihre Hüften umschlang.
Plötzlich öffnete ein als Schamane verkleideter Arzt die Tür eines Raums, der wie ein Wartezimmer eingerichtet war.

«Doktor von Meier… welche Überraschung», sagte Lorita.

«Du weisst ja… die Arbeit. Hast du einen Patienten mitgebracht?»«Nicht ganz. Eddie & ich haben beschlossen, eine Reise zu unternehmen.»Sie setzten sich & ein Indiojunge brachte Mate-Tee in Schädeltassen. Der Doktor, fiel Eddie auf, trank aus einem Kristallschädel.

Einmal, als der Doktor kurz verschwand, beugte sich Eddie zu Lorita hinüber & fragte, was hier lief. Ein Dschungelcamp oder eine Art Kokainlabor?

Ehe sie antworten konnte, kam der Doktor zurück. Er war ein stämmiger Mann um die 50, dessen leicht vergilbte Haut verriet, dass er lange in den Tropen gelebt hatte.

«Sie fragen sich sicher, was wir hier mitten im Urwald treiben. Schon mal von der Amazonas Gesellschaft gehört? Nun, sie hat vor einiger Zeit die Anlage übernommen, in der wir uns befinden… hat Ihnen das Lorita nicht verraten? Das Gebäude diente ursprünglich als Drogenlabor. Als das zu riskant wurde – genauere Einzelheiten kenne ich nicht – entstand eine Klinik für plastische Chirurgie. Für Leute, verstehen Sie, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Berühmte Leute… Leute mit Geld, die sich davor scheuen, dass es zu einem Vorher-Nachher-Vergleich kommt. Die Boulevardpresse, verstehen Sie? Berühmte brasilianische Ärzte steckten dahinter… Sie können sich denken, dass sich die Eingriffe nicht aufs Gesicht beschränkten… manchen ist der Intimbereich wichtiger als die Physiognomie. Mit der Zeit kamen Geschlechtsanpassungen dazu. In der Chirurgie ist mittlerweile nichts unmöglich, folgen Sie mir?»Lorita schien der Vortrag zu langweilen. «Ich weiss nicht, ob sich Eddie dafür interessiert», warf sie ein.

«Ich schätze ihn als Mann ein, der erfahren will, was in der Welt geschieht», fuhr von Meier fort. «Unsere Kundschaft besteht hauptsächlich aus Männern, die sich als Frauen fühlen. Zumindest wollen sie keine Männer mehr sein… ihr Leben als Mann kommt ihnen abwegig vor, sie wollen ihre Männlichkeit ablegen. Die meisten leben nach wie vor heterosexuell & wenn sie Kinder haben, dann nur, damit sie in die Mutterrolle schlüpfen können. Andere gehen einen Schritt weiter & wollen eine sogenannte Neovagina. Kein besonders komplizierter Eingriff, muss ich sagen. Die Folge ist zwar Unfruchtbarkeit, aber der fehlende Nachwuchs in den… sagen wir entwickelten Ländern… wird reichlich durch die demografische Entwicklung in den Schwellenländern ausgeglichen.»Eddies Gedanken waren abgedriftet. Der Tee, die Hitze & die Rede des Doktors hatten ihn benommen gemacht.

«Hören Sie mir überhaupt zu, junger Mann?», hörte er die Stimme des Arztes. «Spüren Sie nicht auch gelegentlich die Neigung, ihre Männerrolle abzulegen & sich aufs Gendersurfing einzulassen?»«Kann ich nicht sagen. Ich hab noch nie das Verlangen gespürt, mit meinen Gefühlen Roulette zu spielen.»«Aber es geht nicht um Gefühle, junger Mann. Wir haben es hier mit ernsthaften Identitätsproblemen zu tun.»Der Doktor drückte auf einen Knopf & eine Schiebetür öffnete sich. Der Raum dahinter war eingerichtet wie ein Sprechzimmer. Ohne sich weiter um Eddie zu kümmern, setzte sich von Meier an einen Bürotisch, auf dem Geldscheine & ein Plastikhandschuh lagen. Daneben bemerkte Eddie einen mit toten Faltern gefüllten Aschenbecher.

«Ich könnte Sie einem kleinen Gentest unterziehen, wenn Sie wollen», meinte von Meier. Er sagte es, während er in einer Schriftmappe blätterte.

Plötzlich fiel Eddie auf, dass Lorita verschwunden war. Er spürte keine Lust, sich länger in dieser angeblichen Klinik aufzuhalten, in die er nur wegen Lorita geraten war.

«Ich hatte eigentlich vor, Anakondas zu jagen», sagte er, ohne recht zu wissen, wie er darauf kam.

Von Meier schien diese Bemerkung überhört zu haben. Er stand plötzlich auf & seine Gestalt zerbrach vor Eddies Augen. Er sah den Doktor wie durch eine zersplitternde Glasscheibe. Als die Scherben am Boden gelandet waren, hatte sich von Meier in Luft aufgelöst, & Eddie erkannte, dass er wieder in der Eingangshalle des Dschungelhotels stand. Es gab wieder Strom, & in der gedämpften Beleuchtung sah die Einrichtung aus wie in angenehmes, gelbliches Dämmerlicht getaucht. Es war ein Anblick, wie ihn Eddie noch nie gesehen hatte.

Johnnie wachte in einem abgelegenen Hotel in der Nähe von Tataouine auf. Ein paar Klubgäste kehrten ermattet von einem Ausflug in die Wüste zurück, wo sie wie in einem Sandkasten herumgeirrt waren, liessen sich auf Polstersessel fallen & vertieften sich in Zeitungen. Eine Katze schrie, was Johnny an die endlos sich hinziehenden Routen der frühen Fliegerei erinnerte. Damals kam Kiki schneller aus den Klamotten als jede Stripperin. In dem Haus an der Rue Mohammed V. roch es nach Küchenabfällen, nicht selten hatte sich ein Skorpion ins Zimmer verirrt, & jenseits der Stadt schimmerte das Band der Brandung die Küste entlang.

Verblasst die langsam fallenden Sterne, der matte Schein schwankender Strassenleuchten, ein Foto mit einer startenden Maschine an der Wand…

Johnny lag da & dachte an die Taxifahrt auf der anderen Seite des Atlantiks nach einem langen Nachtflug. Leichter Regen, der Asphalt von Glanzlichtern zerkratzt, Leute in Mänteln, Dunstfahnen über Hochhäusern, Brücken & dann der Tunnel unterm Fluss hindurch…
«Was ist, kannst du nicht schlafen?»
Kikis Hand, die ihn zaghaft berührte.

Ein fast schon obszöner Akt von Konzentration. Südliche Morgendämmerung erhob sich im Osten, durchsichtig fast & mit der hypnotischen Anziehungskraft eines Spiegels.

Alte Junkies krepieren nicht, sie verschwinden einfach…
Ein erster Schritt, um zurückzufinden: ohne Entzugserscheinungen den Körper einer Frau betrachten.

Sanft geschwungene Sanddünen & das dumpfe Dröhnen der Stadt, gleichmässig wie das Summen einer Kamera…

Jürgen Ploog, Frankfurt/M, Fort Lauderdale, FL ist Cut-up-Autor.
Zuletzt erschienen, beide Titel mit Collagen des Autors, ‹Der doppelte Horizont› (Engstler, Oberwaldbehrungen 2018) und, auf Englisch, ‹Flesh Film – A Cut-up Novella› (Moloko Print, Pretzien 2018).

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