«Kannst du mir kurz die Flasche reichen?»
«Flasche reichen – die reichen Flaschen – Sachen machen zum Erwachen!»
«Was?»
Kurzes, intensives in die Augen schauen. Tsss. Kopf schütteln und Weglaufen. Ich hatte ganz vergessen, dass Hans jetzt Poetry Slammer ist. Ist aber auch nicht einfach, immer auf dem Laufenden zu sein. Vor ein paar Wochen war sein Ziel noch gewesen, die Schweiz «bewusster» zu machen. Wie das genau gehen sollte, wusste Hans nicht, er war aber der Überzeugung, dass es Hand in Hand mit einer Renaissance der Schweizer Literaturkultur gehen würde.
Hans war mit seinen hehren Plänen nicht allein: Jeder unter 30 schien die Inspiration und Motivation gefunden zu haben, seine tiefsten Träume wahr zu machen. Sie hatten alle dafür gekämpft, ungehindert ihren offensichtlichen Bestimmungen nachgehen zu können. Jetzt mussten sie auch beweisen, dass sie eine solche Bestimmung überhaupt hatten.

Da Hans völlig in sich vertieft war, ein Wort zu finden, welches sich auf «Geistes Offenbarung» reimt, entschied ich mich nach Hause zu gehen. Der Abend war eh schon am Absterben. Die Bar zwar noch voll, der einzige Mitarbeiter überfordert. Manche Menschen haben es einfach nicht verstanden, dass man solche Sachen jetzt nicht mehr machen muss. Man kann ungeniert seinen Leidenschaften folgen! Dafür verdient er aber viel.

Mein Mitbewohner zuhause schlief schon. Er will seine neue Karriere ernst nehmen und auf seinen Idealen aufbauen. Dafür muss er morgens immer früh aufstehen und arbeiten. Einen Namen hat diese Karriere noch nicht, auf jeden Fall etwas mit Performance Art.
Wie immer gönnte ich mir vor dem Schlafen einen Snack. Der Kühlschrank gefüllt mit lokal produzierten Leckereien. Heute auf dem Teller: Bipolare Rindsbratwurst mit artisanem Rosmarin-Hibiskus Senf. Die Rinder waren bipolar, die Wurst ganz normal. Der Senf produziert von einem ehemaligen Tontechnik-Lehrling. Das Label auf der Senfpackung war schlicht, aber schön. Es zeugte von einer Einfachkeit, die nur von professionellen Graphikdesignern angeboten werden kann. Schmecken tats ok. Es hatte sich herausgestellt, dass es gar nicht so einfach ist, guten Senf herzustellen. Macht aber nichts, ist sowieso die letzte Packung, die produziert wurde. Der Hersteller ist jetzt Musiker. Das neue Album hat schon ein Cover. Schlicht und schön.
Ich ging schlafen und hoffte, im Traum eine Aufgabe für morgen zu finden.

Wenn man nicht wusste, wonach man suchen musste, erkannte man nur schwer den Unterschied zu früher. Die Neuerungen waren in ihrer Oberflächlickeit unscheinbar, aber sie waren überall und hatten sich vor allem in der Jugend manifestiert. Die älteren Teilnehmer des Experiments hatten sich nicht sonderlich von der neuer Lebensordnung beeinflussen lassen. Sie mussten ein kleines bisschen mehr Steuern zahlen, vertrauten der Zukunft weniger und waren leicht vorsichtiger. Irgendwie schienen sie beleidigt. Verständlich: Jahrzehnte lang hatten sie mühsam einen Berg erklommen, und als sie fast oben waren, meinte im Tal ein schnöseliger Mittzwanziger, dass es doch einen Tunnel gäbe.
Was blieb ihnen übrig, ausser der Boykottierung des Tunnels?
Die Jugend dagegen marschierte grösstenteils glücklich und abenteuerbereit ins ungewisse Dunkle. Sie produzierten wild drauf los; all die Sachen, die sie als Konsumenten genossen hatten, und von denen sie überzeugt waren, dass sie es besser machen könnten. Dafür öffneten in den jungen Quartieren der Stadt ständig neue Läden. Die meisten Neuigkeiten waren aber online zu erwerben: In einem der drei Lifestyleblogs für jede Strasse, die alle einem grösseren Lifestyleblog fürs Quartier untergeordnet waren, konnte man sich eine Übersicht über all die erfreulichen Neuigkeiten erschaffen. Über die weniger erfreulichen indirekt auch, denn genauso schnell wie neue Produkte vorgestellt wurden, verschwanden auch die älteren.

Der neue Tag brach an und ich hatte mir keine konkrete Aufgabe für ihn zusammenbasteln können. Ich ernannte ihn zu einem weiteren Inspirationstag: Spazieren, Nachdenken und Planen. Kurz nach halb elf, ich wollte gerade gehen, stand mein Mitbewohner auf. Auf dem Weg zur Toilette gab er ein knappes «Morgen» von sich. Irgendwie schaute er jetzt, wo er seine Bestimmung gefunden hatte und ich nicht, auf mich herab. Wie die allermeisten Mitglieder dieser Generation war er davon überzeugt, zu den fünf Prozent wichtigsten und tollsten Menschen der Stadt zu gehören. In einem Land, welches von Soft-Wissenschaftlern bevölkert war, hatte Mathematik an Wichtigkeit verloren.
Übrigens schienen nicht nur die Menschen im Anzug beleidigt. Die Neoliberalen hatten auch nicht so spritzig reagiert, wie man es hätte erwarten können. Immerhin hatten sie ihr langersehntes Ziel erreicht. Ihr Partner im Erfolg und ihre jetztigen Befürworter waren aber nicht ganz das, was sie erwartet hatten. An den Treffen, die dafür geplant worden waren, den Übergang ein wenig glatter zu gestalten, hatten sie oft eine ähnliche Miene wie Harry Truman an der Postdamer Konferenz: Einerseits glücklich über den Sieg gegen die Nazis, anderseits leicht genervt über Sitznachbar und Mitkämpfer Stalin. – Man kann nicht alles haben!
Luxusgüter waren immer noch gefragt, sogar solche, die im Ausland produziert und deshalb teurer waren. Das Klientel für solche war aber neu. Auf dem Nachhauseweg fuhren oft schwarze Mercedes an mir vorbei, am Steuer meistens Müllmänner. Mann, waren die jetzt hochnäsig!

Vom ziellosen Schlendern gelangweilt, beschloss ich zum ersten Mal, an einer Sitzung des Komittees teilzunehmen. Das Experiment war schliesslich was für den Populus und deshalb waren alle Sitzungen der Öffentlichkeit zugänglich. Schon beim Hereinspazieren bemerkte ich die Unruhe: Heute war ein besonderer Tag. Ich hatte darüber bereits in einer der zahlreichen neuen Online-Zeitungen gelesen; die Künstler der Vorgrundeinkommenzeit wollten etwas Wichtiges kundgeben. Zum Kontext hatte ich mich auf einem Blog informiert, es sollte in etwa darum gehen: Die Gleichheit aller Menschen wurde in der Philosophie des Experiments gross geschrieben. Alle Menschen hätten Potential und alle Menschen hätten das Recht, sich in ihrer Arbeit intrinsisch inspirieren zu lassen. Dies war schön und gut, hatte aber unerwartete Konsequenzen gebracht. Viele hatten die Gleichheit der Menschen implizit als Gleichheit aller menschengemachter Produkte verstanden. Kunst war nun nicht mehr etwas, was die Menschen konsumieren wollten. Kunst war etwas, was die Produzenten produzieren wollten.

Im Raum herrschte Trubel. Michael, ein Schriftsteller und prominente Figur der Vorzeit-Künstlergruppe stieg schon zum Podium hinauf. Ich konnte mir einen Platz neben Hans ergattern. Er trug den gleichen Gesichtsausdruck wie letzte Nacht: leicht angeekelt, weil ich sein Werk nicht verstand. Ich sah mich um: Das Publikum war in Fraktionen unterteilt. Die linke Jugend, die sich blind für das Experiment hatte begeistern lassen, war mittig plaziert. Sie wären gerne weiter vorne gewesen, waren dafür aber zu spät aufgestanden. Die Neoliberalen, die gerne weiter weg von der linken Jugend gewesen wären, sassen gleich dahinter. Die philosophischen Vorreiter des Experiments ganz vorne. Irgendwo zwischen vorne und der Mitte waren die Künstler – diejenigen, die schon vor dem Experiment mit intrinsischer Motivation einen Lebensunterhalt verdient hatten. Sie waren anfänglich vom Experiment begeistert gewesen, denn sie alle hatten Zeiten erlebt, in denen ihre Kunst unter den finanziellen Lasten des Alltags gelitten hatte. Viele ehemalige Kellner, Altenpfleger und Nachtportiers waren darunter. Die Müllmänner waren nicht anwesend. Sie hatten zwar finanziell am meisten profitiert, interessierten sich aber nicht für solche Versammlungen. In den kurzen Momenten der Stille im Raum konnte man draussen die Mercedes und BMWs grollen hören.

«Hallo zusammen! Wie schön euch hier zu sehen. Was für eine Reise, die wir schon hinter uns haben!»
Frenetischer Applaus. Neben mir versuchte Hans flüsternd die besten Reime auf Reise zu finden.
Ein Riesenerfolg, sagte Michael. Es gäbe bloss ein paar Sachen, die besprochen werden müssten, um diesen Erfolg noch riesiger und noch erfolgreichen machen zu können.
Der Applaus war nun nicht mehr ganz so laut.
Michael versuchte, dezent und vorsichtig, dem Publikum zu erklären, dass die Stadt ein klein wenig überflutet werde von Produkten, die bei den Konsumenten nicht wirklich ankommen. Der erste Fehler war schon geschehen: Die Menschen in der mittleren Fraktion verstanden sich nur ungern als Konsumenten und fingen an zu buhen.
Michael holte noch einmal mutig aus: «Brauchen wir wirklich so viel Kunst? Vielleicht sollten wir die schlechtere Kunst… aussortieren.»
Über den See aus Gemurmel flog eine aufgeregte Stimme aus dem Publikum: «Alle Kunst ist gleich!»
«Klar», sagte Michael schnell, «alle Kunst ist gleich, nur ist manche Kunst eben ein wenig… gleicher.»

Die letzten Worte waren zu viel; der Tumult verwandelte sich in einer Revolte. Zuerst flogen Worte, dann Fäuste, Stühle. Die Neoliberalen kannten keine Grenzen. Jeder kämpfte für sich – ein gerechtes Gleichgewicht würde ganz natürlich enstehen. Die jungen Linken konnten ihre gesammelten Demo-Erfahrungen nutzen und formten prompt einen kompakten Block, inspiriert von römischen Militär Strategien. Die philosophischen Vorreiter liefen mit wild gestikulierenden Armen umher, als würden sie dadurch ihre Argumente amplifizieren können, sodass alle sie hörten. Am überraschendsten waren die Künstler. Wer hätte gedacht, dass sie so gut kämpfen? Ihre abstrakten Outlets hatten allem Anschein nach die innere Wut nicht stillen können. Ich für meinen Teil war froh, dass die Müllmänner nicht da waren.
Nach einer kurzen Weile war klar, dass die Künstler den Raum dominierten. Die jungen Linken wurden als Block in eine Ecke gedrängt, wo sie sich über unfaire Kampftaktiken beschwerten. Die Neoliberalen mussten im Schwitzkasten zugeben, dass es manchmal ganz schön wäre, Freunde zu haben und im Team zu arbeiten. (Ayn Rand hatte offensichtlich nie selber in einer Revolte kämpfen müssen.) Die philosophischen Vorreiter waren froh, dass jemand die Kontrolle über die Situation übernahm und setzten wieder zur Diskussion an. Nach langem Disput und dank steter Androhung weiterer Gewalt durch die Künstler, kam die Versammlung unter Michaels Leitung zu einem Schluss.

Die Künstler würden ein System einführen, um qualitativ hohe Produkte von minderwertigeren zu unterscheiden. Jeder in der Stadt würde ein paar QualityCoins bekommen, kurz QCs, und wäre damit in der Lage, sich Produkte zu beschaffen. Selbstverständlich, dass die Produkte, die fürs Überleben notwendig waren, vom System ausgeschlossen waren. Menschen, die für ihre Produkte viele QCs bekamen, hatten dann die Möglichkeit, eine stärkere Stimme in der Beurteilung von Qualität zu haben.
Nur ein kleiner Teil des Raums war mit dem Vorschlag zufrieden, die meisten stimmten trotzdem zu. Still mussten sie zugeben, dass die Stadt von intrisischem Dreck überflutet worden war. Hans war optimistisch, dass er im neuen System Erfolg haben würde. Er arbeitete schon jetzt hart daran, einen guten Reim auf QC zu finden.

Amos Wasserbach studierte Politikwissenschaften in Israel. Dort wurde er israelischer Debattiermeister und erreichte das Halbfinale der Weltmeisterschaft. Er hat in verschiedenen Friedensprojekten Argumentations- und Debattier-Seminare geleitet.

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