Jeden Sonntag von 15.30–17 Uhr findet in der Shedhalle im Rahmen der Protozone CONTAMINATION/RESILIENCE ein Science-Fiction-Lesekreis statt. Dieser ist offen für alle, die Texte werden vor Ort zur Verfügung
gestellt. Vor Ort befindet sich mittlerweile auch eine kleine aber feine und stetig wachsende feministische Sci-Fi-Sammlung.

«When I was a child, I first noticed that neither history as I was taught it nor the stories I was told seemed to lead to me. I began to fix them. I have been at it ever since. We need a past that leads to us. Similarly, what we imagine we are working toward does a lot to define what we will consider doable action aimed at producing the future we want and preventing the future we fear.» Marge Piercy, Woman on the Edge of Time, 1976, Vorwort

Durch die aktuelle Krise werden Tendenzen in der Gesellschaft offenbart, die sich schon vor der Pandemie abgezeichnet haben: Wachsende Ungleichheit zwischen Armen und Reichen, zunehmende Schwächung von Gesundheits- und Sozialsystemen, steigende Abhängigkeit vom internationalen Warenverkehr, aggressiver Nationalismus und verstärkte Marginalisierung bestimmter Personengruppen. Die Krise hat Angst zur zentralen Handlungsmotivation erhoben. Ein apokalyptisches Ende scheint leichter vorstellbar als ein unterstützendes Miteinander. – Is it? Really?

Hier lohnt sich ein Blick zu den Expertinnen, wenn es um die Frage von Dystopien und Utopien geht, nämlich in die feministische Science-Fiction Literatur, z.B. von Octavia E. Butler, Marge Piercy und Ursula K. Le Guin und in eco-feministische Ansätze, z.B. von Vandana Shiva, Donna Haraway und Silvia Federici. Die leitende Frage ist: Wie könnte die Welt aussehen, wenn wir uns dazu entscheiden, Dinge radikal anders zu tun? Es geht um Verbindungen, um Beziehungen, um Vernetzung. Denn in den Welten, die die Autorinnen imaginieren, wird die Diversität des Lebens wertgeschätzt und geschützt, weil seine komplexen Verflechtungen und Abhängigkeiten in Familien, Communities und Ökosystemen sichtbar werden. Es geht aber auch um die Wirklichkeit bildende Kraft der Fiktion.

In Octavia Butler’s ‹Parable of the Sower› schreibt eine junge Frau mit Hyperempathie ihre eigenen Wahrheiten nieder, was ihr die Kraft gibt, trotz Tod und Zerstörung eine Community und eine Zukunft aufzubauen. Ihre Aufzeichnungen beginnen 2025 in einem US-Amerika, das von tödlichen Wetterkonditionen geplagt ist und dessen Zivilisation so weit kollabiert ist, dass es schier unmöglich ist, ausserhalb von schützenden Mauern zu überleben. Die alte Ordnung funktioniert nicht mehr, die Menschen hungern nach Veränderung.

«All that you touch you change. All that you change, changes you. The only lasting truth is change. God is change.» Octavia E. Butler, Parable of the Sower, 1993

Marge Piercy’s Roman ‹Woman on the Edge of Time› öffnet zwei mögliche Zukunftsszenarien – ein utopisches und eine dystopisches. Connie Ramos ist in einer aussichtslosen Situation in einer Psychiatrie gefangen, als eine Person aus der Zukunft sie kontaktiert. In einer der beiden Zukünfte haben die Menschen es geschafft, die reiche Diversität des Lebens zu wertschätzen und zu schützen. Davor (in der heutigen Gegenwart!) fand eine 30-jährige Revolution statt, in der die dysfunktionale alte Ordnung endlich erneuert wurde, zum Wohle der Vielen, nicht der Wenigen.

«We’d change it if we didn’t like it, how not? We’re always changing things around.» Marge Piercy, Woman on the Edge of Time, 1976

In Donna Haraways Science-Fiction Skizze ‹Children of Compost› bilden sich Communities, die Wege finden, mit der gegenwärtigen Zerstörung und Ausrottung umzugehen, indem sie sich bewusst symbiotisch mit anderen Spezies verbinden.

«We, human people everywhere, must address intense, systemic urgencies; yet so far, as Kim Stanley Robinson put it in 2312, we are living in times of ‹The Dithering› (in this sf narrative, lasting from 2005 to 2060 – too optimistic?), a ‹state of indecisive agitation›.» Donna Haraway, Staying with the Trouble, 2016

Interessant ist: Der Systemwandel wird in diesen Werken oft herbeigeführt durch eine fundamentale Krise, die dann in die Dystopie, bzw. Utopie führt. Besonders interessant daran: in mehreren Fällen wird dieser Umbruch in den 2020er-Jahren verortet. Könnte die gegenwärtige Krise ein solcher Umbruch sein? Wie kommen wir durch die Krise? Und wie geht es weiter?

Feministische Science Fiction insistiert darauf, dass die Art und Weise, wie wir Dinge tun, eine Erfindung ist und es immer möglich ist, sie neu zu erfinden. Eco-Feministische Texte wiederum insistieren darauf, dass die Utopie schon jetzt Wirklichkeit ist – in der Praxis vieler kleiner, oft von Frauen aufgebauten landwirtschaftlicher Kooperativen und aktivistischer Gruppen.

Ob erfunden oder schon Wirklichkeit: Die Geschichten, die wir uns gerade jetzt, in der Krise, erzählen, sind wirkmächtig. Es macht einen Unterschied, ob wir die Welt in einem Zustand der Konkurrenz sehen, in der wir isolierte Individuen sind, die von Ausbeutung und Dominanz geprägt sind – oder ob wir die Welt als einen lebendigen Organismus begreifen und unsere Existenz darin als Summe unserer Beziehungen. Schliesslich würden wir ohne andere, die sich um uns kümmern, noch nicht mal aufwachsen. Wir sind verbunden miteinander, wir atmen die gleiche Luft, trinken das gleiche Wasser, essen, was auf der gleichen Erde wächst. Was die Krise unmissverständlich sichtbar macht: Wir sind aufeinander angewiesen und abhängig voneinander, auf Gedeih und Verderb.

Von diesen Geschichten lässt sich die gegenwärtige Protozone* CONTAMINATION/RESILIENCE in der Shedhalle inspirieren. Kontamination bedeutet Gefährdung – und Veränderung: Welche Systeme und welche Strukturen sind gerade in Auflösung begriffen? Wie verändern sie sich, und unter welchen Umständen formieren sie sich in der aktuellen Krise neu? Was macht dabei Gemeinschaften und Ökosysteme widerstandsfähig?

CONTAMINATION/RESILIENCE nimmt den Gedanken der Utopie als Ausgangspunkt, einen stetigen (Aus-)Handlungsprozess zu beschreiben. Es geht um Krankheit und Pflege sowie gegenseitige Unterstützung und darum, sich wechselseitig zu verändern und verändern zu lassen. Damit eröffnet sie auch einen Raum, eigene Haltungen und eingeübte Mechanismen im Umgang mit der Krise zu überdenken. Vor diesem Hintergrund bringt die Protozone Praktiken, Theorien, Science-Fiction-Romane und Kunstwerke zusammen, die queere und eco-feministische Ansätze verfolgen und ein neues Denken über die Zukunft anregen.

* Die Shedhalle praktiziert von 2020–2025 das Format der Protozone als erweitertes Ausstellungsformat für prozessbasierte Kunst. Der Begriff ist ebenfalls der Science-Fiction entlehnt – Proto, für «Erstling» und Zone für ein abgeschlossenes System. Ausserdem erinnert der Begriff an Protozoe, einen lebendigen zellulären Organismus.

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