Wohnungsnot, fehlende Freiräume, Verdrängung: Die Frage, wem die Stadt gehört, ist wieder einmal hochaktuell. Im Mai laden Chantal Dubs und Petra Schnakenberg zu ihrer neuen Produktion «Civitas Cunt» ins Fabriktheater ein, um sich gemeinsam in eine feministische Stadtutopie zu träumen. 

Auf der Bühne steht eine winzige Stadt in Vulvaform. Kleine Figuren im Massstab 1:50 spazieren über eine Uferpromenade, gehen in die Disco und experimentieren in der Gemeinschaftsküche. Das Stadtmodell ist Teil der performativen Installation ««Civitas Cunt»», einer feministischen Stadtutopie. Die Theaterschaffenden Chantal Dubs und Petra Schnakenberg wollen auf geschlechtsspezifische Unterschiede im Stadtbild aufmerksam machen. 

Für wen sind Städte gemacht, gebaut, gedacht? Im Interview mit der Fabrikzeitung sprechen die Theaterschaffenden über Klassenfragen, Care Arbeit und Gewalt.

Fabrikzeitung:  In der Stadt kumulieren sich die Krisen unserer Zeit: Die moderne Stadt ist für das Kapital gemacht, für Autos gebaut und für den sogenannten «Referenzmann» gedacht: 1.70 Meter gross, 70 Kilo schwer, weiss, «gesund» und «fit». Diese fiktive Durchschnittsperson wohnt zum Beispiel in der Vorstadt, fährt mit dem Auto zu seinem Bürojob und kommt abends Heim zum Znacht, den seine Frau brav gekocht hat. Welcome to the 50s!

Chantal:  Genau, das Stichwort hier ist Gender-Data-Gap. Wir wissen zum Beispiel alles über die Arbeit auf dem Bau, wie viel Last gehoben werden darf et cetera. Aber in der Pflege, da heben Frauen zum Teil mehr Lasten als Minenarbeiter. Nagelstudios sind ein weiterer Brennpunkt der unregulierten Arbeitsbelastung: Die Beschäftigten atmen täglich gesundheitsschädigende Gifte ein, die Auswirkungen sind kaum erforscht. 

FZ: Das Publikum folgt in «Civitas Cunt» in einem «bebilderten Podcast» drei Protagonistinnen und ihren (Stadt)Biografien, von der Vorstadthölle der 50er-Jahre über die «Misery City» – also known as «unsere Realität» – bis eben hin zur «Civitas Cunt», der Modellstadt im doppelten Sinne. Hier soll alles besser sein. Was heisst das genau? Was beinhaltet eine feministische Stadtutopie eurer
Meinung nach? 

Chantal: Das wäre zum Beispiel eine Stadt, die nicht nur von männlichen Bedürfnissen ausgeht – sowohl in der Architektur als auch in sozialpolitischen Themen. Es gäbe mehr öffentliche Räume, mehr Zusammenleben. Sagen wir: Fluidere Räume, die an unterschiedliche Bedürfnisse und Körper ausgerichtet sind. Menschen sollen sich überall willkommen fühlen und nicht ausgeschlossen werden aufgrund von Geschlecht, Herkunft et cetera. Aber es müssen natürlich nicht alle die ganze Zeit zusammen im Kreis sitzen. Es muss schon auch Rückzugsorte geben.

Petra: Es wäre auch eine Stadt, die mehr auf Kooperation und weniger auf Profit aus ist. Es würde mehr Wertschätzung für Care Arbeit geben, mehr Sicherheit – Stichwort Altersarmut. In der Schweiz zum Beispiel leisten Frauen zwei Drittel der unbezahlten Care Arbeit. Es geht darum, das eigene Leben frei gestalten zu können. 

Chantal: Elternzeit ist ein weiteres Beispiel: Solange nur Frauen länger Zuhause bei den Kindern bleiben und Männer nicht, werden Frauen im Beruf benachteiligt. Es braucht eine gemeinsame, geteilte Verantwortung. Es geht um Kollektivität, um ein Miteinander und gegen die Vereinzelung.

FZ: Das Thema weist über rein städtebauliche Massnahmen hinaus: In unserem Gespräch ist von Bildung die Rede, vom Klima, von Technologie und Medizin. Ihr habt für den Rechercheprozess auch Gespräche mit Passant*innen geführt. Welche Reaktionen sind euch da begegnet? 

Petra: Sobald man aus der Bubble rausgeht, denkt man sich: Oh! Doch, das macht Sinn, dass wir das machen. Manchmal muss man nur das Wort «Gender» aussprechen und schon kommt die Antwort: Das mag ich nicht.

Chantal: Wir sind natürlich keine Städtebauerinnen, wir haben jetzt nicht die Lösung. Aber wir versuchen, Lösungen aufzuzeigen. 

FZ: Als Inspirationen nennt ihr unter anderem «Feminist City» von Leslie Kern und «Unsichtbare Frauen» von Caroline Criado-Perez. Warum habt ihr euch dazu entschieden, euer Stadtmodell in Form einer Vulva zu gestalten? Als Queerfeminist*in frage ich mich sofort: Was ist mit den Menschen, die sich weder in der «Phallus City» noch in der «Civitas Cunt» einordnen?

Chantal: Die Vulva als Symbol von der dritten Welle des Feminismus her gedacht, kann natürlich bestimmte Personen ausschliessen. Unsere Stadt soll aber ein Ort für alle sein und orientiert sich an Bedürfnissen von sowohl Frauen, als auch Lesben, inter, trans oder agender Personen (FLINTA). Aber es auch darum, die Vulva zu enttabuisieren, denn sie ist nach wie vor schambehaftet, gerade wenn es um ältere Menschen geht. Und schliesslich sind wir auch alle aus einer Vulva rausgekommen.

Petra: Wir haben zum Beispiel versucht, ein drittes Geschlecht in der «Civitas Cunt» zu gestalten, eine Art «Arm», ein Raum, in dem das Nichtbinäre Platz findet. 

Chantal: Wir machen keine Vulva-Art, aber es bleibt natürlich ein Knackpunkt. Die Vulvaform ist ein Experiment: Es geht darum, eine Form zu finden, die einschliesst und nicht ausschliesst, die nicht auf ein konsumorientiertes Zentrum hin gebaut ist. 

FZ: Kulturelle Stereotype rund um die Vulva laden natürlich auch zu solchen Interpretationen der Vulva ein. Ihr nennt die Entscheidung für die Vulvaform in eurem Pressedossier auch ein Statement: Die offene Zurschaustellung der Vulva unterwandere gängige Weiblichkeitsvorstellungen. «Das weibliche Geschlecht offenbart dem Betrachter, dem Mann, dem Dämon, den Göttern, dem Patriarchat seine eigene Gewalt.» Die Vulva soll von der konkreten Körperlichkeit, vom Sexobjekt oder der Funktion als Gebärmaschine gelöst werden. Es geht euch also auch um die Umkehrung der Machtverhältnisse. 

Petra: Das Interesse an der Vulva ist auch ein räumliches: In der Mitte ist ein See, den alle gemeinsam nutzen und der niemandem gehört. Das fand ich ein inspirierendes Bild. 

Chantal: Genau, die Idee ist, dass unsere Stadt auch eine postkapitalistische Stadt sein kann, in deren Zentrum Gemeinschaftsräume stehen. 

FZ: Sehr viele Menschen werden aufgrund der Kapitallogik aus der Stadt verdrängt. Die Frage, für wen Städte gebaut werden, hat auch etwas mit strukturellem Rassismus zutun. Auch bei «Civitas Cunt» ist dieses Thema präsent – inhaltlich, aber auch im Produktionsprozess. Dafür habt ihr unter anderem mit der Initiative «Histnoire» zusammengearbeitet, die sich für mehr Sichtbarkeit von Schwarzen Personen in der Schweizer Öffentlichkeit einsetzt. Euer Stück macht klar: Rassistische Strukturen wirken bis ins kleinste Detail. 

Chantal: Ja, es fällt zum Beispiel auf, dass fast alle Modellfiguren, die man kaufen kann, weiss sind. 

Petra:  Alle ausser Tourist*innen oder Männer, die auf dem Bau arbeiten. Das ist alles sehr stereotyp. Modellbau an sich ist auch super männlich dominiert. Es hat wahnsinnig viel Spass gemacht, das zu brechen.

FZ: Euer Theaterstück ist hochaktuell, denn Züri brännt wieder: In den letzten Wochen häuften sich Demonstrationen gegen Verdrängung, in der Zentralwäscherei beschäftigte sich kürzlich eine Ausstellung mit Mietrecht und Wohnungsnot. Welches Potential habt ihr im Theater gesehen, um dieses Thema zu behandeln?

Chantal: Theater ist ein politischer Raum, hier kann man viel verhandeln und viele Leute erreichen. Dazu kommt unsere Form: Was kann ein Modell auf der Bühne als Akteur eines Abends leisten?

Petra: Das Bühnenbildmodell macht auch eine unsichtbare Arbeit im Theater sichtbar, Zuschauer*innen sehen diese Form der Bühnenbildarbeit normalerweise gar nicht. Ich habe eine ganze Stadt gebaut. Im menschlichen Massstab wäre das gar nicht möglich. Das ist auch das coole am Theater: Man kann über die eigentlichen Dimensionen hinausdenken. 

FZ: Im abgeschlossenen Raum, im Modell liegt also auch eine Chance, die Dinge grösser zu denken. Wo wird denn in der Praxis bereits grösser gedacht? Gibt es schon konkrete, städteplanerische Stadtutopien? 

Petra:  Wien, wo ich wohne, ist zum Beispiel sehr fort-
schrittlich. Die Bewohner*innen werden in den städte-
baulichen Prozess eingebunden. Und selbst im ersten Bezirk gibt es Gemeindebauten und damit soziale Durchmischung.

Chantal:  Zürich kann sich auf jeden Fall noch optimieren. 

Petra: Aber ich liebe zum Beispiel die Rote Fabrik wirklich sehr. Hier gibt’s alles, ein super Restaurant, eine Kindertagesstätte, Ateliers, Proberäume, Clubs… Es ist eine Stadtutopie im Kleinen.  

Von Laura Leupi

Comment is free

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert