BEWEGUNG
die Ausdruck, besser: die Eruption jahrelang falsch
gelebten oder nicht gelebten oder abgemurksten
Lebens, jahrelang angestauten Schweinemuts, ein
altes Wort für Schwermut, unserer Zeit ist

Reto Hänny schrieb seine Tirade ‹Freiheit für Grönland – schmelzt das Packeis› 1980, mitten im Spätsommer der Zürcher Jugendunruhen. Reto Hänny war als Sympathisant auf den Strassen Zürichs dabei und hat für seine Erlebnisse und Eindrücke literarische Formen gefunden. So ist etwa ‹Zürich, Anfang September› ein Bericht über seine Verhaftung; ein Text, der ihm später den Vorwurf eingebracht hat, seine Verhaftung «in bereichernder Absicht vorsätzlich provoziert» zu haben, um aus dem Vorfall Kapital zu schlagen. «Literatur, wie man sieht, kann also nicht ganz ungefährlich sein – für den Autor», bemerkte Hänny dazu rund zwanzig Jahre später in einer E-Mail an einen Herausgeber. Damit weist er auf ein subversives Moment der Literatur hin: Literatur als Störung, als reale durch die gesellschaftliche Ordnung wahrgenommene Bedrohung.

Wie ‹Zürich, Anfang September› muss auch ‹Freiheit für Grönland – schmelzt das Packeis› im Kontext der «Bewegig» gelesen werden. So ist bereits der Titel ein Zitat der «Bewegig»: «Eisbrecher» nannte sich die bekannteste Untergrundzeitung der Bewegung, wobei der Feind, das «Packeis», als Metapher galt für den Staat, das starre, zubetonierte, kalte Zürich mit seinen Banken und Bürokomplexen und das bürgerliche, enge, unlustvolle Leben überhaupt. Gefordert wurde «freie Sicht aufs Mittelmeer». Versprach eine Aktion Erfolg, hiess es: «Das Packeis schmilzt».

Der Text thematisiert, bei aller Rätselhaftigkeit, die ihm aneignet, klar die Ereignisse des «heissen Sommers» von 1980. Er thematisiert die Gewalt der Polizei und des Staats, die Berichterstattung durch die Medien, den Opernhauskrawall, das Scheitern des Dialogs. Augenfällig sind die Parolen der Jugendbewegung, derer sich der Text bedient, und die er buchstäblich wie Banner, Barrikaden, «Transparente gegen die Angst» zwischen die Zeilen schiebt:

WIR HABEN GRUND GENUG ZUM WEINEN, AUCH OHNE EUER
TRÄNENGAS, WIR HABEN NICHTS ZU VERLIEREN, AUSSER
UNSERE ANGST; KEINE MACHT FÜR NIEMAND; MACHT AUS
DIESEM STAAT DRUM GURKENSALAT; FREIHEIT FÜR GRÖNLAND,
NIEDER MIT DEM PACKEIS.

Stellenweise greift der Text gar die Rhetorik der Bewegten auf, eine Rhetorik, die sich in linken Kreisen in den letzten vierzig Jahren kaum geändert hat. So etwa dort, wo es um die Akquirierung von Polizeiaspiranten geht für «Tätigkeiten […], bei denen immer der Mensch im Vordergrund stehe: ja, um ihn mit Knüppel und Tränengas und einem Hartgummigeschosshagel umzulegen», oder um die Ausnutzung von Arbeitskräften: «die schickt man, wenn der Frost einbricht, als Gastarbeiter zurück in ihre Heimat». Es sind jedoch Sätze, die seltsam quer stehen zum Rest des Texts, die in ihrer klaren Satzstruktur und Botschaft geradezu lapidar daherkommen. Dennoch scheint das sprechende Ich sich klar auf der Seite der Bewegten zu situieren, wenn es opponiert: gegen den herrschenden Diskurs der Politik, den Akademismus, die Behörden, die Polizei, die Medien (die NZZ!): die «grauen Eminenzen», die «friedlichen Bürger», «die Fluchtgeldhorter und Kanonenfabrikanten und Waffenschieber bluttriefender Operettengenerale») und insbesondere gegen deren Sprache – eine «Fremdsprache, auch wenn es meine Muttersprache sein soll».

Diese Positionierung ist jedoch durchaus ambivalent. Darauf verweist nicht nur, aber auch das damalige Verhältnis des Autors zur Jugendbewegung. Als 33-Jähriger war Reto Hänny 1980 älter als die meisten «Bewegten»; als Intellektueller fremd unter den vielen Lehrlingen und Personen mit einem Dünkel gegen die «Uniperversität»; zugleich Teil und Nichtteil der Bewegung; ein Aussenseiter unter Aussenseitern. Diese Gleichzeitigkeit von Drinnen- und Draussensein, von Betroffenheit und Distanz lassen sich am Text festmachen – eine Ambivalenz, die auch auf Verhältnis und Differenz von literarischer Revolte und Revolte der Strassenkämpfe hinweist. In einer Anspielung auf Brechts Gedicht «Schlechte Zeit für Lyrik» und Reinhard Lettaus «Zerstreutes Hinschaun – Vom Schreiben über Vorgänge in direkter Nähe oder in der Entfernung von Schreibtischen», reflektiert der Text die Frage nach dem Sinn des literarischen Schreibens in Zeiten der Unruhe.

Die Zürcher «Bewegig» war Ausdruck eines Leidens unter der gegebenen Ordnung, der gegebenen Sprache, der vorgegebenen Identitäten und Lebensweisen, der vordefinierten Räume. Reto Hänny bringt diese gegebene symbolische und gesellschaftliche Ordnung und das Leiden darunter zur Sprache. Ordnung wird mit Gewalt assoziert, Gewalt am Andern, an Abweichung und Widerspruch. Der Text thematisiert das Nichtgehörtwerden der Begehren der Jugend, für das die «somnambula», die «drinnen» im «notdürftig verbrettert und vernagelten» Opernhaus gespielt wird, Metapher ist. Revolte der Strasse und Revolte der Literatur stehen also insofern in Zusammenhang, als es um den Bruch mit der gegebenen Ordnung geht, für die der «gut[e] Geschmack», die «Sprachhandhabung der Behörden» und die «domestiziert[e] gepanzert[e] gefängnisordnungsgittrige Sprache» paradigmatisch stehen. Und sie unterscheiden sich insofern, als es sich dabei um andere Ordnungen, Regeln, Strukturen handelt – wenn auch die einen (etwa die Grenzen literarischer Gattungen, die Grenzen zwischen Kunst und Leben, Kanon, Kommerz und Subkultur, syntaktische und logische Strukturen) Ausdruck oder Symptom der anderen (gesellschaftliche Ordnung, politisch-ökonomische Strukturen) sind.

Freiheit für Grönland entzieht sich einer klaren Einordung (Gedicht? Pamphlet? Bericht? Brief?). Der Text bejaht gerade die Überwindung solcher Grenzen und führt diese buchstäblich vor. So stehen die nicht ausgewiesenen Zitate der «literarischen Väter» (Aischylos, Hölderlin, Büchner, Hohl, Achternbusch) als GLEICHE neben den Parolen der Bewegung. Die literarischen Zitate werden dem Text durch deren Grossschreibung buchstäblich zu «Transparenten gegen die Angst», zu Bannern und Barrikaden – «[i]n einem Klima, in dem einem das Reden vergehen kann, abgewöhnt werden möchte». Die Parolen der «Bewegig» dagegen werden zu «Gedichte[n] in einer kalten Zeit» erklärt. Kanon neben Subkultur. Kunst neben Nicht-Kunst und Pseudokunst («perfide Kunst des Sperrdrucks und der Gänsefüsschen», «Kunst der Berichterstattung»), Literatur neben Propaganda. Als Zeitdokument realer politischer Ereignisse und als ein über diese Ereignisse hinausweisendes künstlerisches Produkt ist er zugleich Ausdruck einer Verschränkung von Kunst und Leben.

Der Text spricht vom Sprengen der «als Herrschaft oder Herrschaftsstruktur empfundenen Grammatik» und tut es dort, wo er davon spricht: Visuell werden Textblöcke, «TÜRME AUS WORTEN» die im Kontext unbedingt mit den «Potenzinsignien», den «aus der Hardau wie verkohlte Schwurfinger gen Himmel protzenden Hochhäusern» der zubetonierten Stadt Zürich und allgemeiner der vertikalen, hierarchisch geprägten Gesellschaftsstruktur assoziert werden müssen, aufgesprengt. Buchstäblich schafft sich der Text Plätze und Freiräume (stellenweise sind halbe Seiten leer). Rhythmisch wird der monotone Ton einer sich durch Einschübe unendlich lang hinziehender Wortkette (dort wo es um die Monotonie der akademischen Sprache und des akademischen Lebens geht), durch ein Stakkato unterbrochen.

Entscheidend ist, dass die gegebene Sprache und die Strukturen, die hier als «einengend und also beengen[d]» beklagt werden «von innen und von unten her» aufgebrochen werden wollen. Es geht nicht darum, die Sprache zu verlieren oder zu verstummen – womit der Text stellenweise zu kokettieren scheint, wenn er davon spricht, dass «einem das Reden vergehen» kann, oder das «Dichten». Der ganze Text ist Ausdruck eines Begehrens danach eine neue Sprache zu suchen, einer Sprache, die es vermag, sich «Luft für den lang zugeschnürten Atem zu verschaffen». Der Text zeichnet sich durch eine ambivalente, eine affirmativ-kritische Haltung aus und dies sowohl bezüglich der eigenen, paradoxen Position, des Sprechenden, des literarischen Schreibens als auch bezüglich der Bewegung auf der Strasse.

BEWEGUNG,
die mit Sprache, zumal mit literarischer, vordergründig wenig zu
tun hat, aus sichrer Distanz, tränengas- und
hartgummigeschosshagelsichrer Distanz, allein, in wohliger
Wärme, hinter Schreibtisch und vorgeschobenem Alter, hinter
einem Wall fadenscheiniger Jährchen verschanzt, von idyllischem
Abhang aus über Feld Wald & Wiesen und über ein paar den Blick
kaum ankratzenden Blocks hinweg betrachtet überhaupt nichts;
hintergründig, aus unmittelbarer Nähe besehen, am eignen Leibe
mit eigenem Leibe erfahren – die schiere Unwirklichkeit des
Erblickten, so zynisch grotesk gegen alles Leben gerichtet kommts
einem vor, gibt Wirklichkeit dem Blick –, aus eigenster Getroffen- &
Betroffenheit erfahren dafür plötzlich umso mehr

Eine Textstelle, die nicht nur von einem gleichzeitigen Bewusstsein über die Grenzen des eigenen, distanzierten Wirkens hinter dem Schreibtisch, zeugt, sondern auch von den Möglichkeiten des «betroffenen» Schreibens. Darüber hinaus lässt es die Textstelle aufgrund ihrer syntaktischen Ambivalenz auch zu, das Prädikat «betrachtet überhaupt nichts» auf die «BEWEGUNG» auf der Strasse zu beziehen. Ein erster Hinweis zumindest auf eine mögliche Blindheit der politischen Aktionen auf der Strasse. Neben jener Anspielung sind die ganzen Reflexionen über Gewalt im Text widersprüchlich.

GELD UND GEWALT, GEWALT UND GELD,
DARAN KANN MAN SICH FREUEN;
GERECHTIGKEIT UND UNGERECHTIGKEIT,
DAS SIND NUR LUMPEREIEN

«GEGEN GEWALT», ein selbst schon doppeldeutiges Demo-Transparent der «Bewegig», wird hier abermals buchstäblich als «Transparent gegen die Angst» zwischen den Satz geschoben. «GEGEN GEWALT» beinhaltet sowohl Kritik an der Gewalt durch den Staat, die herrschende Ordnung, als auch Affirmation von Gewalt als legitime Antwort auf diese Gewalt. Jedoch scheint sich der Text auch der begrenzten Kraft von Gegengewalt bewusst zu sein: «…Gewalt weckt wieder Gewalt, eine unendliche Kette von Rache und Widerrache…» und die Gegengewalt, die «Sprache der Pflastersteine», wurde «kapiert», jedoch «längst nicht verstanden».

«Kapiert» und «nicht verstanden», ein Paradox, das vielleicht auf das grundlegende Missverständnis, das grundlegende Sich-nicht-Verstehen hinweist zwischen denen, die Teil der gesellschaftlichen Ordnung sind, und denen, die ihren «Anteil» als «Anteillose» behaupten. Darauf, dass hier zwar, rein technisch, dieselbe Sprache gesprochen wird, dass die Jugend durch ihren Lärm auf den Strassen akustisch gehört, mit ihren Demonstrationen und Strassenaktionen gar nicht übersehen werden kann («kapiert») und gleichzeitig in ihrer Sprache nicht verstanden wird, weil diese in der gegebenen Ordnung nicht vorkommt, gar nicht vorgesehen ist.

Wenn auch das sprechende Ich die «Sprache der Pflastersteine» als «einzige einigen noch gebliebene Sprache, eine verständlich adäquate» bejaht, ist sie ihm «letztlich ohn-mächtige Antwort». Noch das Wort «ohn-mächtig» zeugt von der Ambivalenz, durch die sich der Text auszeichnet. Die Aufsplittung des Worts in seine Wortteile durch Bindestrich macht deutlich, dass im Wort «ohnmächtig» (paradigmatisch für die Grenzen von Gegengewalt, die Grenzen der Politik der Strasse, der «Bewegig) auch das Wort «mächtig» (paradigmatisch für die subversive Kraft der Politik) steckt. Reto Hännys Text ist Ausdruck eines Bewusstseins für die Notwendigkeit von Politik/Revolte (sei es diejenige der Strasse oder diejenige der Literatur), aber auch für deren Grenzen, deren Antagonismen und in diesem Sinne Ausdruck einer affirmativen (Selbst-)Kritik.

Anja Nora Schulthess schreibt kulturwissenschaftliche Beiträge, Essays und Lyrik. 2017 erschien ihr lyrisches Debüt «worthülsen luftlettern dreck». Im Sommer 2020 erscheint ihr Sachbuch zu den Untergrundzeitungen der Zürcher Achtziger Bewegung im Limmat Verlag.
Literatur: Reto Hänny: Freiheit für Grönland – schmelzt das Packeis. In: Zürich, Anfang September. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1981. Reto Hänny: Vorspiel oder Wut hat eine lange Geschichte. In: Zürich, Anfang September.Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1981

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