Über den luftigen, sanften Hügeln des Freshkills Park im Südwesten von Staten Island erhebt sich wie eine stachelige Krone die Skyline von Manhattan. Das ehrgeizige neue Projekt der Stadt ist dreimal so gross wie der weltberühmte Central Park und wurde vom gleichen Architekten entworfen. Aber lassen Sie sich nicht von den idyllischen Hügeln und den verschlungenen Pfaden täuschen – der schöne Rasen ist in Wirklichkeit eine dicke Schicht Make-Up zur Abdeckung der schändlichsten Vergangenheit von Staten Island. 

  Diese einst gesunden Feuchtgebiete, die von sauberen Bächen gespeist wurden und eine Vielzahl von Tier- und Pflanzenarten beherbergten, inspirierten holländische Siedler, die im 17. Jahrhundert auf der Insel anlegten, zu dem Namen «Fresh Kills» – «Süsswasser». Doch im 20. Jahrhundert, als New York horizontal wie vertikal wuchs, zeigten sich die sandigen Fundamente des Gebietes als nicht für den Wohnungsbau geeignet.

Fresh Kills gehörte zu Robert Moses’ skrupellosen Plänen für den Bau der «Hauptstadt der Welt». 1948 beschloss der Baumeister – auch genannt der Meister der Zerstörung – des modernen New York City, das Gebiet vorübergehend als Mülldeponie zu nutzen. Er hoffte, dass das Aufeinanderschichten von immer mehr Lagen festen Abfalls in ein paar Jahren ein zuverlässiges Bau-Fundament bilden würden. Aber die Jahre vergingen, und der Müll hörte nicht auf zu kommen. Im Gegenteil.

Mitte der 1950er Jahre, als New York immer dichter wurde, wuchs Fresh Kills zur grössten Mülldeponie der Welt. Auf ihrem Höhepunkt schluckten ihre 12 Quadratkilometer Land fast 30.000 Tonnen Abfall pro Tag. Der Geruch war unerträglich. Die Anwohnenden mussten die Fenster den ganzen Sommer über geschlossen halten, während der Müll in der Hitze schmorte. Der Himmel war übersät von weissen, fliegenden Punkten, einer apokalyptischen Mischung aus geblähten Plastiktüten und kreischenden Möwen. Massenhaft Möwen. 

Jahre vergingen und Deponien in anderen Teilen der Stadt schlossen ihre Türen, während die peinlich stinkenden Hügel von Staten Island immer grösser wurden. Vor den Fenstern der Anwohnenden raubten die sich türmenden Müllberge jegliche Aussicht.  Sie begannen, sich über die Dämpfe und Chemikalien, die sie einatmeten, Sorgen zu machen. Berichte tauchten auf über Menschen, die durch die Verschmutzung bereits krank geworden waren. 

In einem Dokumentarfilm über Fresh Kills sagt Meagan Deveraux, die Mitte der 1990er Jahre im Büro des Präsidenten von Staten Island gearbeitet hatte: «Ich erinnere mich, dass bei uns fast wöchentlich Anrufe eingingen von Eltern, die sagten: Mein Kind hat Asthma, mein Kind hat Krebs, ist das wegen der Deponie?».

Anfang der 1990er Jahre war Fresh Kills noch die einzige Müllhalde, die für den Abfall von ganz New York übrig blieb. Von der Navy verwaltete Müllkähne gondelten friedlich den East River runter, die schweren Bäuche voller Abfall aus der Bronx, aus Queens, Manhattan und Brooklyn, bis sie sich im fünften Bezirk erleichterten: im «vergessenen Bezirk». 

«Niemand auf der 5th Avenue wusste, wo ihr Müll hinkam, und es war ihnen auch egal, solange er wegkam», sagt Brian J. Laline, Herausgeber der Zeitung Staten Island Advance, in der Dokumentation. «Aus den Augen, aus dem Sinn.» Der Film zeigt sehr anschaulich, wie New York Staten Island immer gesehen und behandelt hat – als seine Müllhalde.  

Der Bezirkspräsident von Staten Island in den 1990er Jahren, Guy Molinari, machte die Schliessung der Fresh-Kills-Deponie zu einer Priorität in seiner Amtszeit. «Ich hatte immer das Gefühl, dass wir den Menschen in den anderen Bezirken völlig egal waren», sagte Molinari. Mit Hilfe der örtlichen Organisatoren verhandelte er mit dem neuen Bürgermeister Rudy Giuliani über Umweltgesetze. Das Gesetz, das ein Enddatum für die Schliessung von Fresh Kills festlegt, wurde 1996 unterzeichnet.

Das letzte Müllschiff war mit einem feierlichen rot-weiss-blauen Band geschmückt und legte am 22. März 2001 auf Fresh Kills an. Die EinwohnerInnen von Staten Island sahen diesen Tag als das Ende einer Ära – endlich würden sie den verdienten Neuanfang bekommen. Die Stadt legte los mit ihren Plänen, Freshkills in einen idyllischen Park zu verwandeln – angefangen mit dem Rebranding des Namens in ein Wort – und lancierte einen Wettbewerb für Landschaftsarchitekturbüros. 

Doch Fresh Kills blieb nur für kurze Zeit ruhig. Am 11. September 2001 stürzten zwei Flugzeuge in die Twin Towers von Manhattan, fast 3000 Menschen wurden getötet. An diesem Tag veränderte sich die Welt. Und Fresh Kills konnte zu dieser letzten Lieferung nicht nein sagen.

Die Stadt wusste nicht, wohin sie die 1,8 Millionen Tonnen Trümmer des Terroranschlags bringen sollte. Fresh Kills schien in Anbetracht der überwältigenden Umstände die einzig nennenswerte Option. Aber dieser Auftrag war so ganz anders als jene, die Fresh Kills bis anhin ausgeführt hatte: Unter den Betonresten, dem verbogenen Metall, dem pulverisierten Glas und dem verbrannten Holz befanden sich auch menschliche Überreste. 

Lange, durchsichtige Plastikzelte wurden aufgestellt. Darin stellten sich Freiwillige aus dem ganzen Land entlang eines fabrikähnlichen Laufbandes auf, um in weissen Schutzanzügen, mit Atemmasken und blauen Baustellenhelmen die Tonnen von Trümmern sorgfältig auf jede Spur menschlicher Überreste zu untersuchen.

Nur 60 Prozent der Opfer von 9/11 wurden bisher identifiziert. Seit Beginn der ersten DNA-Tests im Jahr 2001 haben die ForensikerInnen alle neuen Trends verfolgt. Die Fortschritte der DNA-Technologie sollte es ihnen ermöglichen, den Prozentsatz der identifizierten Opfer zu erhöhen, eins nach dem anderen. In einem Brief an die Familien schrieb der leitende Gerichtsmediziner von New York City, Charles Hirsch, im Jahr 2006: «Ich kann nicht sagen, wie viele es werden und wie lange es dauern wird. Aber meine Kollegen und ich versichern Ihnen: Wir werden niemals aufhören.»

Heute formen die Trümmer des Angriffs die Hügel Nr. 1 und 9 des Freshkills Park. Für die Familien einiger Opfer sind die Hügel eine ständige Erinnerung an den respektlosen Umgang der Stadt mit den Opfern. 

«Eine Deponie ist kein Ort, um die Toten zu ehren. Und doch sind die Familien derer, die beim grössten Angriff auf amerikanischen Boden getötet wurden, gezwungen, ihren Respekt auf der grössten Mülldeponie unserer Nation zu erweisen», schrieben Anthony Gardner und Diane Horning in einer Ausgabe der New York Daily News im Jahr 2008. Gardners Bruder Harvey und Hornings Sohn Matthew wurden am 11. September getötet.   

Heute fliegen keine Plastiktüten und Möwen mehr in der Luft, dafür Habichte, Rotschwanzbussarde, Schnepfen – sogar ein paar waghalsige Adler. Die grünen, künstlich angelegten Wiesen wirken ganz natürlich, aber darunter winden sich ausgeklügelte Systeme. Daran erinnern die glänzenden Rohre, die aus dem Boden ragen, um giftiges Sickerwasser und Gase zu behandeln. Eine Herkulesaufgabe, die Schande eines halben Jahrhunderts in etwas Gutes zu verwandeln.   

Die BesucherInnen wandern seelenruhig auf den Pfaden oder ziehen mit Kajaks durch die glatten Gewässer. Währenddessen türmen sich unter ihren Füssen Schichten um Schichten schmerzhafter Geschichte auf Fresh Kills. Sie alle werden den unvermeidlichen Prozess des Zerfalls durchlaufen. Manche Gerüche sind bloss hartnäckiger als andere. 

Aus dem Englischen von Michelle Steinbeck

Marta Martinez is a multimedia journalist living in New York. Her work has appeared on CNN, VICE, The Atlantic, The New Humanitarian, Le Monde and El País, among other media. She often reports on gender, displacement, post-conflict and inequality, mostly in Latin America and Sub-Saharan Africa.

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