Um ein jährliches Familienfest und den Geburtstag von Grossmutter Agnes gebührend zu feiern, gründet die Familie Lobmaier einen Verein zu ihren Ehren. Besonders Hermann, der Mann von Agnes, findet in dem Familienverein eine neue Lebensaufgabe.
Alles beginnt am 16. April 1987 in einem Restaurant in Rapperswil. Die Lobmaiers versammeln sich um den 70. Geburtstag von Agnes zu feiern. Sie essen und trinken gut, die Gespräche laufen auf Hochtouren, und die Kinder, die sich nach dem Dessert zu langweilen beginnen, spielen unter dem Tisch. Dann ist es Zeit für die Geschenke. Dieses Jahr hatte Werner eine tolle Geschenkidee, eine Idee, die ihm vor ein paar Tagen im Flugzeug eingefallen war, als er von einer Reise in Brasilien zurückkehrte. Warum schenken wir Mutter nicht einen Verein? Einen echten Verein, mit jährlichen Generalversammlungen, Protokollen, einem Vorstand mit einem Präsidenten, Beisitzer, Schatzmeister und Aktuar. So könnte man Mutter ein regelmässiges und perfekt organisiertes Familienfest garantieren.
Schliesslich weiss Werner, dass seine Mutter Agnes in ihrem Leben schon viele Geschenke bekommen hat, echte Geschenke. Hermann, Agnes Mann, verwöhnt seine Frau gerne, und so fragt sich die Familie jedes Jahr, was man Agnes, die schon alles hat, überhaupt noch schenken könnte. Deshalb war die ganze Familie auch sofort von Werners Vorschlag begeistert. Seine Geschwister Isabel, Andy und Thomas finden es eine schöne Idee. Besonders gut gefällt diese Idee aber Hermann. Er ist ein fröhlicher und geselliger Mensch, der sich über jede Gelegenheit freut, sein Glas zu erheben. Als Familienoberhaupt und als aktives Mitglied des Sängerbundes Oberrieden hat er auch schon die nötige Erfahrung, um bei diesem neuen Abenteuer am Ruder zu stehen. Alle machen es also wie Hermann, die Familie steht auf, erhebt die Gläser und stösst an, um die Geburt des Agnesvereins zu feiern. Selbst die Kinder setzen sich wieder an den Tisch, um mit ihren Eltern und Grosseltern zu zelebrieren. Dann machen die Lobmaiers bei der ersten Gründungsversammlung das, was man in der Schweiz tun muss, um einen Verein offiziell zu gründen: Sie genehmigen die Statuten und bestimmen den Vorstand.

In den ersten Jahren finden die Agnesfeste und Generalversammlungen im Schützenhaus in Oberrieden statt. Dann beginnt Hermann damit, längere Treffen zu organisieren. So finden mehrtägige Familienreisen ins Tessin, nach Graubünden oder manchmal auch ins Ausland statt: nach Verona oder Orange in Südfrankreich zum Beispiel. Am gegebenen Treffpunkt steigen alle Vereinsmitglieder in den für diesen Anlass gemieteten Oberrieder-Car ein und fragen sich, wohin es diesmal geht. Es sind immer Fahrten ins Blaue. Da zu dieser Zeit der Euro noch nicht eingeführt wurde und viele Länder ihre eigenen Währungen haben, drückt Hermann bei jeder Fahrt allen aus der Familie ein kleines Säckli mit Taschengeld in die Hand.
Einmal fährt der Car nach Österreich, eine Reise zu den Wurzeln der Familie Lobmaier. Für Hermann ist sein österreichisches Erbe wichtig, und er will wissen, woher der Familienname kommt. Die Reise und Forschungsergebnisse zeigen, dass Hermanns Vater ein uneheliches Kind war, deren Mutter während der Geburt gestorben sein soll. Ihr Name war Lobmaier, seiner war Zaglmair. Man kann also sagen, dass die eigentliche Lobmaier-Familie mit Hermanns Vater beginnt. Nach dem ersten Weltkrieg zieht dieser nach Zürich und arbeitet dort als Vertreter, als er Hermanns Mutter kennenlernte, die einen kleinen Kolonialwarenladen an der Plattenstrasse besass. Sie verliebten sich inmitten von Kaffee und Kakao. Dann wir Hermann 1920 in Zürich geboren und wächst in einer bürgerlichen Kaufmannsfamilie auf. Obwohl er ein Einzelkind ist, wird er ein echter Familienmensch. So beauftragte Hermann einmal sogar eine Firma um herauszufinden, wie viele Lobmaiers es auf der Welt gibt. Es sind etwa 100 in Deutschland, 100 in Österreich, einige in Kanada und 21 in der Schweiz, von denen 20 Mitglieder des Agnesverein sind. Der verbliebene Lobmaier ist ein deutscher Physiker, der als „Procurement Officer“ am Cern in Genf arbeitet. Der Verein kontaktierte ihn und schlug ihm vor, Mitglied zu werden, leider war dieser nicht interessiert.

Mit dem Tod von Hermann und Agnes hören die grossen Reisen auf. Daraufhin bleiben die Generalversammlungen wieder in der Schweiz. Die Familie verbringt Wochenenden im Tessin, in Graubünden, auf der Halbinsel Au, oder wie in den letzten Jahren bei Werners Bruder, Andy, auf Bellen in Samstagern.
Bei der Generalversammlung des Agnesvereins ist die Traktandenliste sehr klassisch: Appell, Wahl des Stimmenzählers, Protokoll der letzten GV, Kassabericht, Wahlen, Neumitglieder, Jahresprogramm, Organisation der nächsten GV und Varia. Unter Varia findet man zum Beispiel Punkte wie: „Thomas schlägt vor, dass man ein E-Piano kauft, um an den GVs und anderen Anlässen des Agnesvereins gemeinsam singen zu können. Damit hätte man etwas, das portabel ist und man wäre nicht auf das Vorhandensein eines Klaviers am Ort der GV angewiesen“ oder „Digitalisierung der Filme von Grofi: Vorstand macht sich schlau bis zum nächsten Mal“ oder „Ben verkündet, dass Mary wieder schwanger ist. Applaus.“ Bei jeder Generalversammlung werden Jubiläen gefeiert und eine Gedenkkerze für diejenigen, die nicht mehr da sind, angezündet. Seit fünf Jahren werden im Anschluss an die Versammlung auch die obligaten Gruppenföteli von Hansruedi, Isabels Mann, gemacht.

Und doch gibt es eine Besonderheit auf der Traktandenliste des Agnesvereins, nämlich das „Lotto für Brasilien“. Die Lobmaiers träumen schon lange von einer gemeinsamen Brasilien­reise. Aber da die jährlichen Vereinsbeiträge nicht ausreichen, eine solche Reise für alle zu finanzieren, kam die Idee auf, Lotto zu spielen. Die Familie hegt die Hoffnung, dass eines der Mitglieder den Jackpot gewinnt und der eventuelle Gewinn die Kosten für die grosse Reise decken würde. Manuel, der Sohn von Thomas, äusserte vor längeren Zeit die Kritik, dass es unlogisch sei, Geld für das Lottospielen auszugeben, wenn viele verschuldet seien und gar nicht die Mittel hätten, auf einen
hypothetischen Gewinn zu spekulieren. Seine Kritik wurde jedoch ignoriert und der Verein spielte weiterhin Lotto. Bis heute hat leider keiner der Lobmaiers gewonnen.
Die Brasilienreise fand trotzdem irgendwann statt, allerdings unter anderen Umständen als zuvor gedacht. Am 28. April 2018 heirate Tobias, einer von Andys Söhnen, seine Jeanny. Die Feier fand in Poços de Caldas statt, eine Brasilianische Kleinstadt in der Nähe von São Paulo. Isabel erinnert sich gut an den surrealen Moment, als sich fast die ganze Familie am Tag der Hochzeit vor dem kleinen Hotel versammelte.
Aber wieso eigentlich Brasilien? Isabel lebte in den 1970er Jahren in Salvador de Bahia, wo sie in der Entwicklungshilfe tätig war. Dort adoptierte sie Miriam und auch ihre beiden anderen Kinder, Marilene und Pascal, wurden in Brasilien geboren. Zur selben Zeit lernte ihr Bruder Werner, der aus beruflichen Gründen in São Paulo lebte, dort seine Frau Lou kennen. Später heiratete neben Tobias auch Werners Sohn Robert eine Brasilianerin. Und als Hermann die Firma beauftragt hatte, herauszufinden, wie viele Lobmaiers es auf der Welt gäbe, waren alle erstaunt, dass in Brasilien etwa 200 Menschen mit diesem Nachnamen lebten, also mehr als in Österreich.

Heute spielen sogar die Urenkel Lotto. Louen und Arlin, die Söhne von Janek und Enkel von Andy, haben in den letzten Jahr einige Male gespielt. „Die gute Nachricht ist – laut Protokoll der 34. Generalversammlung – dass sie noch nicht alles verspielt haben.“ Beide haben Spass daran und würden gerne weiterspielen. Es wird mit 15 Ja-Stimmen, einer Enthaltung und einer Gegenstimme entschieden, dass die beide Jungen die Lotto-Aufgabe weiterführen dürfen. Im Protokoll steht auch, dass zu diesem Zeitpunkt der Sitzung nicht mehr alle „in Hör- und Sichtweite“ sind, weshalb die Abstimmungsresultate nicht mit dem Total der anwesenden Mitglieder übereinstimmen.
Die vierte Generation beginnt ihre Stimme zu erheben und Verantwortungen zu übernehmen. Neben den beiden Lottospielern, zeigt auch Lais, die Tochter von Miriam und Enkelin von Isabel, Interesse für eine aktivere Mitgliederrolle. Sie hat vor ein paar Jahren den Wunsch geäussert, in der Zukunft als Vorstandsmitglied mitzuwirken. In der Zwischenzeit könnte sie sich vorstellen ein Praktikum im Vorstand zu absolvieren.

Eine Frage, die sich bereits in den ersten Jahren des Vereins stellte, ist die des Aufnahmeverfahrens. Wer kann ein offizielles Vereinsmitglied werden, wenn die Familie wächst? Und wie wird das Verfahren gehandhabt? Wenn die ersten Hochzeiten bekannt gegeben, die neuen Freunde und Freundinnen vorgestellt und dieselben Freunde und Freundinnen ersetzt werden, muss man sich auf eine Vorgehensweise einigen.
Es wird beschlossen, dass die offizielle Verbindung einer Ehe nicht ausreicht, um in Agnesverein aufgenommen zu werden. Wie es das Aufnahmeprozedere vorsieht, werden die Kandidaten und Kandidatinnen vom Vorstand kontaktiert und über dessen Motivation und Willen befragt. Meistens freuen sich die Vorgeschlagenen über ihre Aufnahme. Diese werden dann während der nächsten Generalversammlung vorgestellt. Es folgt eine Abstimmung unter Ausschluss der Kandidaten und Kandidatinnen. Darauf wird mit dem Lobmaier-Trinkspruch angestossen: „Ohohoho Looooobmaier!“. Auch Geoff, der englische Mann von Marilene und Schwiegersohn von Isabel, hat den für die Aufnahme erforderlichen Deutschtest bestanden, der aus drei Sätzen besteht.
Eine weitere Frage, über die entschieden werden musste, ist das Mindestalter des Stimm- und Wahlrechts innerhalb des Vereins. Nach langen Diskussionen wird dieses auf acht Jahre festgelegt. Es wird auch ein Jahresbeitrag in Höhe von 50 Franken eingeführt. Dieser Betrag ist hauptsächlich dazu da um das Essen bei der nächsten Versammlung zu bezahlen. Und da Kinder in der Regel weniger essen als Erwachsene, wird der Beitrag für Jugendliche zwischen 8 und 15 Jahren auf 20 Franken festgesetzt.

Und selbst wenn im Verein alles ordentlich geplant und geregelt ist, kann es zu Streitigkeiten kommen. Aber eine Familie ganz ohne Konflikte sei ja bekanntlich keine richtige Familie. Neben den jährlichen hitzigen Verhandlungen über den Termin für die nächste Generalversammlung, löste vor allem die Beschaffung des Kampfflugzeuges F/A-18 der Schweizer Armee in den 1990ern eine ernsthafte Vereinskrise aus. An diese Zeit erinnern sich alle lebhaft. Einige Enkelkinder demonstrierten 1992 für die „Stop F/A-18“ Initiative der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee in Bern. Als Hermann davon erfuhr, rastete er aus. Schliesslich ist Hermann ein bürgerlicher Geschäftsmann, ein Traditionalist. Männer leisten Militärdienst und gehen sonntags in die Kirche, findet Hermann. Er hätte in den 1980er-Jahren wohl auch der Aussage des Bundesrats, dass die Schweiz keine Armee habe, sondern selbst eine Armee sei, zugestimmt. Hermann war Patriarch und Anführer, mit grossen moralischen Erwartungen an den Rest der Familie. Gleichzeitig war er aber auch ein Mann, der von allen für seine Lebensfreude und seinen ungebremsten Enthusiasmus respektiert und bewundert wurde.

Isabel gibt zu, dass sie nach dem Tod der Grosseltern eine gewisse Befreiung empfunden habe. Es gab keine Zwänge mehr. Es wurde alles entspannter. Mittlerweile seien alle Mitglieder des Vereins mehr oder weniger gleicher politischen Gesinnung, eher links, und haben auch eine ähnliche Lebenshaltung. Abgesehen von den hitzigen Diskussionen zu logistischen und organisatorischen Vereinsfragen, seien die Lobmaiers heute eine ziemlich harmonische Familie.
Ob der Verein zu dieser Harmonisierung der Familie beigetragen hat, oder ob er überhaupt erst in dieser bereits harmonischen Familienbande funktionieren konnte, ist nicht geklärt. Anita, Werners Tochter, die im „Human Resources“ arbeitet und seit 2014 Vereinspräsidentin ist, rät einer bereits dysfunktionalen Familie allerdings keinen Verein zu familientherapeutischen Zwecken zu gründen. Sie findet, dass ein Verein zwar ein gutes Übungsfeld sei, um gemeinsam zu lernen, miteinander zu reden und Entscheidungen auf demokratischer Basis zu treffen, grundlegende inhaltliche Differenzen könne aber auch er nicht aus der Welt schaffen.
Im Fall der Familie Lobmaier könnte es sein, dass bereits zuvor vorhandene, unterschwellige Probleme innerhalb der Familie im Verein zum Vorschein kamen. Obwohl nicht von ihm initiiert, blühte Hermann im Agnesverein richtig auf. Hier fand er eine ihm bereits vertraute Form um mit seinen Mitmenschen in Kontakt zu treten, gemeinschaftliche Aktionen und Veranstaltungen zu organisieren und seine Funktion als Familienoberhaupt wahrzunehmen. Weiter versuchte er durch den Verein seiner geliebten Agnes etwas zurückzugeben. Doch Agnes fühlte sich dem Verein nicht in gleichem Masse wie ihr Gatte verbunden. Zwar hatte sie an den Generalversammlungen jeweils das Bingo organisiert, samt Gabentisch für die Gewinner, oder an grösseren Anlässen aufwändige Ansteckbroschen für alle Mitglieder gebastelt, im Vorstand des Vereins war Agnes aber nie auch wenn sie zeitlebens als namensgebende Stammmutter waltete.

In Manuels Erinnerungen reagierte seine Grossmutter nicht immer wohlwollen auf ihren Mann. Sie nervte sie sich oft über sein Gebaren, innerhalb und ausserhalb des Vereins. Gerade in seinen vielen Geschenken und dem patronhaften Verhalten erkannte man einen gewissen Egozentrismus, welchem die Grossmutter ihrerseits mit allerlei Sticheleien begegnete. Nach Aussage von Manuel gab es zwischen den beiden ein fühlbares Ungleichgewicht, welches in ihrer unterschiedlichen Herkunft gründete. Im Gegensatz zu Hermann, der als Einzelkind in einer bürgerlichen Familie aufgewachsen war, wuchs Agnes mit zwölf Geschwistern in einer einfachen Grossfamilie auf. Nach dem Tod von Agnes Grosseltern – Bauern aus dem Aargau – wurden die Kinder in verschiedene Teile der Schweiz verteilt. Agnes Vater landete in einer Sippe in Zürich. Dieser sozioökonomische Unterschied blieb tagtäglich spürbar und lag wie ein Schatten über der Beziehung der Grosseltern.
Gleichzeitig sei auch das nur die halbe Wahrheit. Innerhalb der Familie vermutet man, dass Agnes insgeheim einer vergangenen Liebe nachtrauerte. Eine Liebe, welche mit dem zweiten Weltkrieg abrupt endete. Hermann konnte den Platz seines Vorgängers im Herzen von Agnes nie ganz einnehmen. Da halfen auch keine Geschenke oder Vereinsausflüge. Unter den Mitgliedern ist auf jeden Fall nicht klar, ob dieses Ungleichgewicht der Grosseltern den Verein heute noch prägt. Sicher ist, dass der Geist der beiden immer noch den Verein begleitet.
Die Frage, ob sie sich als Vereinsmenschen bezeichnen würden, verneinen die meisten Mitglieder des Agnesvereins. Dasselbe konnte man von Hermann nicht behaupten. Er widmete sein Leben Agnes, seiner Familie. Hermann Lobmaier war im Agnesverein zu Hause.

Noha Mokhtar ist Künstlerin und macht zurzeit ein PhD in Sozial­anthropologie an der Harvard Universität, in den USA.

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