In der Haftanstalt La Brenaz bei Genf, wo ich als stellvertretender Direktor arbeite, läuft seit Anfang 2018 ein Pilotprojekt zur Ausbildung der Insassen. Die Ergebnisse können sich sehen lassen: So verfügen wir nach gut einem Jahr über zwei bereits als Lehrbetriebe anerkannte Werkstätten sowie zwei weitere, die sich zurzeit im Validierungsprozess befinden. Zwei Haftbeamte sind für die Lehrausbildung zuständig, einer davon ist Experte für Bundesprüfungen. Sechs kantonale Zertifikate konnten schon ausgestellt werden; fünf Insassen befinden sich noch in einer gefängnisinternen Lehrausbildung.

Dieses Ausbildungsprojekt ist im Zuge eines kantonalen Vorhabens der kantonalen Haftanstalt Genf (Office cantonal de la détention Genève) zur Verbesserung der Wiedereingliederung, sowie der Förderung von Programmen zur sogenannten «désistance» – dem nachhaltigen Kriminalitäts-Ausstieg – entstanden. Sie fussen auf der Erkenntnis, dass die bestehenden Betreuungs- und Wiedereingliederungsmethoden zu allgemein und zu wenig auf den einzelnen Häftling ausgelegt waren. Man sollte den Insassen nicht mehr nur «im System», sondern in dessen Mittelpunkt sehen. Im Vordergrund dieses mehrschichtigen Vorhabens steht die Individualisierung der Ausbildungs- und Lehrberufsprogramme. Diese sollen für jeden Insassen eine bestmög­liche Vorbereitung zur Wiedereingliederung ermöglichen, indem ihre Zeit im Gefängnis nicht isoliert, sondern in Verbindung mit ihrem späteren Leben in Freiheit betrachtet wird.

Warum macht es Sinn, Menschen in Haft eine Ausbildung anzubieten?

Über das wirkliche Leben in Gefängnissen – abseits der Fiktion von Literatur und Kino – erfährt die Aussenwelt nicht viel. Nur wenige wissen, dass alle in einer Straf­anstalt festgehaltene Personen in der Schweiz gesetzlich zur Arbeit verpflichtet sind. Der Gesetzgeber sieht die Arbeitstätigkeit dabei nicht als Disziplinierungsmassnahme oder als Zeitvertrieb, sondern als sinnvolle Vorbereitung für das spätere Leben ausserhalb des Gefängnisses. Die inhaftierten Personen sollten die Möglich­keit erhalten, sich nicht «nur» zu beschäftigen, sondern neue Fähigkeiten für ihr Berufsleben zu erlangen. Dies passiert in unterschiedlichen, auf die Insassen zugeschnittene Werkstätten. In La Brenaz stehen insgesamt sechzehn davon zur Verfügung, einige sind auch am Wochenende zugänglich. Wir haben eine Bäckerei, eine Tischlerei, eine Küche, eine polymechanische Werkstatt und eine Töpferei in welchen flexibel auf den internen Tagesbedarf eingegangen werden kann. Zusätzlich gibt es Werkstätten zur Evaluation der individuellen Fähigkeiten. Die Auswahl erfolgt nach dem Prinzip der progressiven Inhaftierung, welches dem Verurteilten ermöglicht, sich während seiner gesamten Laufbahn entsprech­end seiner Fähigkeiten, seiner Wünsche und den gebotenen Möglichkeiten zu entwickeln. Natürlich spielen die Bedürfnisse der Institution hier auch eine Rolle; in erster Linie versucht man aber dem Insassen die besten Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten.

In psychologischer Hinsicht ist der Erwerb von neuen Fähigkeiten für die Selbstreflexion und Selbstbewertung von grosser Wichtigkeit. Es ermöglicht dem Insassen, sich selbst in einer anderen, besseren Zukunft zu sehen. Victor Hugo’s bekannte Feststellung «ouvrez des écoles, vous fermerez des prisons» («Macht Schulen auf und ihr schliesst Gefängnisse») ist auch heute noch relevant. Mehr als 50 Prozent der in Genf inhaftierten Personen haben ihre Pflichtschule nicht abgeschlossen. Natürlich greift es zu kurz, die begangenen Straftaten nur damit zu erklären, dass sie zu diesem Zeitpunkt in ihrem Leben keine andere Wahl hatten.
Gleichzeitig glaube ich, dass Ausbildung ein wichtiger Faktor ist, welcher das Abrutschen in die Kriminalität verhindern kann.

Erste Schritte auf einem steinigen Weg

Das neue Werkstätten-System ist modular aufgebaut. Es entspricht dem aktuellen Ausbildungstrend, der sich zunehmend auf den Erwerb von zielgerichtetem, prägnantem, präzisem und relevantem Know-how für den Einzelnen konzentriert. Es ermöglicht den kontinuierlichen Erwerb von Fähigkeiten auf jeder Stufe und begünstigt eine wertvolle und gleichzeitig bewertbare Entwicklung im Laufe des Kurses. Auf diese Weise können Menschen auf Erfolgen aufbauen und sich positiv entwickeln. Für viele von ihnen ist ein Zertifikat ein erster Erfolg auf einer bisher gescheiterten Reise. Eine Bewertung hilft, das Selbstwertgefühl wiederherzustellen. Dies kann beim Insassen sehr positive Kräfte freisetzen und als Katalysator für seine eigene Entwicklung, aber auch für das Leben anderer Insassen wirken. Auch das im Zuge dieses Prozesses entstehende Vertrauen zwischen den Insassen und den Werkstatt-Betreuern wirkt sich meist sehr positiv aus. Bei vielen der Insassen hat Vertrauen in ihrem bisherigen Leben oft gefehlt. Aber wie können wir jemandem vertrauen, der getötet oder missbraucht hat? Auch wenn dieses Vertrauen in manchen Fällen strapaziert wird und man immer wieder mit (oft legitimen) Befürchtungen konfrontiert ist, denke ich, dass es manchmal notwendig ist, die Vergangenheit zu ignorieren, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren und die Zukunft aufzubauen.

Sinnstiftende Arbeit

Eine längere Haftstrafe ist psychisch schwer zu ertragen – die Auswirkungen auf das Individuum heftig. Fern­seher und warme Mahlzeiten helfen da nur begrenzt. Haben Sie jemals versucht, ein paar Monate zu Hause zu bleiben und ihr Zimmer nur für eine Stunde täglich für einen Spaziergang im Innenhof zu verlassen? Nur wenige von uns würden eine solche Erfahrung unversehrt lassen. Die Pflichtarbeit ist dabei ein Mittel gegen die Folgen der Haft. Sie hilft, die Haftzeit zu verkürzen und gleichzeitig eine gewisse Moral wiederherzustellen. Tatsächlich berichten die meisten Insassen, die ich getroffen habe, dass sie sich (noch mehr) eingeschlossen gefühlt hätten, wenn sie nicht zur Arbeit gezwungen worden wären. Auf die Länge hätten sie ein solches Leben nicht ausgehalten. Andere weisen darauf hin, dass sie durch die Arbeit bestimmte einfache und wichtige Werte (wieder)entdeckt haben. Werte, welche ihnen in Zukunft helfen werden, ihr Leben und ihre Arbeit zu strukturieren: Frühzeitig aufstehen, Regeln und Anweisungen einhalten, die Fähigkeit, in der Gruppe zu arbeiten. Meiner Meinung nach arbeiten viele der Insassen gerne an den ihnen vorgeschlagenen Aufgaben, auch wenn sie es in der harten Welt des Gefängnisses, in welcher man keine «Schwächen» zeigen darf, nicht unbedingt zeigen können.

Die Schulung von inhaftierten Personen ist auch für die in den Institutionen tätigen Mitarbeiter, insbesondere für die Werkstattleiter, sinnvoll. Nicht nur, weil es Untätigkeit und deren Folgen vermeidet, sondern auch, weil es ihrer täglichen Arbeit mehr Sinn verleiht. Sie können sich Ziele setzen. Die Definition der zu erwerbenden Fähigkeiten, die Beobachtung der täglichen Entwicklungen und die Aussicht auf eine spätere (ex­terne) Praxis sind für alle Beteiligten fördernd und lehrreich. Dazu bietet es die Herausforderung für jeden Haftbeamten, sich kontinuierlich neue Fähigkeiten anzueignen und sich in seinen spezifischen Arbeitsbereichen weiterzubilden. Insgesamt führen diese Verbesserungen im Einzelnen zu einer Verbesserung des gesamten Prozesses.

Im grösseren Kontext bilden Haftanstalten dabei nicht nur aus, sie beteiligen sich gleichzeitig an der Weiterentwicklung des Diskurses und dem Festhalten von Erfahrungen und neuem Wissen. So arbeiten beispielsweise mehrere interne und externe Beteiligte aktiv zusammen, um den festgehaltenen Personen den erfolgreichen Schritt in die Freiheit zu erleichtern. Weiter werden Grundkurse in Sprache oder Mathematik an­geboten, um Lücken zu schliessen oder besondere Interessen zu fördern. Die Häftlinge erhalten auch regel­mässig Nachhilfeunterricht, um ihre Zukunftspläne zu unterstützen.

Natürlich ist dies ein sehr ehrgeiziges Projekt. Ich bin aber der Auffassung, dass es in seiner Grundanlage die richtigen Fragen aufwirft, um die eigene Ar­beitsweise zu überprüfen und schlussendlich pragmatische Lösungen zu finden.

«Bemerkenswerte Motivation»

Um das genannte Projekt in dieser Form umzusetzen, mussten wir in Zusammenarbeit mit dem Genfer Büro für Berufsberatung, Berufsbildung und Weiterbildung (Office pour l’orientation, la formation professionnelle et continue Genève) und den Dachverbänden der Beru­fe erst einmal das Zertifizierungssystem zur Erstellung kantonaler Kompetenznachweise erarbeiten. Der erste Kontakt war dabei am Anfang von Missverständnissen und einem gewissen Misstrauen geprägt. Eine Ausbildung im Gefängnis? Warum? Die Berufsverbände äusserten Bedenken vor einer «Überflutung» durch wenig ausgebildete Arbeiter. Deshalb haben wir ihnen eine einfache Frage gestellt: «Wenn heute jemand zu Ihnen kommt, welche Kompetenzen muss er aufweisen, damit er als beschäftigungsfähig eingestuft wird?» Auf der Grundlage dieser Diskussion wurden die Richtlinien unseres Ausbildungsprogrammes aufgebaut.

Die erste akkreditierte Werkstätte, die von diesen Ergebnissen profitiert hat, ist der Bäckereibetrieb. Insassen, die dort arbeiten, folgen dem etablierten Lehrplan und legen Prüfungen ab, wie Lernende in einem traditionellen Lehrplan. Dabei werden externe Experten einbezogen – dieselben, welche die Fähigkeiten der Auszubildenden im «zivilen» Leben nachweisen. Ihr Feedback ist durchgehend lobend: «Ich hätte nie gedacht, dass man im Gefängnis ein so hohes Mass an Professionalität erreichen kann!» Oder: «Die Motivation und der Erfolgswille sind bemerkenswert»; «Ich wünschte mir, dass sich die Lehrlinge draussen ebenso viel Mühe geben würden wie hier»; «Die Beherrschung der Techniken ist fast so gut wie meine!»; «Die in so kurzer Zeit erzielten Fortschritte sind einfach unglaublich. Dank der Beteiligung der Häftlinge und der Betreuung innerhalb der Werkstätten waren die Prüfungen bisher alle erfolgreich. Einige Gefangene haben ein berufliches Selbstvertrau­en entwickelt und sich manchmal sogar Kritik an der Arbeit des Werkstattleiters erlaubt!»

«Ich will nicht, dass jemand weiss, dass ich im Gefängnis war.»

Eine der Stärken dieser Zertifikate besteht darin, dass sie es neben den Prüfungsresultaten ermöglichen, erworbene Fähigkeiten in der jeweiligen Branche vorzuweisen. Entscheidend ist die offizielle Zertifizierung – unabhängig von der Frage, wo die Fähigkeiten erworben wurden. Das Gefängnis wird so zu einem glaubwürdigen Ausbildungs-Akteur.

Früher wurden die ausgestellten Zertifikate auf das Briefpapier der Haftanstalt gedruckt, was bei vielen Insassen zu Unverständnis führte: «Ich will nicht, dass die Leute wissen, dass ich im Gefängnis war. So nützen mir die Zeugnisse nichts, ich werde sie nicht vorlegen. Ich schäme mich zu sehr.» Die neuen kantonalen Befähigungsnachweise, werden direkt vom Erziehungsdepar­tement (Département de l’instruction publique, de la formation et de la jeunesse Genève) ausgestellt und ermöglichen es den Menschen von nun an, nach der Verbüssung ihrer Strafe ihre durch ein Diplom anerkann­-ten Kenntnisse nachzuweisen. Auf dieser Grundlage kon-nte beispielsweise ein frisch diplomierter Gefangener unmittelbar nach seiner Entlassung in einer Bäckerei Arbeit finden. Er bedankte sich dafür mit einem Brief bei allen Beteiligten: Sie hätten ihm «einen Sinn (für sein Leben) zurückgeben».

Der Wunsch, alle Inhaftierten auszubilden, mag utopisch erscheinen; nicht jeder will von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Die ersten positiven Ergebnisse bekräftigen uns aber, dass wir diesen Weg fortsetzen.

Hakim Mokhtar ist als stellvertretender Direktor der Haftanstalt La Brenaz verantwortlich für den Strafvollzug.

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