Was tut ein Bundesrat, der am Ende des Zweiten Weltkriegs für die Armee zuständig ist und erfährt, dass in Japan zwei Atombomben explodieren? Der freisinnige Militärminister Karl Kobelt gründet am 5. November 1945 die «Studienkommission für Atomenergie», die gemäss den geheimen Richtlinien vom 5. Februar 1946 nicht nur die zivile Nutzung untersuchen, sondern zudem «Uranbomben» oder «andere geeignete Kriegsmittel, die auf dem Prinzip der Atomenergie beruhen», entwickeln soll.
Erwähnt wird auch der mögliche Einsatz solcher Waffen «als Flugzeugbomben». Tatsächlich spielt dieser Aspekt eine wichtige Rolle, als es Ende der fünfziger Jahre darum geht, neue Kampfflugzeuge zu kaufen. Oberstdivisionär Etienne Primault, der Kommandant der Flieger- und Fliegerabwehrtruppen, gibt am 29. November 1957 die Richtung vor: «Wenn man ein Flugzeug hätte, wie beispielsweise den Mirage, der fähig ist, mit Atombomben bis nach Moskau zu fliegen, so könnte man sich einen Einsatz auch im Feindesland vorstellen.» Bereits ein paar Monate vorher befürwortet eine militärische Expertengruppe die Einführung taktischer Atomwaffen.

Die Freiheit der Kinder Gottes

Erst als sich die Militärs einig sind, beginnt sich auch die breite Öffentlichkeit für das Problem zu interessieren. Direkter Auslöser ist die bundesrätliche Erklärung zur Frage einer Schweizer Atombewaffnung vom 11. Juli 1958, die grosse Beachtung findet. Es heisst da etwas pathetisch: «In Übereinstimmung mit unserer jahrhundertealten Tradition der Wehrhaftigkeit ist der Bundesrat deshalb der Ansicht, dass der Armee zur Bewahrung unserer Unabhängigkeit und zum Schutze der Neutralität die wirksamsten Waffen gegeben werden müssen. Dazu gehören Atomwaffen.»
Während sich die Gegnerinnen in der Schweizer Bewegung gegen die atomare Aufrüstung formieren und bereits am 29. April 1959 eine Initiative einreichen, die Atomwaffen in der Schweiz verbieten will, wird im Militärdepartement abgeklärt, wie die Bombe nun am besten zu beschaffen sei. Den Sozialdemokraten geht ein komplettes Verbot zu weit. Sie lancieren eine eigene Initiative, die ein obligatorisches Referendum vorsieht, falls Atomwaffen gekauft werden sollen. Die beiden Initiativen kommen 1962 respektive 1963 an die Urne. Der Abstimmungskampf ist heftig, geht es doch, wie Kobelts Nachfolger und Parteikollege Paul Chaudet sagt, «um eine bedeutende politische, psychologische und moralische Frage»; später meint er gar, das «vaterländische Erbgut» sei in Gefahr. Dabei ist klar, dass es kaum möglich sein wird, einfach so irgendwo Atomwaffen einzukaufen, und dass es sehr teuer wäre und lange dauern würde, eigene Bomben zu entwickeln. Doch das schreckt die Befürworterinnen nicht ab: «Wenn man bedenkt, welche wesentliche Verstärkung schon etwa hundert dieser Waffen [Atombomben wie diejenige, die am 6. August 1945 auf Hiroshima abgeworfen wurde und über 140’000 Menschen tötete] für unsere Verteidigung bedeuten würden, kann man nicht bestreiten, dass diese Ausgabe auch für uns tragbar ist», schreibt 1961 der Schweizerische Aufklärungsdienst (SAD). Eine wichtige Organisation der antikommunistisch ausgerichteten Geistigen Landesverteidigung, die sich im Vorfeld der Abstimmungen stark für die Bombe engagiert.
Auch bezüglich der radiologischen Folgen einer Atomexplosion geben sich die Befürworter*innen gelassen: Sie sind überzeugt, dass sich Soldaten und Zivilbevölkerung vor negativen Auswirkungen schützen könnten und weisen darauf hin, dass ein paar wenige Schweizer Nuklearwaffen nicht ins Gewicht fallen würden. Die wahre Bedrohung sei eine andere: «Die Gefährdung der Menschheit infolge der zunehmenden Radioaktivität ist unvergleichlich viel geringer als jene infolge der politischen Unterjochung, der persönlichen Entrechtung und der kommunistischen Sklaverei», findet Paul Huber 1959 in einer SAD-Publikation.

Der in der Schweiz besonders ausgeprägte Antikommunismus taucht auch im Zusammenhang mit ethischen und religiösen Argumenten auf. Der katholische Publizist Carl Doka fragt 1958: «Hat etwa ein Christ ein Recht […], die Atomwaffe zu verweigern, mit der klar vorauszusehenden Folge, dass der Antichrist die Freiheit der Kinder Gottes auch im bis heute nichtkommunistischen Teil der Welt vernichtet?» Und der einflussreiche Offizier und Militärtheoretiker Alfred Ernst sieht die «Menschenwürde» dessen bedroht, der «sich, ohne äussersten Widerstand zu leisten, der kommunistischen Herrschaft beugt».

Sehr kontrovers diskutiert wird die Frage, inwieweit die Neutralität Einfluss auf eine mögliche atomare Aufrüstung hat. Machen solche Waffen eine neutrale Position nicht unglaubwürdig? Für den SAD besteht kein Zweifel: «Die Anschaffung von Atomwaffen wird sogar zu einer Neutralitätspflicht, wenn die Landesverteidigung ohne dieselben nicht wirksam ist.»

Mehr Soldaten als Biologen

Und die Gegnerinnen? Deren Argumente gegen helvetische Atombomben klingen um einiges nüchterner: Es handle sich um keine normale Waffe, sondern um etwas qualitativ Neues, die «Kriegführung mit Atomwaffen steht jenseits der [ethischen] Grenzen (wie auch die Anwendung von Foltermethoden und Geiselerschiessungen)», stellt der reformierte Pfarrer Eduard Wildbolz fest, während der ehemalige Oberfeldarzt und Brigadier Paul Vollenweider, einer der wenigen gegen die Beschaffung von Atomwaffen opponierenden Offiziere der Schweizer Armee, auf das «‹Andersartige› bei den Atombomben» hinweist, nämlich «die Strahlungsschädigungen». Der Biologe und Atomexperte Gerhart Wagner sagt klar: «Die Atomwaffen haben biologisch gesehen nur negative Seiten.» Wagner gibt auch eine mögliche Erklärung, weshalb dieser Aspekt von den Befürworterinnen vernachlässigt wird: «Weil es in der Schweiz mehr Soldaten als Biologen gibt.» Auch das antikommunistische Argument überzeugt die Gegner*innen nicht; es erweise sich, so Wagner, vielmehr als fatal: «Aber das Mittel [Atomwaffen], mit dem allein die freie Welt diese Macht [Kommunismus] in Schranken hält, bedroht die Zukunft der ganzen Menschheit auf eine vielleicht noch teuflischere Weise. Sie bedroht nicht nur die Freiheit oder das Leben, sie bedroht die Lebensmöglichkeit.» Die Absurdität einer religiös begründeten Zustimmung zu Atomwaffen wird in der von der Bewegung gegen die atomare Aufrüstung publizierten Zeitschrift «Atombulletin» entlarvt: Ein Christ wisse, «dass er seinem vom Evangelium geweckten Gewissen zu folgen hat, wenn ihn die Abstimmung […] an die Urne ruft», heisst es im Januar 1963: Wer zur atomaren Aufrüstung «nicht ausdrücklich Nein sagt, der sagt Ja zu ihr».
Die Gegenseite äussert sich so, wie sich Linke und Progressive immer wieder rechtfertigen müssen: «Auf der einen Seite stehen die lebensbejahenden Kräfte und Kreise unseres Volkes, die für eine humane Schweiz in einem vom Menschen bestimmten Atomzeitalter eintreten. Auf der anderen Seite haben sich jene Kreise und Kräfte gesammelt, die verflossene Zeiten und Ideologien vergangener Jahrhunderte nachhängen und sich in unserem neuartigen Zeitalter in keiner Weise mehr zurechtfinden», schreibt der Aktivist Heinrich Buchbinder im «Atombulletin» vom April 1963.

Ein Hirngespinst

Doch diese Argumente verfangen bei den Schweizer Männern nicht. Die erste Initiative wird am 1. April 1962 mit 65,2 Prozent bachab geschickt. Nur Neuenburg, Waadt, Genf und Tessin sprechen sich für ein Verbot von Atomwaffen in der Schweiz aus. Nicht viel besser ergeht es dem zweiten Begehren, das am 26. Mai 1963 mit 62,2 Prozent verworfen wird; dieses Mal stimmt auch Basel-Stadt der Initiative zu.

Ist der Weg jetzt frei für die Schweizer Atombombe? Aus heutiger Sicht ist klar: Diese Idee war ein Hirngespinst und hatte nie eine Chance auf Realisierung. Aber noch 1964 ist sie etwa für den Chef des Nachrichtendiensts der Abteilung für Flugwesen und Fliegerabwehr, Rolf Lécher, unabdingbar: «Es ist echte Schweizerart, im Kampfe nach der mosaisch-biblischen Formel: ‹Auge um Auge, Zahn um Zahn, Wunde um Wunde, Brandmal um Brandmal› zu handeln. Sollte ein Gegner uns in Zukunft einmal mit Nuklearwaffen angreifen wollen, so wäre es notwendig, ihm mit derselben ‹Münze heimzahlen zu können›.»

Neben einer Atombombenproduktion im eigenen Land oder einer Zusammenarbeit mit dem ebenfalls neutralen Schweden denken die zuständigen Stellen im EMD auch an den «Ankauf von Kernwaffen im Ausland auf rein kommerzieller Basis, insbesondere in Frankreich», wie der Unterstabschef Planung und spätere Fliegerkommandant Eugen Studer am 21. Oktober 1963 schreibt. Studer rechnet damit, in 35 Jahren eine eigene Uranbombe für 720 Millionen Franken entwickeln zu können – falls statt Uran Plutonium verwendet würde, daure es 27 Jahre und koste 2,1 Milliarden Franken.

Generalstabschef Jakob Annasohn bittet Militärminister Paul Chaudet am 24. April 1964, er solle den Gesamtbundesrat zwanzig Millionen Franken bewilligen lassen: um in der Schweiz nach Uran zu suchen, um Ultrazentrifugen zur Anreicherung sowie die Atomwaffentechnik weiterzuentwickeln und um definitiv abzuklären, ob in der Schweiz Atombombenversuche gemacht werden können. Am 4. Mai legt eine EMD-interne Arbeitsgruppe, die sich positiv zu möglichen Atombombenversuchen in der Schweiz äussert, einen geheimen, milliardenteuren Plan vor. In einer ersten Phase sollen «fünfzig Fliegerbomben à sechzig bis hundert KT Kilotonnen» beschafft werden. Die erste Atombombe, die die US-Amerikaner auf Hiroshima fallen liessen, hatte eine Sprengkraft von 12,5 KT. Später sollen dann 200 weitere Fliegerbomben hinzukommen.

Inzwischen hat der Bundesrat auf Wunsch des Militärdepartements Ende 1960 beantragt, hundert französische Mirage-Kampfjets zu kaufen. Der Bundesrat hält fest: «Die bedeutsamste Erhöhung der Schlagkraft der Flugwaffe würde mit der Verwendung von Atomgeschossen erreicht.» Das Parlament bewilligt das Geschäft im Juni 1961. Doch schnell zeigt sich, dass die topmodernen Flieger mehr als die über 800 Millionen Franken kosten werden, die zunächst budgetiert worden sind. Schliesslich werden nur 57 Mirage bestellt, die schlussendlich fast 1,2 Milliarden Franken kosten – zu heutigen Preisen wären das über vier Milliarden Franken.
Annasohns Atombombenantrag trifft am selben Tag beim Militärminister ein, an dem der Bundesrat einen ersten Zusatzkredit von 576 Millionen Franken für die hundert Mirage verlangt. Die Öffentlichkeit reagiert ungewöhnlich heftig auf diese Forderung, das Vertrauen der Bundesversammlung und der Bevölkerung in den Bundesrat ist erschüttert. Der Skandal nimmt seinen Lauf – zum ersten Mal wird eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) eingesetzt – und versenkt die Schweizer Bombe. Der Bundesrat berät am 5. Juni 1964 über Annasohns Gesuch. Er gibt ihm zwar statt, verlangt aber, dass für die waffentechnischen Arbeiten nicht wie vorgeschlagen ein der ETH anzugliederndes Institut mit etwa zwanzig Fachleuten zu bilden sei, sondern nur eine einzige Person abgestellt werden dürfe. Damit sabotiert er den eigenen Entscheid.

Als dann am 25. Februar 1965 die Finanzdelegation der Räte anfragt, wie viel die Vorabklärungen für eine eigene Atomwaffenproduktion kosten, verschiebt die zuständige Militärdelegation des Bundesrats die nötige Sitzung dreimal. Am 26. Oktober 1965 tagt sie endlich und weist Chaudet mit seinen Atomwaffenwünschen in enge Schranken. In der Folge verweigert der Bundesrat immer wieder Kredite und Personaletats für die für eine atomare Bewaffnung nötigen Arbeiten. Ende 1967 fragt SP-Bundesrat Willy Spühler rhetorisch, «ob die Schweiz ihre Landesverteidigung merklich verbessern könnte, wenn sie sich mit Atomwaffen ausrüsten würde». Stattdessen sei vielmehr «ein wirksamer Atomsperrvertrag wünschbar». Die Schweiz unterzeichnet am 27. November 1969 als 92. Signatarstaat diesen Vertrag, der die Weiterverbreitung von Atomwaffen verbietet. Ratifiziert wird er allerdings erst am 9. März 1977. Der Arbeitsausschuss für Atomfragen, der der Schweiz die theoretische Möglichkeit einer atomaren Bewaffnung offenhalten soll, wird erst Ende 1988 aufgelöst.

Roman Schürmann ist WOZ-Redaktor und hat das Buch «Helvetische Jäger. Dramen und Skandale am Militärhimmel» (Rotpunktverlag, 2009) geschrieben.

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