Dschina war lässig dagesessen und hatte ihre Hände im Sand vergraben. Als sie sie wieder rausziehen wollte, waren sie wie festgemacht, und als sie sie endlich herausgerissen hatte, hingen kleine Fädelchen an den Fingern. Was war das? Pflanzen etwa?

Tatsächlich. Feine Würzelchen – blass, fast lichtdurchlässig, fragil. Und als sie diese abstreifen wollte, merkte sie, dass sie aus ihrer eigenen Haut herausgewachsen waren. Huch!

Panisch entfernte sie alles. Dschina war am Anwurzeln. Die Übernatürlichkeit des Wüstenhains hatte auf sie abgefärbt. Sie würde zu ihrer Landschaft werden. Was konnte alles noch mit ihr passieren? Sie wollte keine Veränderung, an der Magie wollte sie nicht teilhaben. Als Überlebende wusste sie, dass sie sich nicht lange über neue Begebenheiten wundern durfte, sondern dass konkrete Entscheidungen überlebensnotwendig waren. Sie begriff sofort, dass das nur der Anfang sein würde. Machen-machen-machen-machen.

*

Der Radius ihres Spaziergangs war klein. Leise wandelte sie an der Wand aus tödlichen Nesseln entlang. Dicht und dichter, wie ein Zaun, war die Lichtung umschlossen. Und die gezähmten Schlangen, die kamen brav mit. War sie schon einmal im Kreis gewandert? Mit der Ringwaffe leuchtete sie im Dickicht umher, ob nicht doch ein irrer Schleichweg, ein schmaler Trampelpfad auszumachen war. Mit etwas Glück waren das Taubnesseln und sie konnte einfach hindurch schlüpfen! Aber nein, das waren keine Taubnesseln aus der Familie der Lippenblütler, die Brennnesseln imitieren. Die Narbe an ihrem Finger ermahnte sie. Wären es Lippenblütler, so sähen die Blumen wie wohlgeformte Münder aus, und das hier waren sicher Brennnesseln und die hatten sowieso keine Blumen. Aber irgendetwas hörte sie, das sich wie ein Flüstern anhörte. Hatten die Nesseln Lippen, ohne Lippenblütler zu sein?

«Dschina, wir helfen dir», hörte sie es flüstern, von irgendwo her. Sie schaute sich das Nesselwäldchen genauer an. Urtica dioica, die grosse Brennnessel – war zweihäusig, das heisst, es gab entweder weibliche oder männliche Pflanzen. In der Blüte trugen beide Zotteln – sogenannte Kätzchen –, die vom Stängel abgingen, gleich am Blattansatz. Bei den männlichen Pflanzen bestanden die Zotteln aus vielen kleinen runden Kügelchen und glichen einer langestreckten, sehr kleinen Weintraube. Sie standen seitlich vom Stängel ab, die Farbe bläulich, fast weiss, als ob Puderzucker über sie gestreut worden wäre. Hingegen waren bei den weiblichen Pflanzen diese Zotteln mit linsenförmigen Scheibchen bestückt, und zudem hingen sie herab, statt abzustehen. Die Farbe grünlich und insgesamt waren sie grösser und fülliger, weniger zart. Weibliche und männliche Pflanzen gab es also, aber hier sah sie nur weibliche Individuen. Konnte sich das Nesselwäldchen durch vegetative Fortpflanzung, das heisst durch Teilung des Rhizoms, erhalten oder bestand es etwa aus nur einer einzigen, immens grossen, weiblichen Brennnesselpflanze mit einem kreisrunden, unterirdischen Todesrhizom?

Plötzlich merkte Dschina, dass sich die Spitzen der Nesselpflanzen stets in ihre Richtung neigten. Das animistische Mörderkraut nahm alles wahr. Dschina war auf dem Radar des Todesrhizoms gelandet. Sie blieb entmutigt stehen und die Schlangen wickelten sich um ihre Beine. Schon schlichen sie in ihren Wüstenumhang, schon kletterten sie an den Beinen hoch, schon verteilten sie sich in ihrer Bekleidung! An ihrem ganzen Körper kribbelte es, sie guckten aus den Ärmeln raus, sie setzten sich auf ihren Kopf. Sie war besetzt worden. Körperliches Bewegen war schwerfällig und zäh. Sie knipste das Licht der Ringwaffe aus und gab sich dem absurden Moment hin. Die Wüstenmacherin war amüsiert. Sie liess das Flüchten gut sein. Mit der Schwere der sie umwickelnden Schlangentiere fühlte sie sich, als ob sie in den Boden gezogen werde. Die Vergangenheit würde immer bei ihr bleiben. Hatten sich die Kindheitsschlangen aus ihrem Gedächtnis materialisiert? Sie verspürte Gegenseitigkeit und Wohlfühlwärme. Ach Dunkelheit, ach Gegenwart, oh Präsenz der Kindungszeit!

«Vertraue uns», flüsterte es erneut. Das Flüstern lokalisierte sie ohne Zweifel in den Nesseln.

Es wurde dunkler, es wollte mehr Nacht als Tag sein. Ein diffuses Licht seltsamer Entfremdung legte sich über die Umgebung und über Dschinas Pumpenherz. Das Todesrhizom war nicht der einzige Grund, warum sie nicht abhauen konnte. Vielleicht sollte sie dem Flüstern der Pflanze einfach vertrauen. Ihr Leben lang war sie stets davongerannt, diesmal würde sie den Konflikt anders lösen müssen.

Nun lösten sich die Wüstenschlangen allesamt von ihr. So schnell wie das Schleichrudel kam und sie besetzt hatte, war es wieder entwichen. Ihnen schienen die Nesseln nichts auszumachen: Sie schlängelten sich hindurch und verschwanden. Wäre Dschina doch auch eine Schlange, wünschte sie sich. Bleibt hier, meine Freunde! Egalgott hilf mir! Sie brach den Spaziergang ab und winkte den Nesseln zu, die mit wedelnden Blättern das Winken erwiderten. Nesselzustand.

*

Ungestört sprach das wandelnde Gebüsch weiter. Zweige wippten auf ihrem Rücken. Dschina atmete durch, dann roch sie Blumen. Musizierte die Katze?

Nein. Es war Thymus, die erblühte.

Wahrhaftig, Blümchen. Immer wieder Staunen. Kleine Insekten flogen um das Gebüsch herum, sie wurden von ihren Farben und Düften angezogen. Kamen die aus der Wüste oder hausten die in ihr? Sie war buchstäblich am Aufblühen. Wir müssen hier alles und alle beim Wort nehmen.

«Als wir da wie gejätetes Unkraut am Strassenrand litten, fragte ich mich, wie ich uns bloss retten könnte? Ich war in einem Zustand der isolierten Unwichtigkeit, überall Distanz. Jedes Grünzeug wendete sich von mir ab. Ein Gefühl des mich vor mir selbst Ekelns kroch in mir hoch. Ich war sprachlich unvermögend. In meinem Nacken war es arg wie im Kerker und feucht wie im Keller. Ich war der Austrocknung nahe, und es wuchs mir ein Insektenpanzer auf meinem Rücken.»

Beim Wort «Insekt» schaute Theazea auf. Wann war sie eigentlich zu einem Insekt geworden? Und ging es ihr besser so?

Aber wer war diese Thymus, mit der Dschina nun einen Freundschaftsvertrag hatte? Wahrlich eine charmante Pflanze. Was waren das für verborgene Innenwelten, die Thymus da plötzlich zeigte? Da gab es durchaus Parallelen zu Dschinas eigener Person. Aber guck doch die farbigen, schönen Blumen an! Der struppelige Blumenbusch trug lange Zotteln hinter sich her, die dem Seil, das Dschina in der Wüste hinter sich hergezogen hatte, nicht unähnlich waren. Dieses Gebüsch jedoch wollte sich nicht verstecken. Da waren sogar ein paar Dornen! War sie gegen das Nesseldings immun? Schliesslich waren beide pflanzliche Lebedinger.

«Die Melancholie gehört mir und gehört mir nicht», sagte Thymus. Sie trottete umher und sprach mit einer bebenden Stimme. «Doch schliesslich kam ein Gärtner, ein Pflanzenhortler, der lud uns auf und schösselte uns und versorgte uns, bis wir wieder denkende Lebedinger wurden. Jedes Sämchen ist ein Stern, schaut euch das Universum an.»

Ja! Sie lebte, die Thymus. Ein Antlitz, menschlich, pflanzlich, sah sie nicht. Braucht jedes Ding ein Antlitz? Reicht es nicht, wenn wir den Pflanzen ein Leben zugestehen oder müssen wir ein Gesicht in die Sonnenblume malen, damit wir Geschwisterlichkeit erst spüren können? Pflanzen sind empfindsam. Und manche sind sogar launisch. Sie hatte dem Unkraut alles vergeben, auch die Gemeinheiten, mit denen sie gestachelt hatte.

Soziale Kräuterwelten. Heilende Beziehungen.

Das blühende Gebüsch hielt vor ihr an. «Erzähl du uns doch du mal was Peinliches, Dschinakräutchen.» Sie schreckte auf. Enge. Enge. Enge. Ein lehmiger Erdklumpen der Angst steckte in ihr! Konnte sie dem Gebüsch vertrauen? Das war eine schöne Rede von ihr gewesen. Rührend schön. Auch Dschina hatte ein starkes Bedürfnis, alles ungehalten zu teilen und in Tiefe verstanden zu werden. Die Katze guckte sie bittend an. Dschina prüfte die Farbe des weiten, tiefblauschwarzen Himmels. Die Dämmerung war vorbei. Es war Nacht, da war kein Tag gewesen. Sie gab es auf, die hiesige Meteorologie verstehen zu wollen. Ausser der Kurumina und dem Sternchenmeer gabs kein Licht, und das Feuer war unspektakulär ausgegangen. Um Thymus wurde es wieder ruhig, die Blumen verwelkten. Sie war einem stummen Pflanzentopf zum Verwechseln ähnlich.

*

«Was hat Therapieren mit Wüstensammeln gemeinsam?» «Suchst du nach einem Witz für dein Bühnenprogramm? Ist doch ganz klar: Der Pflanzensamen ist die Erinnerung an den Ort, wo das Geschöpf herkommt. Seit Urbeginn werfen Pflanzen ihr Eigenes als Saatgut ab. So macht es die Wildnis. Wer samenfeste Kulturpflanzen anbaut und selektiert, will Charaktereigenschaften bewahren. Die Bewandtnis wandert wie eine erinnerte Geschichte weiter. Statt die besten Früchte zu essen, sollst du deren Saatgut erhalten. Hingegen ist es unnütz, die Samen aus industrieller Landwirtschaft zu sammeln. Aus der nächsten Generation – die Samen der Pflanzen aus industriellen Hybridsamen – keimt nichts Gescheites, nichts, was man ernten kann. Es ist keine Erinnerung vorhanden. Totaldemenz! Hybridsamen wollen jedes Jahr neu gekauft werden. Übrigens werden sie aus einer Inzest-Mutter und einem Inzest-Vater gezüchtet. Inzest! Ein gebrochenes Tabu! Kein Wunder, dass die pflanzlichen Lebedinger revoltierten.»

«Samen? Das klingt so männlich.»«Schmelzender Gletscher! Von wegen! Aus einer Säugetierperspektive vielleicht schon. Der Pflanzensamen entsteht nach der Bestäubung. Die weiblichen und die männlichen Eigenschaften sind in ihm schon verschmolzen. Statt dass wie bei den Tieren gleich nach der Bestäubung ein Lebeding im Mutterbauch heranwächst, ist bei der Pflanze der Lebensprozess unterbrochen. Das Saatgut vertrocknet und wartet auf seinen Frühling. Das ist genial. Frag Hildegard. Die Erde gräbt die Wärme in sich ein und beschützt so die Samen im Winter, als es den noch gab. Urtica urens, die argkrasse kleine Brennnessel, stirbt nach jedem Todessommer. Einmal Versamen, dann ist die hin. Leben im hapaxanthen Todeszustand. Die hat kein Rhizom, um sich zu verstecken, noch mehrere Geschlechter. Nach dem Umgraben im Frühling kommt die aus dem Sämchen neu. Pflutsch.»

*

Ab und zu zischte es. Ab und zu plopsten Samenkapseln auf. Ein Wind pfiff schon seit einer Million Jahren. Die Bestien, sie schnaubten zäh. Nachts schlief Dschina auf der Sicherheitsplattform und zwar in einer in sich verknäulten, bohnenförmigen, embryokrummen Schlafstellung, es war ihr so etwas wärmer. Ihre Sachen, ihren Beutel, ihre magischen Waffen stellte sie daneben. Wo kamen die plötzlich her? Sie durfte nicht hierbleiben. Die Tiere grunzten und hörten nicht auf, zu versuchen, zu ihr hochzusteigen. Dschina schlief wie ein Reptil, durch die Kälte erstarrt, bis die Wärme der Sonnenstrahlen das Blut in ihr zirkulieren liess, dann häutete sie sich mehrmals wie eine Schlange, dann wuchsen ihr Hufe, dann baute sie sich ein Insektennest, dann verwelkte und ergrünte das dreifachgrosse Wildkraut Dschina. Eines Nachts wachte sie auf, doch unten lauerten die gefährlichen Tiere. Schlaft doch endlich ein, ihr Bestien. Sie hörte in der Ferne ihrer Erinnerung eine fremde Stimme, die zu ihr rief:

«Tun! Tun! Mach was, Dschina! Du bist eine Macherin!» Nein, sie musste nichts mehr tun. Das galt nicht ihr. Sie dachte und hörte in anderen Frequenzen.

Reto Pulfer, geboren 1981 in Bern, aufgewachsen in Baselland, wohnhaft in der Uckermark bei Berlin. Arbeitet als Künstler, Musiker und Autor.
Auszüge aus «Gina, ein zuständiger Roman». Erschienen 2021 bei Bom Dia Boa Noite Boa Tarde.

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