«Wir sind fünf Freunde, wir sind einmal hintereinander aus einem Haus gekommen, zuerst kam der eine und stellte sich neben das Tor, dann kam oder vielmehr glitt so leicht, wie ein Quecksilberkügelchen gleitet, der zweite aus dem Tor und stellte sich unweit vom ersten auf, dann der dritte, dann der vierte, dann der fünfte. Schliesslich standen wir alle in einer Reihe. Die Leute wurden auf uns aufmerksam, zeigten auf uns und sagten: ‹Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen.› Seitdem leben wir zusammen, es wäre ein friedliches Leben, wenn sich nicht immerfort ein sechster einmischen würde. Er tut uns nichts, aber er ist uns lästig, das ist genug getan; warum drängt er sich ein, wo man ihn nicht haben will. Wir kennen ihn nicht und wollen ihn nicht bei uns aufnehmen. Wir fünf haben zwar früher einander auch nicht gekannt, und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird, ist bei jenem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet. Ausserdem sind wir fünf und wir wollen nicht sechs sein. Und was soll überhaupt dieses fortwährende Beisammensein für einen Sinn haben, auch bei uns fünf hat es keinen Sinn, aber nun sind wir schon beisammen und bleiben es, aber eine neue Vereinigung wollen wir nicht, eben auf Grund unserer Erfahrungen. Wie soll man aber das alles dem sechsten beibringen, lange Erklärungen würden schon fast eine Aufnahme in unsern Kreis bedeuten, wir erklären lieber nichts und nehmen ihn nicht auf. Mag er noch so sehr die Lippen aufwerfen, wir stossen ihn mit dem Ellbogen weg, aber mögen wir ihn noch so sehr wegstossen, er kommt wieder.» – Franz Kafka

Heute gilt es als «natürlich», Personen nach dem Kriterium der Staatszugehörigkeit Rechte zuzugestehen oder eben nicht.

In eindrücklicher Weise wird in diesem Fragment von Kafka die Kontingenz von Gemeinschaftsgrenzen wie auch die Evidenz, die aus der Existenz bereits bestehender Grenzen resultiert, sichtbar. Auch zeigt sich hier anschaulich die Unmöglichkeit einer abschliessenden unilateralen Abgrenzung: «aber mögen wir ihn noch so sehr wegstossen, er kommt wieder.» Eine «demokratische» Gesellschaft ist immer im Umbruch. Ihre Grenzlinien müssen verrückbar sein, sonst ist sie nicht mehr. Heute gilt es als «natürlich», Personen nach dem Kriterium der Staatszugehörigkeit Rechte zuzugestehen, indem ihnen der Zugang zu einem bestimmten Arbeitsmarkt erlaubt wird – oder eben nicht. Das Argument, ein Recht auf Immigration kollidiere mit der Vorstellung, dass eine politische Gemeinschaft eigene Kriterien der Mitgliedschaft festlegen soll, entspricht nicht den tatsächlichen Verhältnissen: Wir werden in politische Gemeinschaften hineingeboren und haben nicht die Möglichkeit, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger auszuwählen. Bei den Einbürgerungen ist dies zwar an manchen Orten teilweise der Fall, doch gerade weil dies nur für eine Minderheit gilt (bestimmte müssen sich auswählen lassen, andere gehören von Anfang an dazu), ist dieses einseitige Verhältnis problematisch. Ein solcher Anspruch erinnert zudem an jene Männer, die sich vor nicht allzu langer Zeit legitimiert fühlten, über das Frauenstimmrecht entscheiden zu dürfen. Welche Konsequenzen sind aus den dargestellten Inkonsequenzen zu ziehen? Selbst wenn Nationalstaaten nicht im Alleingang von heute auf morgen ihre Zugangsbeschränkungen abschaffen können, so kann zumindest eines sofort in Angriff genommen werden: Grenzkontingenz sichtbar zu machen. Allerdings sollte nicht vergessen werden, dass ein Öffnen von Grenzen nicht nur für Waren, sondern auch für Menschen jene ökonomischen Ursachen, die manche zur Migration zwingen, nicht aus der Welt schafft. Die zum «Drama der Migration» führenden Verhältnisse sind nicht zu ändern, wenn man nur auf die Grenze blickt. Um diese Probleme anzugehen, bedarf es nicht nur anderer Grenzregime, sondern beispielsweise auch einer grundsätzlich anderen Ausgestaltung der Ökonomie. Kurzsichtig erscheint dabei jene Sichtweise, die meint, durch eine zunehmende Entrechtlichung und Illegalisierung Probleme zu lösen, die sie selbst durch eine Verschärfung mitproduziert.

Die Geschichte ist bekanntlich keine Prophetin. Doch eine Historisierung macht (manchmal) die Begrenzungen der Gegenwart sichtbar: Sie antizipiert die Vergangenheit des Gegenwärtigen.

Die Historikerin Francesca Falk ist Dozentin für Migrationsgeschichte an der Universität Bern. Ihre Schwerpunkte umfassen Geschlechtergeschichte, Migration, Protest, Kolonialismus und seine Nachwirkungen sowie Public, Visual und Oral History.
Der vorliegende Beitrag ist ein leicht überarbeiteter Auszug aus: Francesca Falk, Eine gestische Geschichte der Grenze. Wie der Liberalismus an der Grenze an seine Grenzen kommt, S. 145-147, © 2011 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland).

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