Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges und noch stärker nach dem Fall des eisernen Vorhangs schienen sich Grenzen in zahlreichen kleinen Schritten kontinuierlich abzubauen. Auf den Zusammenbruch der Sowjetunion folgte die deutsche Wiedervereinigung, darauf die Bildung der EU. Auch wirtschaftlich wurde zunehmend auf Globalisierung gesetzt und der Welthandel ausgebaut. Parallel dazu nahm die internationale Vernetzung und Mobilität zu – auch digital durch das Internet. Damit einher ging die Verbreitung der Idee einer Global Citizen-ship, nach der sich Menschen zunehmend nicht mehr als gebunden an politische oder geografische Grenzen verstehen. Um die Jahrtausendwende kehrte sich der Trend: Die Angriffe auf das World Trade Centre in New York hatten dazu geführt, dass gezielte Abgrenzung wieder ins politische Handlungsrepertoire aufgenommen wurde. Das in den 1990er Jahren noch als offene Utopie gefeierte Internet wurde als Folge von politischen, wirtschaftlichen und juristischen Interessen zunehmend von Überwachung und länderspezifischen Inhalten durchsetzt. Und Europa entwickelte sich seit dem Ende der Kriege in Jugoslawien zur Festung gegen die krisengeschüttelte Nachbarschaft.

Dennoch trat die Schweiz 2004 dem Schengener Abkommen bei. Der dadurch ermöglichte freie Personenverkehr innerhalb der EU liess die westeuropäische Generation der nach 2000 Geborenen in einer weitgehend offen erlebbaren Welt aufwachsen. Grenzkontrollen durch Beamte, die in Europa noch bis Ende der 1990er Jahre gängig waren, wurden an die EU-Aussengrenzen und damit ausser Sichtweite verschoben. Die Corona-Pandemie hat jüngst zu einer abrupten Senkung der Schlagbäume an den Grenzen geführt. Unmittelbar spürbar ist das durch die strengen Reisebeschränkungen, die aufgrund der pandemischen Eindämmungs-Massnahmen von zahlreichen Regierungen verhängt wurden. Der Flugverkehr erreichte 2020 kurzfristig das Niveau von 1970, und auch in Nahdistanz ist es bei einer Reise in die unmittelbaren Nachbarländer nötig, sich über die geltenden Reisebestimmungen zu informieren.

Doch unabhängig von der Pandemie nimmt die Abgrenzung auch geopolitisch mittel- und langfristig zu. Im Gegensatz zu klassischen Grenzen sind sie immer weniger durch sogenannte Tobleronesperren oder Mauern und Zäune zu erkennen. Vielmehr beginnen sie in Form von Grenzräumen, automatischer Gesichts- und Personenerkennung oder der Isolation von Grenzlagern auf vielfältige Weise das Leben der Menschen zu durchdringen. Die Grenzen sind heute vielerorts keine manifesten Linien mehr, sie funktionieren häufig aufgelöst, unsichtbar und flächendeckend über ganze Gebiete. Der unmenschliche Umgang mit Geflüchteten an Europas Aussengrenzen, die Abschottung Nordamerikas gegenüber dem Süden, oder die Isolation in abgeschiedenen Lagern, wie sie etwa Australien praktiziert, liefern dabei eine dystopische Vorschau auf mögliche Strategien wie sie im Zuge kommender Klimamigration bevorstehen könnte. In dieser Ausgabe versuchen wir, das Thema einzugrenzen und verschiedene Facetten sichtbar zu machen.

Ivan Sterzinger ist ein ehemaliges Redaktionsmitglied der Fabrikzeitung.

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