Nagel ist deutscher Autor, Musiker und Künstler. In seinem neuen Buch ‹Drive-By Shots› erzählt der ehemalige Muff Potter-Sänger und Linolschnittfertiger von merkwürdigen Orten und Begegnungen überall auf der Welt. Ein Skypegespräch von Basel nach Berlin über Punk, Schreibtechniken, Gedächtnislücken, Interdisziplinarität, allein Reisen und Flüchtlinge.

Michelle Steinbeck: Hallo. Was tust du gerade?
Nagel: Ich habe etwas Neues angefangen und schreibe.

Was?
Man weiss es noch nicht genau.

Erzähl mal von deinem aktuellen Buch.
Da sind Fotos und Geschichten dazu, die sich im weitesten Sinne ums Unterwegssein drehen. Ich war in den letzten Jahren viel unterwegs.

Warum?
Weil ich konnte. Ich hatte keine Band mehr und ein kleines bisschen geerbt, so, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben reisen konnte. Ich bin nie gereist als Kind und Jugendlicher, meine Eltern sind nie gereist. Und danach war ich ja immer faul und arm und Punk. Mit der Band hatte man dann das Gefühl von Unterwegssein und irgendwann habe ich gemerkt, dass ich echt noch nichts von der Welt gesehen habe. Und mir vorgenommen, dass wenn irgendwie Geld da war, es für Reisen auszugeben. Bei Lesungen habe ich dann Fotos davon gezeigt, und zu den Bildern erzählte ich kurze Anekdoten. Die wurden immer länger und irgendwann hab ich gedacht, man müsste die auch aufschreiben und eigentlich müsste man ein Buch draus machen, aber wozu denn? Dann hab ich noch zehnmal gedacht, wozu denn, und so ist es zu diesem Buch gekommen.

Was sind das für Geschichten?
Warte, ich hole mal mein Buch, ich weiss es gar nicht mehr. So. Was steht da eigentlich drin? Genau, es hat alles angefangen damit, wie mir in Vancouver auf der Strasse eine Kamera geschenkt wurde. Da kam ne Frau vorbei und war ein bisschen weird, aber sehr nett, die hat gefragt, ob sie mich fotografieren kann. Dann hat sie mir ihre digitale Spiegelreflexkamera geschenkt, weil ich ihr erzählt habe, dass meine kaputt gegangen war. Beziehungsweise getauscht gegen ne Polaroidkamera, die ich für einen Euro bei Ebay gekauft hatte. Da hab ich angefangen zu fotografieren und anders durch Städte zu gehen, mit einem dritten Auge quasi. Darum auch der Titel, ‹Drive-By Shots›, das ist alles so im Vorbeigehen entstanden. Ich hab mich immer treiben lassen und festgestellt, dass so die interessantesten Sachen passieren. Wie das mit der Kamera! Hätte ich nicht alleine in Vancouver downtown gesessen und Tagebuch geschrieben, dann hätte diese Frau mich nie angequatscht. Es gibt ein Kapitel im Buch, das heisst «Ich lauf allein». Da geht’s ums alleine Reisen, dass es allein nicht langweilig wird. Wenn man in Gesellschaft reist, ödet man sich ja gerne gegenseitig an und zieht sich runter – vorm Check in in der Schlange stehen, ein Albtraum. Alleine find ich das seltsamerweise erträglich. Weil das nicht so gespiegelt wird.

So sind also die Geschichten entstanden, und dann das Buch? Auf deiner Webseite prahlst du ja mit literarischen Techniken wie «Kick&Rush», «Copy&Paste» oder «Halts Maul&Spiel».
Na das sind natürlich keine literarischen Techniken, ne. «Show don’t tell» ist eine literarische Technik. «Kick and rush» ist glaub ich etwas aus dem Fussball; den Ball weit weg spielen und dann schnell hinterher. «Halts Maul und spiel» hat man früher öfter gehört, als ich noch ne Punkband hatte, wenn man da mal ne längere Ansage machen wollte, wurden die Punks nervös und haben gerufen: «Halts Maul und spiel!» – oder vielleicht hab ich das selbst mal zu ner Band gerufen, kann auch sein.

Inwiefern beinflussen sich die verschiedenen Disziplinen, in denen du arbeitest, sonst noch?
Ich bin halt Autodidakt, in allem. Ich hab nie irgendwas studiert. Das Einzige was ich hab, ist meine Energie oder Leidenschaft, und wenn ich an einer Stelle nicht weiterkomme, ist es gut irgendwas anderes zu machen. Also bevor ich mir an einem Kapitel komplett die Zähne ausbeisse, nehme ich die Gitarre auf die Knie oder mache einen Linolschnitt. So wechselt sich das ab und steht auch in Konkurrenz zueinander. Wenn ich nicht schreiben würde, hätte ich schon längst eine neue Band. Also hab ich ja, aber die kommt nicht an den Start, weil ich immer so beschäftigt bin.

Was können die verschiedenen Künste voneinander lernen?
Durch Literatur schreibe ich andere Songtexte und umgekehrt. Ich war ja Frontmann bei meiner Band damals, bei Muff Potter, und hab mich da nicht wohl mit gefühlt. Ich wollte Texte schreiben und singen, aber nicht um jeden Preis Frontmann oder Sänger sein. Bei Festivals sah ich mir die andern Bands an – so Stadionrock und seid-ihr-alle-gut-drauf – das fand ich immer ganz furchtbar. Ich wusste nicht, was ich da machen sollte, zwischen den Songs. Dann kam mein erstes Buch raus, ich bin auf Lesetour gegangen und auf einmal hab ich mich wohlgefühlt auch bei der Band vornezustehen. Ich hatte einen Weg gefunden, wie man Menschen unterhalten kann, ohne dummen Quatsch zu reden.

Und was würdest du machen, wenn nicht Kunst?
Keine Ahnung. Nichts. Saufen. Heroin.

Was wolltest du denn als Kind werden?
Weiss ich nicht mehr.

Erzähl mir was über Punk.
Punk? Hab ich überhaupt nichts damit zu tun. Ich hatte mal ne Punkband, aber die neue Band ist keine Punkband.

Was ist das für ne Band?
So eine Art… Punkband. Also was mich an Punk interessiert hat, damals, war die Energie und dieses Autodidaktentum: Hier ist n Akkord und hier noch einer, und jetzt gründe ne Band. Ich hatte mal Gitarrenunterricht und nichts gelernt, weil man sich da erstmal irgendwas draufschaffen musste, bevor man was spielen konnte – das ist überhaupt nicht mein Zugang zu Kunst. Darum war Punk gut; ich hatte drei Akkorde und konnte sofort einen Song schreiben damit. Es muss auch gar nicht Punk sein, man kann auch einen Hiphopbeat machen und da drüber rappen mit seinem Macbook oder so.
Die Leute in der Szene haben schnell gesagt: Das ist gar kein Punk, das ist viel zu poppig. Und die Texte sind gar nicht gegen Bullen! Aber man hat sich trotzdem in dieser Szene bewegt; in Jugendzentren, besetzten Häusern gespielt. Sich über die Szene auch oft lustig gemacht: Ich hab ein Fanzine, ‹Wasted Paper›, rausgegegeben, da wurde eigentlich nur gegen die Szene geschossen, damit sich möglichst viele darüber aufregen. Bei der letzten Ausgabe hatten wir einen Adolf Hitler mit diesen Blackflag-Balken als Bart, so geht das natürlich ganz gut. Punk im Punk sozusagen.

Was denkst du denn über die Jugend von heute?
Wird man nicht fürchterlich alt, wenn man etwas über die Jugend von heute sagt? Na, ein grosser Unterschied ist wohl, dass man sich damals viel weniger gemessen hat, weil man seinen eigenen Marktwert nicht kannte. Jetzt weiss jeder, wie viele Klicks bei Youtube oder wie viele Facebook-Likes er hat. Das war uns alles scheissegal, wir haben nur gesehen, wie viele Leute zu unserm Konzert kommen. Wir haben uns mit unserm Publikum angelegt, wenn wir es doof fanden und haben gehofft, dass die beim nächsten Mal alle nicht wiederkommen. Selbst die kleinste Jugendzentrumsband macht das heute nicht mehr; die hofft, dass nach dem Auftritt hundert Follower mehr da sind. Das macht sich bemerkbar in so ner Unbekümmertheit, die ich manchmal vermisse. Und die ich mir unbedingt bewahren will. Ich merke oft, dass ich damit aufpassen muss, dass es nicht so wichtig ist, dass man allen gefällt.

Freust du dich denn auf die Rote Fabrik?
Ja! Wir haben da einmal gespielt. Ans Konzert kann ich mich nicht mehr erinnern, aber an fantastisches Essen – wie immer in der Schweiz; jede Band erinnert sich erstmal ans Essen.

Bist du politisch?
Ich bin ein politisch denkender Mensch, aber nicht fest organisiert in einer Gruppe oder Partei. Das war ich zuletzt mit der Antifa in der Kleinstadt.

Du spendest einen Teil deiner Bücherverkäufe bei Lesungen an Sea Watch.
Das ist natürlich vor allem symbolisch, da kommen jetzt keine Unsummen bei rum. Es geht darum, ein Bewusstsein zu schaffen. Im Frühjahr, als mein Buch rauskam, ging das los mit den grossen Flüchtlingstragödien, dass da Boote gesunken und 700 Leute ertrunken sind. Ich hab währenddessen Interviews gegeben und wurde übers Reisen befragt. Die krasseren Reisen sind aber die von diesen Leuten, die versuchen hier rüber in die Festung Europa zu kommen, wo überall Zäune stehen oder man ihnen noch den Dachstuhl abfackelt. Und ich dachte, total absurd, dass ich hier übers Reisen rede, wenn die viel grösseren Geschichten sich hier vor unserer Tür abspielen.

Nagel kommt am 10. Oktober um 20.30 Uhr in den Clubraum und liest und zeigt Bilder aus seinem neuen Buch ‹Drive-By Shots›.
Mehr Info zur Arbeit von Sea Watch auf deren Seite: Sea Watch

Interview von Michelle Steinbeck

Michelle Steinbeck ist Autorin und Redaktorin der Fabrikzeitung.

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