Hunde haben ein Imageproblem. Wenn ein Mensch sich einfältig verhält, bezeichnet man ihn als «Dackel», geht er beim Fussball brutal zur Sache, schimpft man ihn eine «Bulldogge», und wenn er sich herzlos, ja, unmenschlich verhält, schilt man ihn einen «Zyniker» — ein Begriff, der vom griechischen Wort kýon, «Hund» abstammt. Dabei könnten uns Hunde so vieles lehren: über das Verhältnis zwischen Natur und Kultur, über Emotionen und Essentialismus, über die Dialektik von Herrchen und Knecht. Höchste Zeit für eine Ehrenrettung.

Seit knapp vier Jahren haben wir ein neues Familienmitglied: Jim, gerufen Jimmy, mit vollem Namen: Jim Beam. Ein Cockerspaniel von einer Züchterin am Stadtrand von Berlin, Fachmenschen werden sofort erkennen: Er entstammt einem J-Wurf, also dem zehnten Wurf der Züchterin, daher beginnen alle Welpennamen mit dem zehnten Buchstaben des Alphabets: Jalapeño, Jamiroquai, Jenny, Jorge, etc. pp. — nur einen Joe gibt es, ausgerechnet, nicht. Dass die Züchterin sich die einmalige Chance hat entgehen lassen, einen zotteligen Joe Cocker in die Welt zu entlassen, wird mir für immer ein Rätsel bleiben.

Jim ist ein Blauschimmel, riecht auch fast ge­nauso intensiv wie der gleichnamige Käse — die Bezeichnung bedeutet aber nur, dass er ein schwarzes Fell mit grauen Flecken hat, ausserdem einen so reinweissen Schwanz, dass Menschen uns manchmal fragen, ob wir ihn mit Wasserstoffperoxid gebleicht hätten. Haben wir natürlich nicht — ist alles Natur. (Wobei: Ist irgendetwas an diesem Tier natürlich? Dazu gleich mehr). Jim ist nicht so schön wie meine Frau, nicht so klug wie meine Tochter, nicht so humorvoll wie mein Sohn, und trotzdem liebe ich ihn manchmal mehr als alle Drei zusammen. Vor allem aber gibt er mir Rätsel auf, oder besser: regt mich zu wilden Spekulationen an. Tiere, so könnte man mit dem Ethnologen Claude Lévi-Strauss sagen, sind nicht gut zu essen, aber «gut zu denken». Hier also vier Thesen. Für jede Pfote eine.

Erstens: Es gibt keine Natur. Im aktuellen Asterix-Band «Asterix und der Greif» freundet der Hund Idefix sich mit einem Wolfsrudel an und jagt fortan, sehr zum Missfallen seines Herrchens Obelix, im wahrsten Sinn des Wortes wildgeworden durch die sibirische Taiga. (Wobei: Ist Obelix tatsächlich sein Herrchen? Auch dazu gleich mehr). Der Urtext für einen solchen verhaltensbezogenen Flashback ist natürlich Jack Londons Roman «The Call of the Wild», in dem der Schlittenhund Buck (offenbar ein B-Wurf) nach dem Tod seines Menschen dem titelgebenden Ruf der Wildnis folgt und wieder wölfisch wird. Anders gesagt: Nature schlägt nurture — ein bisschen frische Polarluft, Vorbild von Gattungsgenossen und der Hund erinnert sich rück an seine phylogenetischen Wurzeln, und 15’000 Jahre Zucht und Erziehung sind für die Katz’.

Eine romantische Vorstellung — allein: Durch meine persönliche Erfahrung mit Jim alles andere als empirisch gedeckt. Als wir unlängst beim nächtlichen Spaziergang einem Berliner Stadtfuchs begegneten, der so übel gegen den Wind stank, dass selbst ich ihn auf zwanzig Meter Entfernung riechen konnte, würdigte Jim ihn keines einzigen Blicks — ich glaube, er hat ihn nicht einmal bemerkt. Wenn er ein Kaninchen wittert, bekommt er es mit der Angst zu tun. Und wenn Jim abends in seinem Körbchen liegt, dreht er sich auf den Rücken, streckt alle Viere nach oben und gibt die Kehle frei, als wollte er förmlich im Schlaf von einem Fressfeind überwältigt werden. Ich sag’s nicht gern, aber: In der Wildnis würde er keine vierundzwanzig Stunden überleben. Die Zivilisation ist bei Jim kein Firnis, sondern zweite Natur, von seinen gattungsgeschichtlichen Wurzeln ist er so weit entfernt wie ein Haushuhn von einem Dinosaurier. Damit steht er freilich nur stellvertretend für unzählige andere Phänomene der menschlich überformten Naturkultur, wie sie unsere heutige Welt prägen: Man denke an genveränderten Mais, Mono­kulturwälder oder Hochleistungsmilchrinder, die kaum noch auf eigenen Beinen stehen können.

Zweitens: Es gibt keine Tiefe. Vor ein paar Wochen, beim Winterwandern in den Alpen, empfing mich eine Hütte mit dem Schild: «Es gibt so viele schöne Hunde auf der Welt, und ausgerechnet wir haben den Schönsten.» Jim konnte das zum Glück nicht lesen, ich versuchte es nicht persönlich zu nehmen, dachte aber zugleich: Unsinn — wir haben natürlich den Schönsten. Jim ist — ich glaube, ich erwähnte es schon — ein ausnehmend attraktives Tier, ja, man könnte sogar sagen: Die Schönheit ist sein eigentlicher und einziger Raison d’Être und zugleich seine evolutionäre Trumpfkarte. Nur wegen seines glänzenden Blauschimmelfells, seiner bernsteinfarbenen Augen und dieser wirklich UNFASSBAR durchtrainierten Augenbrauenmuskulatur, über die Wölfe, nebenbei bemerkt, nicht verfügen, und welche es Jim erlaubt, seine Augenbrauen quasi bis knapp unter das Firmament hochzuziehen, dass Gott erbarm’, kann Jim es sich leisten, so komplett wildnisfern und unwölfisch zu überleben.

Ein sehnsuchtsvoller Cockerblick, ein vorwurfs­volles Jaulen — und die Welt liegt ihm zu Füssen und bietet ihm demütig wie eine Opfergabe ein Schälchen mit Hundefutter dar. Survival of the prettiest. Mit dieser Strategie stellt Jim die traditionelle platonisch-christliche Annahme, dass das Sein wichtiger sei als der Schein, das Wesen wichtiger als die Oberfläche, die Idee bedeutender als ihr lebensweltlicher Abglanz, aber so was von in Frage. Die Weisheit des Cockers lautet: Scheiss auf das Sein — Schönheit ist genug. Dem Glaube an inneren Werte stellt Jim das Prinzip der anti-essenzialistischen Niedlichkeit entgegen. Er ist eine einzige, flauschige, fellige Feier der Oberfläche.

Drittens und darauf aufbauend: Es gibt keine Liebe. Dazu muss ich sagen: Als Jim noch klein war, habe ich ihn gehasst. Er zerkaute meine besten Schuhe und Socken, er kackte andauernd aufs Parkett, er weckte mich jede Nacht mindestens drei Mal auf und musste dann vier Stockwerke, dreiundneunzig Stufen, zum Gassigehen auf die Strasse geschleppt werden (der empfindliche Welpenrücken!), wobei er in gefühlt neunzig Prozent aller Fälle sein Geschäft schon auf dem Arm verrichtete, sodass ich mitten in der Nacht mit vollgepullertem Schlafanzug auf der kalten Strasse stand, während Jim untätig daneben sass und treuherzig vor sich hin blickte (die durchtrainierten Augenbrauenmuskeln!). Aber, hey: Vergeben! Vergessen! Mittlerweile liebe ich ihn, ich glaube, ich erwähnte es bereits, abgöttisch, und er liebt mich, glaube ich, auch.

Oder? Schwer zu sagen. Klar, er wedelt mit dem Schwanz, wenn ich nach Hause komme. Klar, er springt an mir hoch wie ein Flummi. Klar, er leckt mir mit seiner nach Blauschimmel riechenden Zunge, mit der er sich Sekunden zuvor wahrscheinlich noch den Genitalbereich saubergemacht hat, hingebungsvoll das Gesicht ab, und ich fühle mich emotional irgendwie gemeint — aber ist das tatsächlich Liebe? Oder ist Jim vielmehr ein reines Reiz-Reaktionsbündel, eine Art kartesianische Hunde-Maschine, die halt auf gewisse Impulse mit einem bestimmten Bewegungsprogramm antwortet — Schwanzwedeln: check, Hoch­springen: check, Gesichtablecken: check —, und weil ich halt so ein hoffnungsloser Romantiker bin und mit so einem materialistischen Weltbild nicht umgehen kann, schreibe ich diesen behavioralen Automatismen dann bestimmte emotionale Werte zu. Und verhält es sich beim Umgang mit Menschen nicht genauso? Wissen wir wirklich, was in Anderen vorgeht, wenn sie uns anlächeln, wenn sie uns umarmen, wenn sie uns (pfui, aus!) das Gesicht ablecken? Wissen wir wirklich, was sie denken oder für uns empfinden? Ja: Wissen wir überhaupt, was wir selbst empfinden? Sind wir Herr beziehungsweise Herrin über unsere Gedanken und Gefühle?

Womit wir zum vierten und letzten Punkt kommen: Es gibt keine Herrschaft. Wie vermutlich alle Cocker rennt Jim begeistert allen Stöcken, Bällen und Frisbeescheiben hinterher, die ich in die Gegend schleudere, legt sie mir dann wedelnden Schwanzes vor die Füsse und kläfft so lang, bis ich sie wieder fortwerfe. Ich glaube, er würde selbst in die Hölle rennen, wenn ich ihn mit einem beherzten «Hol das Stöckchen!» dorthin schicken würde (er ist, muss man dazu sagen, zwar sehr schön, aber nicht gerade die hellste Kerze am Baum). In der Terminologie des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel könnte man sagen: Ich bin der Herr, und er ist der Knecht. Oder ist unsere Beziehung wo-möglich doch weitaus dialektischer? Anders gesagt: Rennt Jim tatsächlich dem Stöckchen hinterher, weil ich es fortwerfe – oder werfe ich es, umgekehrt, fort, weil er es apportiert? Reagiere nicht auch ich auf jeden Stock, Stein und Ball, den er mir mit zitternden Lefzen vor die Füsse legt, so konditioniert wie ein Pawlow’scher Köter: nämlich indem ich den Gegenstand mit einem bedingten Reflex wieder von mir schleudere? Muss mein Hund nicht glauben, dass er mich zum Stöckchenwerfen dressiert hat?

Ob Jim tatsächlich zu solch komplexen Denkleistungen in der Lage ist, wage ich, wie gesagt, zu bezweifeln – fest steht, dass es zumindest von seinen Vorfahren ziemlich raffiniert war, sich domestizieren zu lassen und so zu tun, als dienten sie hündisch dem Menschen. Letzten Endes profitierten nämlich jene Wolfs- oder Schakalartigen, die sich erstmals an einen Steinzeitmenschen kuschelten, seine Zelte bewachten und seine Jagdbeute apportierten, von dieser Symbiose in Zahlen betrachtet gewaltig: Wolfsrudel gibt es in der Schweiz heutzutage gerade mal zwanzig Stück, mit insgesamt etwa 180 Tieren — ihnen gegenüber stehen aber über eine halbe Million Hunde, die ein Dach über dem Kopf haben, gegen Krankheiten geimpft sind und mit Spezialfutter für alle erdenklichen Altersgruppen, Gewichtsklassen und Lebenslagen verwöhnt werden: Bedingungen, von denen ihre unanpassungswilligen Gattungsgenossen nur träumen können.

Hinzu kommt: Die sogenannte Domestizierung des Hundes begann menschheitsgeschichtlich schon lange, bevor es ein zugehöriges domus gab, das diesen Namen verdient; vor etwa 15’000 Jahren kam das Haustier – erst über 5’000 Jahre später kam das Haus. Haben uns also womöglich die Hunde erst beigebracht, sesshaft zu werden? Haben sie uns darauf dressiert, das Fleisch für sie zu erjagen, sie vor Kälte und Fressfeinden zu schützen, Hütten für sie zu bauen und uns dann netterweise erlaubt, daneben auch noch ein Häuschen für uns selbst zu errichten? Anders gesagt: Verbirgt sich hinter ihrer freundlich hechelnden Fassade womöglich nur eine berechnende, im wahrsten Sinne des Wortes kynische Vernunft? Wie in der Hegel’schen Dialektik ist die Machtverteilung zwischen Mensch und Hund jedenfalls alles andere als klar. Fest steht nur: Jim ist nicht mein Knecht, und ich bin nicht sein Herr. Allenfalls bin ich sein Herrchen.

Von Florian Werner

Florian Werner, 1971 geboren, schreibt erzählende Sachbücher und Prosa, arbeitet für den Hörfunk und lehrt an der Hochschule der Künste in Bern. Zuletzt veröffentlichte er: «Der Stuttgart-Komplex. Streifzüge durch die deutsche Gegenwart» (Klett-Cotta 2022). Er lebt mit Frau, Kindern und Hund in Berlin.

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