Heute also Spargel. Mit Petersilienkartoffeln. Und drei Stück Katenschinken haben sie uns in einem zusätzlichen Plastikbehälter bereitgestellt. Drei. Vor noch nicht allzu langer Zeit hat mich das jedes Mal fertiggemacht. Dass sie nur noch drei Portionen mitgeben. Einmal bin ich einfach zusammengeklappt, ein andermal habe ich alles gegen die Wand geworfen, welche wir dann neu streichen mussten, was immerhin eine Abwechslung war. Meistens habe ich das Zeug nicht anfassen können und geweint.

Jetzt aber drapiere ich still die drei Teller, giesse die Hollandaise aus dem Fläschchen drüber und bringe alles rüber ins Wohnzimmer. Bevor wir zu essen beginnen, ziehe ich die Vorhänge zu. Zuerst aber ein kurzer Blick auf die Strasse, wo der Laster, der das Essen bringt, nun beim Haus gegenüber steht. Das ganze Theater auch dort: Es wird eine Brücke ausgefahren und ein paar Vollmaskierte desinfizieren den ganzen Eingangsbereich. Dann rollen sie die Kasten mit dem Essen rein und holen die gebrauchten ab. Warum der Lastwagen während dem ganzen Prozedere piepst? Auch darauf haben die Behörden keine Antwort.

Schweigend essen wir. Wieder zum Kotzen köstlich, der 3D-Drucker-Frass. In der Krise wird plötzlich so vieles möglich. Es wird gemunkelt, dass die Technologie dafür längst ready war, sie wurde nur auf Druck der Lebensmittel-Lobby zurückgehalten. Der Virus hat einige Dämme eingerissen, die den Fortschritt künstlich gehemmt haben. Dafür profitieren wir jetzt alle: Wie beim Ikea PAX-Planer designen wir uns wöchentlich unsere Mahlzeiten. Es gibt sogar Bio-Varianten. Und es schmeckt hervorragend. Nur löst man sich wahrscheinlich auf, wenn man das Zeug isst.

Das klingt jetzt vielleicht cray, aber wir können uns nicht anders erklären, was da mit Heli passiert ist. Stück für Stück hat er sich aufgelöst. Es war der absolute Horror. Und trotzdem essen wir auch heute, hauen so richtig rein.  Schliesslich sind uns nur diese zwei Mahlzeiten am Tag geblieben. Wie die Mäuse haben wir alles leergefressen, in den Schränken ist nix mehr zu knabbern oder so. Wie da verzichten?, mein ich. Der Spargel schmeckt wie frisch vom Feld.

Ich meine, es könnte auch was anderes sein, was mit Heli passiert ist. Vielleicht sind’s ja auch irgendwelche Strahlungen, vielleicht ist da draussen ein scheiss Reaktor explodiert und es wird uns verschwiegen, weisst du? Man hat ja sonst kein Vergnügen hier drin, die Mahlzeiten sind das einzige, was uns an unser altes Leben erinnert – und wenn das uns Schritt für Schritt auflöst, dann soll’s so sein. Ich fang hier doch nicht an, die Lederjacke geschweige denn das Sitzleder zu kochen. Wir sind ein gutes Haus!

Hier sind früher Gäste ein und ausgegangen, 50, 60 Leute die Woche, grosse Tafeln, an welchen gelacht und gespeist wurde. Wir hatten immer genug für alle und genug dafür, dass alle am nächsten Tag zum Resteessen kommen mussten. Da hatten wir aber schon wieder neue Vorzüglichkeiten präpariert, es blieben wieder Reste und so mussten alle auch am nächsten Abend wieder kommen. Jahre! Das war unser Gebet, alles was wir taten, drehte sich ums Essen. Es war Antrieb, der Grund, wieso wir unsere Arbeit so schnell wie möglich erledigten, der Grund, weshalb wir Jobs annahmen, die wir eigentlich nicht machen wollten.  Wir brauchten das Geld für die exorbitanten Einkaufskosten – allein der Olivenölverbrauch unserer Küche war wöchentlich eine Badewanne. Und der Wein erst. Und natürlich der Kübel.

Der war prallgefüllt, dieser Kübel, der Deckel sogar ausgebeult, so voll mit Gras. Hat mir Billie mal geschenkt, einfach so. Balcony grown. «Ist sicher 800 Franken wert», behauptete er, als er mir den Kübel damals in die Hand drückte, obwohl ich nur nach einem Räuchi gefragt hatte. Und so ist dieser Kübel in meinen Besitz übergegangen – und ich wurde vom Hobbykiffer zum Grossverteiler. Immer wieder habe ich grosszügige Fuffies an  Freundinnen und Freunde verschenkt, nie ging ich sparsam mit dem Zeug um und packte immer zu viel Gras in die Joints. Und trotzdem wurde er nicht leerer. Es verging ein ganzer Sommer, es verging ein Herbst, es verging ein Winter und dann war schon ein ganzes nebliges Jahr vergangen und verändert hatte sich lediglich, dass man nun den Deckel gut schliessen konnte.

Es kamen noch mehr Gäste als sonst, 80, 90 die Woche. Wir hatten immer Full House und ich stand in der Küche und kochte. Zwischendurch, während das Pastawasser aufkochte, ging ich kurz auf den Balkon und rauchte mit den Rauchern einen Jibbit und erzählte, wie ich es geschafft hatte aufzuhören mit den Zigaretten. Dann assen wir, immer festlich und mit viel Butter und Öl, um uns dann dem Grappa und Kaffee zu widmen. Dazu packte ich den Kübel aus und es gingen die Joints rum, und Leute, die sonst nie kifften, verloren ihre Contenance, während ich abgebrüht für Nachschub sorgte und Kollabierende pflegte. Meist päppelte ich die Ausgeknockten mit Zuckershots auf: Gummibärchen, Kelloggs oder Ragusa, dazu Zitronenwasser und Orangensaft.

Es folgten die eifrigen Diskussionen und Lachanfälle, bevor uns die Couch verschlang und wir die Formen der Decken-Stuckatur innerlich nachmalten. Dazu lief ständig Musik, die die ganze Nachbarschaft durch die Träume begleitete. Wer mal fitter wurde, stand auf und tanzte in der Mitte des Wohnzimmers, falls da nicht jemand lag. Und diejenigen, die sich in einer dieser Nächte bei uns einmal so verloren hatten, kamen wieder und wieder. Der Kübel wurde zu einem Magneten. 

Aber dass Curly und Heli mal in unserer Wohnung festsitzen würden, hätten wir uns nicht im Traum ausgedacht. Sie waren eigentlich auf Durchreise. Wir hatten sie zu einem exklusiven Znacht eingeladen, zur Feier des Tages bloss zu viert. In unseren Räumlichkeiten hatten wir bis dahin keinerlei Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, war das bei unserer Fluktuation an Gästen schon fahrlässig. Bei uns gingen ja wöchentlich 100, 200 Leute ein und aus, benutzten Türklinke und Klo, assen mit unserem Besteck, gaben Küsschen, machten rum.

Selbst an jenem Abend noch tischten wir einen fetten Wackelpudding auf, den wir mit rotierenden Löffeln vom Servierteller schaufelten. Und je später es wurde, desto ungenauer nahmen wir es mit den Gläsern. Ego-Joints kamen eh nicht in Frage, wer sind wir denn? Wir hätten die News etwas ernster nehmen können, ehrlich gesagt. Wir wussten ja: Eigentlich hätten wir zu dem Zeitpunkt gar niemanden empfangen sollen. Der öffentliche Verkehr war da bereits seit Tagen lahmgelegt, zur Arbeit «durften» nur noch die wenigsten.

Aber wir waren in unserem Film, weisst du. Unser ganzes Leben war eine Serie, wir lebten eine eigene Logik, die gar nicht viel mit dem sonstigen Weltgeschehen zu tun hatte. Natürlich wurde ab und an auch über Tagesaktuelles geredet, wurden gesellschaftliche Debatten geführt. Aber haben wir es so richtig an uns rangelassen? Wenigstens Mundstücke für die Joints hätten wir organisieren sollen oder so. Aber wir wollten einfach die nächste Folge, die nächste Episode dieses Lebens, und unser Drehbuch hatte nicht vorgesehen, ein Quarantäne-Special zu werden. 

Heli kam rein an dem Abend, kreideweiss. Wir schauten darüber hinweg, wir kannten ihn ja nicht, er war einfach die Begleitung von Curly. Beim Händewaschen betrachtete sich Heli im Spiegel und sagte: «Scheisse, bin ich blass». Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich heute daran denke. Weil er den Satz im späteren Stadium seiner Auflösung, so nannten wir es irgendwann, noch einmal gesagt hatte, wieder über das Waschbecken gebeugt, das Gesicht ganz nah am Spiegel: «Scheisse, bin ich blass». Da hatte er bereits ein Bein weniger und ein Ohrläppchen fehlte.

Die Frage ist natürlich, ob er, als wir ihn kennenlernten, schon «befallen» war. Also nicht vom Virus, sondern von der Sache, die macht, dass man sich auflöst. Das würde dann ja auch bedeuten, dass es doch nix mit dem Essen und auch nichts mit irgendeiner Strahlung zu tun hat und wir uns zumindest in diese Richtung nicht weiter den Kopf zerbrechen müssten. Aber er hat es sich dann ja selber erklärt: «Hab gestern wieder übertrieben. Bei dieser Illegalen, war das extrem. Als wäre es die letzte Party auf Erden. Alle haben rumgeknutscht, sind miteinander im Spargelfeld verschwunden.» Also das hat er erzählt, als er seine Blassheit zum ersten Mal festgestellt hat. Beim zweiten Mal hat er kopfschüttelnd den Stock genommen, ist auf uns zu gehumpelt und sagte: «Das geht so weiter, bis ich nicht mehr da bin… So eine Scheisse.»

Es liegt auf der Hand, dass er sich bei der Party was eingefangen hat. Vielleicht hat ihm jemand was in den Drink gekippt. Das Virus hatte er ja nicht, wie bei den regelmässigen Routinechecks immer wieder festgestellt wurde. Aber wie abgefuckt waren denn bitte die Reaktionen des Pflegepersonals? Wie sie einfach nicht darauf eingingen, dass ihm ganze Gliedmassen fehlten.

Wie Roboter haben sie ihren verständnisvollen Blick aufgesetzt, vielleicht sogar eine Hand auf Helis Schulter gelegt (solange sie noch da war), um dann irgendwas in ihre Tablets zu tippen. Und sich zu verabschieden mit den Worten: «Wir kommen dann in zwei Tagen wieder. Und wegen der anderen Sache kommt asap ein Doktor.» Asap.

Einmal ist Heli ausgetickt, hat den Pfleger mit der rechten Hand an der Gurgel gepackt und gegen die Wand gedrückt, die ich später neu streichen musste. Da fehlte ihm die linke schon. «Wenn ihr mir nicht sofort sagt, wann der Herr oder die Frau Doktor vorbeikommt, dann brauchen wir hier gleich alle einen Doktor, oder eine Doktorin!» Der Pfleger wurde blass und presste raus: «Sie sind auf der Warteliste! Sie sind doch schon auf der Warteliste!» Heli verstärkte den Würgegriff. «Und wie lange muss ich warten?» «Lassen Sie mich nachsehen!» Heli liess den Hals los und der Pfleger kroch zitternd zu seiner Tasche, holte das Tablet vor und verkündete: «Noch 1345 Tage.» Dann stürmten Soldaten die Wohnung und schossen Heli mit mehreren Betäubungspfeilen runter. Eine viel zu starke Dosis, er wäre fast daran krepiert. Sie liessen ihn einfach so liegen, zogen ihm bloss wie bei einem im Kampf erledigten Stier die Pfeile aus dem Rücken, halfen dem Pfleger auf und verliessen die Wohnung. Natürlich nachdem sie alles vorschriftgemäss desinfiziert hatten. 

Eine andere Pflegerin gab immerhin zu, dass sie sowas noch nie gesehen hätte: «Also Sie wollen mir weismachen, Sie hätten vor zwei Tagen noch einen grossen Zeh gehabt?» Das war noch in einem sehr frühen Stadium. «Ja, verdammt, wenn wir es doch alle bezeugen!» «Und der ist einfach verschwunden?» «Ja man, wie in diesen Träumen, wo man plötzlich Zahnlücken hat, und dann ist der Zahn aber nirgends. So war es. Ich spüre, da fehlt was, dann zieh ich die Socke aus und der scheiss Zeh ist weg!» Die Pflegerin guckte angeekelt auf den entblössten Fuss von Heli, den er in der Mitte des Wohnzimmers auf den Hocker gelegt hatte. Dann sagte sie: «Sowas hab ich noch nie geträumt.» Curly ergänzte: «Wenn ich solche Träume habe, sind die Zähne noch da. Also ausgefallen, aber sie liegen auf der Zunge, in Blut.»

Da dachte die Pflegerin, das sei nun der Beweis, dass sie hier verarscht würde und packte ihr Zeugs. Oder sie befolgte lediglich die Anordnung, alle anderen Krankheiten nicht zu behandeln. Oder sie hatte explizite Anordnung, beim Verschwinden von Gliedmassen so zu acten, als denke sie, sie würde verarscht. Wer zur Hölle weiss das schon? Ich meine, wie aggressiv das Militär auftritt, ist doch wild. Sie setzen diese Betäubungspfeile ein, als wären wir wilde Tiere. Dass sie ihn so haben liegen lassen, das beweist doch ihre mörderische Absicht. Es ist alles ein abgekartetes Spiel. Das Virus, die Auflösung von Heli, die Essensauslieferung, die Quarantäne.

Nachdem wir den Spargel gegessen haben, gehen wir in die Couchecke und langen in den Kübel. Es ist unser Witz des Tages, der einzig erlaubte. Die Zelebration der Doppelmoral: Wir drehen je unsere eigenen Joints, fassen aber alle in denselben Kübel. Die letzte Bastion des zivilen Ungehorsams. Wir rauchen schweigend. Früher haben wir noch ferngesehen, als Streaming nur noch selten erlaubt war. Aber selbst in Krisenzeiten langweilte uns das zu Tode. Ich meine, man verändert ja nicht sofort den Charakter, wenn man mal bisschen eingesperrt ist. Wir hielten unsere Kultur hoch: Wenn hier ferngeguckt wird, dann muss es schon ein historisches Event sein. 9/11 oder Fussball-WM oder Assanges Hinrichtung. Oder natürlich Sopranos und Bumann. Sonst nix.

Aber wir waren ja nicht alleine eingesperrt. Curly und Heli hatten ihre eigenen Rituale, und die konnten wir ja nicht einfach übergehen. Sie schauten während des Essens gerne Tagesschau. Damit konnte ich mich anfangs abfinden. Aber in Kombination mit dem Verschwinden einzelner Gliedmassen Helis wurde es unerträglich. Das Zeitgeschehen dargestellt in den staatlichen Beschwichtigungs-News und dann die Realität direkt vor Augen: Ein Mann, der bald seine zweite Hand verliert. Es verdarb mir nach und nach den Appetit, und zum ersten Mal in meinem Leben schüttete ich einen Grossteil meiner Portionen weg. Bzw. ich gab sie weiter an wer halt noch Appetit hatte. Und das war häufig Heli.

Da wir zu der Zeit wirklich in sehr angespannter Stimmung lebten, regelmässig jemand Anfälle bekam oder zusammenbrach, sprach ich nicht an, dass mir die Tagesschau auf den Magen schlug. Ausserdem lenkte die Tagesschau uns zwar nicht von den leidigen Themen ab, aber wir mussten sie wenigstens nicht nochmal miteinander besprechen. Dazu waren ja die Tage lang genug. Ich ass einfach weniger und Heli etwas mehr.  

Eines Abends stand ich unter der Dusche und bemerkte einen kleinen Knubbel am Inneren meines grossen Zehs. Wie eine Warze, die sich unter der Haut versteckt. Das Ding wurde mit jedem Tag grösser und auch härter, sodass es sich irgendwann anfühlte, als hätte sich da Knorpel gebildet. In Anbetracht der Situation, dass Heli da bereits vier Zehen und eine Hand verloren hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als allen Bescheid zu geben.

Ich platzierte meinen Fuss auf demselben Hocker, auf welchem Heli seinen vor ein paar Wochen platziert hatte, um der Pflegerin zu beweisen, dass er einen Zeh weniger hat, und ich präsentierte meinen grossen Zeh.

«Leute, ich glaube, an meinem Zeh wächst noch ein Zeh!» Heli kniete sich hin und roch erstmal an meinem Fuss. «Hätte ich wenigstens meine Nase nicht mehr.» Damals machten wir noch häufiger Witze, unser Humor war noch nicht ganz gebrochen. Er betatschte unfachmännisch meinen Zeh. «Das kann Weissgottwas sein.» «Ok, aber wir sind uns einig, dass da was wächst.» Curly mischte sich ein: «Was soll das heissen, da wächst was? Lass mich mal sehen.» Alle begutachteten meinen Fuss ausgiebig und kamen zum Schluss: Ja, da wächst was. Wir behielten es im Auge.

Das Essen war noch nicht Gegenstand unseres Verdachts geworden. Ein kausaler Zusammenhang dazwischen, dass ich weniger esse und mir was wächst und Heli mehr isst und ihm Gliedmassen verschwinden – wir hätten das als Kiffer-Paranoia abgetan. Irgendwann konnte ich es nicht mehr ertragen: Die täglichen Fussvisiten in versammelter Runde, die zweitäglichen Untersuchungsbesuche, das Essen aus den Plastikbehältern von fucking 3D-Druckern erzeugt…

Ich schnitt mit dem Taschenmesser die aufgewölbte Innenhaut meines Zehs auf. Das Blut floss in die Badewanne. Und da ich kaum Blut sehen kann, kippte ich tatsächlich um. Als ich wieder aufwachte, lag ich im Bett und mein Fuss war in ein Frottee-Tuch eingewickelt. Tel lag neben mir. «Da bist du ja wieder», sagte sie. «Na, willst du wissen, was es ist?» Wir wickelten das Tuch weg und betrachteten, was da aus meinem Zeh spross. Es war eine kleine Knospe. «Spargel», meinte Tel. «Was Spargel?» «Curly meint, es ist eine Spargelknospe.» «Das kann man jetzt schon erkennen?» «Keine Ahnung. Willst du einen Tee?» 

Heute gucken wir also nix. Zu dritt. Heli ist weg. Rauchend trinken wir Tee. Der Lastwagen piepst noch immer. Ich lege eine Platte auf. Es ist das einzige noch tolerierte Medium im Haus, auf alles andere haben wir kein Bock mehr. Ab und zu chatten wir mit Verwandten, aber auch das hält sich in Grenzen und muss im Hinterzimmer erledigt werden. Nichts bringt Heli zurück.

Ich lege meinen Kopf in Tels Schoss und lagere meinen Fuss hoch. Wir haben uns entschlossen – mehr aus Langeweile als aus biologischem Interesse – den Spargel wachsen zu lassen. Mittlerweile hat er eine Länge von stattlichen 6 Zentimetern! Er wächst quer über die anderen Zehen drüber und ist weiss. Socken kann ich nur noch rechts tragen. Tel giesst ihn manchmal zum Spass. Und ich muss sehr sorgfältig gehen, damit er nicht abbricht. Aber das sind alles willkommene Herausforderungen, die den Tagesablauf erträglicher machen. 

Wir hören Calcutta. Seine Stimme windet sich durchs Zimmer. «Ma Milano è un ospedale / E io stasera torno giù e ritorno a respirare». Jeder Song, jeder Film, jedes Gedicht, alles hat eine neue Bedeutung bekommen. Das meiste müsste umgeschrieben werden, passt nicht mehr zu dieser Welt. Calcutta schon, er ist unser Prophet. «Aber Milano ist ein Krankenhaus / Und heute Abend komm ich wieder runter und fange wieder an zu atmen.»

Es ist schwer zu sagen, wovon wir mehr traumatisiert sind. Von der Auflösung Helis. Oder von den generellen Umständen: Vom Eingesperrtsein. Von der Hilflosigkeit. Wer auf den Balkon geht, wird nach einer gewissen Zeit geblitzt. Sie haben auf den Strassen und auch in den Hinterhöfen Hightech-Maschinen aus Südkorea aufgestellt. Die Bussen werden wöchentlich abgerechnet und direkt vom Konto abgebucht. Sie sagen, die Einnahmen gehen zu 100% an die Spitäler. Wir denken, diese Dinger müssen erstmal abbezahlt werden und wir bezahlen das, indem wir absichtlich etwas länger auf dem Balkon sitzen bleiben und uns dabei rebellisch und spendabel zugleich fühlen. 

Ich schliesse die Augen und Tel küsst meine Lider. Curly bläst den Rauch in die Blätter der Topfpalme. Curly behauptet, das tue der Pflanze gut. Tatsächlich strahlt sie grün. Einmal wollte Curly auch den Spargel mit Rauch anpusten, aber das ging mir zu weit. Der einzige erlaubte Witz im Haus ist der gemeinsame Griff in den Kübel! Und den machen wir schon genug oft. 

Der Spargel hörte nicht auf zu wachsen, als ich wieder mehr zu essen begann. Das hatte unsere Theorie etwas durcheinandergebracht. Und als Heli aufhörte zu essen, was aus dem Drucker kam, da nahm er ziemlich heftig ab. Und verlor weiter an Gliedmassen. Heli war selber mit der Theorie gekommen. Ich lag noch mit Tel auf dem Bett und bestaunte die Spargel-Knospe, als Heli reinkam. «Sorry, ich will nicht stören. Aber ich hab doch in letzter Zeit mehr gegessen. Und du weniger. Ich schrumpf hier weg und dir wächstn Spargel aus dem Zeh.»

Er verlangte von mir, wieder normal zu essen. Und er werde seine Ration wegschütten. «Alter, wenn das Zeug macht, dass man sich auflöst, dann ess  ich das auch nicht. Dann sollten wir alle aufhören, es zu essen.» Ich machte eine Pause. «Und wir wissen alle, dass das nicht geht.» «Dass was nicht geht?» «Nicht zu essen. Es ist das einzige, was uns bleibt.» «Wenn dich dasjenige umbringt, was du isst, dann isst du es doch nicht!» «Und verhungere stattdessen? Und verwahrlose? Verliere meine Kultur? Du bist doch verrückt, Heli!» Da schrie er auf und wurde noch blasser, als er sonst war. Er beugte sich: «Meine Hoden. Ouh. Kennst du das Gefühl, wenn deine Hoden so hochrutschen? So zieht es da gerade. Oh nein, nicht meine Eier!»

Das war heftig. Von da an war alles anders. Ich meine: Jeden Tag war irgendwas neu, war irgendwas anders.Aber nachdem Helis Eier verschwunden sind, sich aufgelöst hatten ins Nichts, da war der Hausfrieden gebrochen.

Ich will gar nicht davon anfangen. Diese Bilder! Heli steht in der Küche und schlägt seinen Kopf gegen den Küchenschrank. Curly und Heli liegen Arm in Arm im Badzimmer und weinen bitterlich. Heli, der seinen eigenen Körper abküsst und flüstert: Bleib da, und du auch, und du auch. Der im Schneidersitz auf dem Boden hockt und murmelt: My immune system works perfectly. Tel und ich sind mit durch die Hölle.

Ich habe Abgründe erlebt, und das einzige was half, war der Kübel. Wir versammelten uns immer, nachdem wir uns beruhigt hatten, nachdem wieder jemand einen Anfall hatte, jemand aus dem Balkon zu klettern versuchte oder ein übler Streit ausbrach, der in Weinkrämpfen endete – immer dann versammelten wir uns schweigend um den Kübel und griffen rein. Wie jetzt, nur da noch zu viert. Heli konnte irgendwann nicht mehr selber drehen. Curly gab sich dann besonders Mühe, egal, was davor Übles gesagt wurde. Der Geruch des trockenen Heus zog in die Palmenblätter, in die Sitzpolster, in die Deckenfarbe, räucherte das Gebälk aus und drang bei den Nachbarn oben angeblich durchs Parkett. Aber was wollen sie tun. Hat bei ihnen auch jemand seine Eier verloren? Haben die auch Heli verloren?

Heli hörte also auf zu essen und verlor an Masse. Den Eiern folgte das Bein und zeitgleich das Ohr. Jeden zweiten Tag kamen andere Pflegerinnen und Pfleger, man konnte überhaupt keine Beziehung aufbauen. Routiniert checkten sie, ob jemand das Virus hat und hauten sofort wieder ab. Manchmal erbarmten sie sich eines Blickes auf Helis fehlende Gliedmassen, einer guckte sich sogar die Eier an, aber immer sagten sie bloss: «Sie sind auf der Warteliste.» Und beim Eiercheck: «Das sieht nicht gut aus.»

Und als er dann das Bein verlor, verlor er auch den Kampfgeist. Ab da war er schnell nur noch mit sich selber beschäftigt, wie das Todkranke so machen. Da seit dem Zwischenfall mit dem Pfleger die Fluktuation an verschiedenen Pflegenden noch höher wurde und diese immer mit Militärschutz aufkreuzten, wehrten wir uns kaum. Sie kamen, machten ihre Messungen und gingen wieder. Und als er nur noch ein Häufchen war, liess ein Pfleger schliesslich empört verlauten, dass dieser Fall doch längst unter der Kategorie «Lebensgefahr» hätte eingestuft werden sollen – auch, weil da die Wartelisten erheblich kürzer seien.

Das war der Moment, als ich den Fehler beging und den Pfleger zu ohrfeigen versuchte, ich war so verzweifelt. Dabei wurde ich direkt vom Gewehrkolben eines Soldaten ausgeknockt. Bei der Pflegevisite am nächsten Morgen war dann eine andere Pflegerin dabei. Und Heli bereits verschwunden. Und als sie an dem Abend das Essen brachten, waren’s nur noch drei Portionen. 

Mit von Schmerzen pulsierendem Kopf durchlitt ich jene schreckliche letzte Nacht, in der Curly und Tel abwechselnd Wache hielten. Ich siechte auf dem Bett, vom Schlag in eine Art Wachkoma versetzt, vor mich hin, während im anderen Bett Heli von uns ging. Zum Glück war er ruhig und friedlich und schien vor nichts mehr Angst zu haben. Aber für uns, die wir zurückblieben, war dieses letzte Verschwinden, war diese Nacht ein Alptraum, von dem wir wussten, dass wir nie wieder aus ihm aufwachen würden.

Und da war er nun. Der Alptraum. Zu dritt rauchen wir und hören Calcutta, während endlich die Piepserei vom Lastwagen aufhört. Als die Platte fertig ist, steht Tel auf und legt nichts neues nach. Sie geht zum Balkon, öffnet die Tür. Sie zieht die frische Luft ein. «Ich werde nie wieder Heliumballone inhalieren können, ohne an ihn zu denken», murmelt Curly. «Keine Witze! War doch deine Regel», sage ich zu Curly.

Tel sagt: «Es ist so hübsch da draussen. Wie friedlich alle zuhause rumhängen. Man könnte meinen, es ist wie in einem guten Zoo. Alle sind möglichst artgerecht gehalten, in ihren ergonomischen Sesseln an höhenverstellbaren Schreibtischen. Naturfeeling mit leicht verstaubten Zimmerpflanzen. Aber Zoo bleibt Zoo. Die Eingesperrten greifen sich unkontrollierbar an, die häusliche Gewalt steigt.» «Bäh!», macht Curly.

«Was auch wie im Zoo ist: Wenn ich mal raus will, kann ich das tun. Aber ich weiss, dass ich da noch mehr beobachtet werde.» Tel macht den Schritt auf den Balkon. «Und es kostet», rufe ich dazwischen. «Ich meine nicht die anderen Eingesperrten, die gucken, wie ich hier auf dem Balkon rumstehe», fährt Tel fort, «ich meine die da!» Sie zeigt auf die weissen Fotomaschinen, von welchen alleine von unserem Balkon aus acht Stück zu sehen sind. «Ich meine, wer sind die? Wer wertet diese Bilder aus?» «Algorithmen», bleckt Curly, «Tel, das ist so 2020, sich darüber zu beklagen, dass gewisse Verantwortungen und Entscheidungen jetzt bei Algorithmen liegen.» «Wie kannst du das sagen? Wir haben doch deswegen Heli verloren.» «Ich habe Heli verloren. Und das hat damit nix zu tun.» «Ach ja?» Tel zieht ihre Augenbraue herausfordernd hoch und wird in dem Moment geblitzt.

Die Bilder hängen sie einem bei der «Spendenbestätigung» per Mail an, als Beweis, warum sie dich büssen dürfen. Der Ablauf ist komplett automatisiert und läuft mit Gesichtserkennung. Curly sagt: «Nichts bringt mir Heli zurück. Vielleicht hat ihm auf der Party jemand was ins Getränk getan. Vielleicht ist es dieses 5G. Vielleicht ist das Virus mutiert. Vielleicht ist es der Bio-Scheiss aus dem Drucker, mein Gott, so what? Ob uns hier Menschen oder Algorithmen angaffen, ist mir scheissegal. Verstehst du?»

Tel reckt ihren Mittelfinger Richtung Kamera, wieder blitzt es. «Kommt doch mal her. Geht auf mich.» Wir schälen uns aus dem Sofa, gehen auf den Balkon und Tel legt die Arme um uns. «Ich will jetzt ein gutes für an den Kühlschrank. Sagt: Heliiiiiiii». Elegant versteck ich meinen nackten Spargelfuss hinter dem Bein, bevor es blitzt.  

Laurin Buser ist Slam Poet und Rapper.

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