«Er ist einfach aus dem Fenster gesprungen, als er feststellen musste, dass der Fernseher zwar in bestem Zustand war aber trotzdem keine Sendungen empfangen konnte, da ja keine ausgestrahlt werden», sagte Angelika M. (36) über jenen Samstagabend im November vorigen Jahres an dem sie zur Witwe und ihre beiden Kinder René (10) und Ursula (8) zu Waisen geworden waren. Erwin M. (36) war offenbar der Situation nicht gewachsen gewesen und seine alte Gewohnheit, sein Wochenende vor dem Kasten zu verbringen, nie losgeworden.
«Sie sitzen regungslos am Küchentisch und sprechen kein Wort miteinander», beschreibt Marco F. (17) die Stimmung seiner EItern am Samstagabend «Was sie tun? Sie tun gar nichts, Sie sitzen da und warten.»
Zu Beginn war öfters die Detonation aus einer Handfeuerwaffe oder einem Sturmgewehr zu hören. Dann wussten die Nachbarn «Aha, sie war in letzter Zeit sehr, sehr eigenartig» oder «Er hat mich gestern im Treppenhaus nicht einmal gegrüsst. Dabei war er sonst so nett» oder ganz einfach «Ich rufe mal den Notarzt an- bzw. «Ich gebe Antonella Bescheid. Sie sucht doch seit Wochen eine neue Wohnung».

Man solle diese Vorkommnisse nicht dramatisieren, hiess es von Seiten der Behörden. Man sei schon mit anderem fertig geworden. «Gegenwärtig werden Massnahmen geprüft, die so unerfreuliche Geschehnisse in Zukunft verhindern werden», erklärte der zuständige Bundesrat der Presse. Auf präzisierende Fragen konnte er keine Antworten geben. «Ich will den Ereignissen nicht vorgreifen», sagte er. Er wusste also noch nichts und hatte auch noch nichts getan.
Die Statistiken zeigten deutlich, dass die Zahl der Selbstmorde, Familiendramen und Verzweiflungstaten massiv zugenommen hatte, im November des letzten Jahres einen erschreckenden. Höhepunkt erreicht hatte und seither nur leicht zurückgegangen war, in den letzten zwei Monaten aber plötzlich in sich zusammensackte. Dies war der Verdienst eines·der gegenwärtig am meisten prosperierenden Wirtschaftszweige: Zahlreiche Therapiestellen wurden eröffnet, eine Breite Palette von Kursen wurde angeboten, die einem wieder beibringen sollten, zu essen, zu trauern, nein zu sagen, ja zu sagen, Gefühle zu zeigen, seine Zeit zu gestalten, mit dem Personal Computer vernünftig umzugehen und all so ein Psychozeug. Der grösste Renner dieses Wirtschaftssektors, der den grossen Vorteil hat, sehr investitionsarm zu sein, stellt zurzeit der TV-Entwöhnungskurs für Anfänger dar. Zu den Kinderkrankheiten des neuen Ruhetagsgestzes gehörte es leider, dass für schwierige Situationen wie die oben geschilderten noch keinerlei Einrichtungen bestanden. Hätte Erwin M. den TV-Entwöhnungskurs (14 Abende à 90 Minuten Fr. 490.–) besuchen können, wäre beispielsweise der Familie M. der Ernährer erhalten bzw. ich meine natürlich: Viel menschliches Leid erspart geblieben.

Niemand hatte je für möglich gehalten, dass es soweit kommen würde. Sie hatten darüber gelacht und Witze gerissen. Für einmal hatten alle einen Grund gefunden, loszuprusten, bis ihnen vor lauter Tränen die Sicht versperrt war. Ganz und gar unmöglich sei das. Grotesk. Das würde die Freiheit jedes Einzelnen von uns einschränken. Freiheit jedes Einzelnen, das seien drei Wörter, die man eigentlich fett drucken müsste, denn diese Freiheit jedes Einzelnen sei es, die uns von den Barbaren der Vorzeit und den totalitären Systemen der Gegenwart unterscheide. Darauf müssten wir eigentlich·schtoltz sein. Die Bevölkerung, das Folck, das würde sich sowas bestimmt nie gefallen lassen. Auf keinen Fall. Hahaha! Also nein, ihr abgehobenen Spinner. Ihr weltfremden Hitzköpfe. Ihr verlausten Tagträumer. Hahaha. Und habt Ihr schon einmal daran gedacht, welche wirtschaftlichen Folgen das haben würde! Wenn Ihr arbeitslosgeworden seid, ist es Euch dann auch wieder nicht recht. Unvorstellbar. Science Fiction! Diktatur! Das kann doch nicht Euer Ernst sein.

Trotzdem war es soweit gekommen. Obwohl die Wirtschaft noch saftiger und offensichtlicher als je zuvor (dagegen war die HB-Südwest-Abstimmung noch fast demokratisch) beträchtliche Summen in die Wahlkampfpropaganda gepumpt hatte, war der Betriebsunfall passiert: Das neue Ruhetagsgesetz hatte eine Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt. Da half alles Quengeln und Schelten der Koryphäen aus Industrie, Gewerbe und Handel und ihrer Speichellecker aus der Politik nichts. Selbstverständlich bemühten sich letztere auch redlich, die Einführung der neuen Bestimmungen nach bestem Wissen zu verschleppen, sodass nach Ablauf der· in den Einführungsbestimmungen vorgesehenen Periode die Zivilgerichte den Behörden zur Motivation eine Nadel in den Hintern stecken mussten.

Punkt Freitagabend um 18 Uhr wurde fortan das Land dichtgemacht. Nicht nur die Läden und Büros, auch die Kneipen und die Videotheken, Fastfood-Shops, Schicht arbeitende Betriebe und vor allem das Radio und das Fernsehen stellten zu diesem Zeitpunkt den Betrieb vollständig ein. Testbild. Übers Wochenende arbeiteten nur noch die öffentlichen Verkehrsmittel, die Spitäler, die Feuerwehr, die Taxis und die Polizei wobei deren Wochenend-Arbeitsstunden während der Woche grasszügig kompensiert wurden. Auch nicht frei feiern konnten die kulturellen Betriebe, die Kinos und Konzertsäle, die Veranstaltungslokale. Deren Aktivitäten wurden als ebenso wichtige eingestuft wie die Feuerwehr, deren Funktion. sie in sozialer Hinsicht ja auch häufig ausüben: Sie dienen als Ventil, sodass es nicht zu Bränden kommt. Ausserdem war eines der erklärten Ziele des neuen Ruhetagsgeqetzes, die Leute endlich aus ihrer Wohnung herauszubekommen, sie anzuspornen, etwas zu unternehmen und nicht blass ihr ganzes Leben vor dem Bildschirm zu verbringen. Der andere Aspekt des Gesetzes war die von einzelnen Kreisen bereits seit 100 Jahren geforderte Arbeitszeitverkürzung. Wenn der technische Fortschritte es schon ermöglichte, in kürzester Zeit dieselbe Menge zu produzieren, für deren Produktion man noch vor wenigen Jahren ein mehrfaches an Zeit aufgewendet hatte, so war es nichts mehr und nichts weniger als gerecht, wenn alle Arbeitenden an diesem Fortschritt teilhaben konnten. Als weitherum einziges Land arbeitete die Schweizer Bevölkerung noch immer 37 und mehr Stunden pro Woche. In einzelnen Branchen, auf dem- Bau und im Gastgewerbe, waren sogar noch Betriebe zu finden, in denen sich die Angestellten 40 oder noch mehr Stunden schinden mussten.

Diese schlimmen Zustände sollten nun ein Ende finden. Vom Freitagabend um 18 Uhr bis Montagmorgen um 8 Uhr kam nun also das gesamte öffentliche Leben mit Ausnahme der geschilderten Bereiche von essentieller Bedeutung zum Erliegen. Diese zweieinhalb Tage bedeuteten absolut tote Hose für alle, die mit ihrer Zeit nichts anzufangen wussten. Vor der tatsächlichen Einführung der bereits beschlossenen Veränderungen kam es zu gewissen Exzessen. Das Verkaufspersonal zum Beispiel hatte genug vom Abendverkauf und Samstagsarbeit, und so wurden mehrere Kunden verprügelt oder halb totgeschlagen. Übers ganze Land verteilt waren diese Vorkommnisse aber so dünn gesät, dass sie weder ins Gewicht fielen noch Aufsehen erregten, weil sich weite Kreise der Bevölkerung darin einig waren, dass die Stossrichtung dieser reichlich impulsiven Handlungen gerechtfertigt war. Fälle von Lynchjustiz sind seit der Einführung der neuen Vorschriften denn auch nicht mehr vorgekommen.

Richtig schwerwiegend wurden die Folgen der Umstrukturierung erst mit dem Verbot der Videorekorder. Mit deren Hilfe war es sehr simpel gewesen, das Wochenende zu überbrücken. Man nahm auf, was während der Woche tagsüber und abends gesendet wurde und schaute es sich am Wochenende noch einmal an. Mit dem Verbot der Herstellung, der Einfuhr, lnverkehrsetzung und Benützung der Videorekorder war endlich erreicht, was die Initiantinnen des Ruhetagsgesetzes beabsichtigt hatten: Jeder Mensch war nun wirklich gezwungen, seine Freizeitgestaltung selbst in die Hand zu nehmen. Es wurde gar erwogen, den Sendebetrieb von Radio und Fernsehen ganz einzustellen, was aber am Personal jener Institutionen, das gern weniger, aber ungern gar nicht mehr arbeiten wollte, einerseits und am Widerstand der Unterhaltungselektronik-Industrie andererseits scheiterte. Für den Fall, dass ihnen auch der Handel mit Radio- und Fernsehapparaten untersagt würde, drohten sie mit schweren Sanktionen: Die für die Wirtschaft des Landes überlebenswichtige Computertechnologie würde sonst künftig auf anderen Märkten verkauft werden. So malten sie das Gespenst der Arbeitslosigkeit an die Wand, das in Wirtschaftsdebatten gerngesehener Gast ist.

Hatte man früher den halben Samstag mit den Einkäufen hinter sich bringen können, so stellte sich jetzt nach dem Frühstück unweigerlich die Frage: Was nun?
Die 62 Stunden von Freitagabend bis Montagmorgen mussten irgendwie vertan werden. Die samstägliche Schliessung der Geschäfte war nur der Anfang des Kreuzes, das man zu tragen hatte. Ein Bad könnte man nehmen. Ausgiebig und ohne Stress kann das bis zu eineinhalb Stunden dauern, bleiben noch sechzig Stunden. Rechnen wir optimistisch für die Nächte vom Freitag auf den Samstag, vom Samstag auf den Sonntag und vom Sonntag auf den rettenden Montag je 12 Stunden Schlaf, so haben Wir immer noch einen stattlichen Rest von 24.5 Stunden vor uns. Zählen wir für Samstag und Sonntag noch je ein Bad 1.5 Stunden, das Freitagnachtessen (1.5 Std.), drei Mahlzeiten à 1.5 Stunden für Samstag und Sonntag, so sind wir noch immer zu elf arbeitsfreien Stunden verdammt. Verdammt! Diese Rechnung geht nicht auf. Zu diesem Schluss mussten zahlreiche Personen kommen, konnten sie doch diese 11 Stunden nicht mehr mit «Wetten, dass …», «Miami Vice» und anderem Unfug vertrödeln. Die Frage vom samstäglichen Frühstückstisch – Freitagabend konnte man ja früh schlafen gehen – stellte manche und manchen vor Probleme: Was nun? Nicht alle fanden darauf eine Lösung. Das war jedoch auch nicht unbedingt notwendig, denn die Buchhandlungen (auch Versand) hatten zu diesem Thema tonnenweise philosophische Literatur anzubieten, die den lieben Mitmenschen gegen ein kleines Entgelt gern in ihrer Lebensführung beistand. ln ihrer Unsicherheit wandten sich Massen von Menschen der Religion zu, die wenigstens noch klare Massstäbe setzt und Suchenden gern ein Zuhause bietet, vorausgesetzt diese bezahlen die Kirchensteuern. Auch die im Überfluss wuchernden Sekten wurden von Schäfchen fast überrannt. Guru wäre eigentlich ein ganz lukrativer Job. Wieder andere beherzigten den Wahlspruch «Treib Sport oder bleib gesund» und entschieden sich fürs erstere. Die Philatelie erlebte einen nie dagewesenen Aufschwung, Vogelkunde wurde eifrig betrieben, und Tausende von Menschen schienen sich plötzlich für Wappenkunde oder Bauernmalerei begeistern zu können. Hunderttausende fingen Feuer für die Gastronomie und kochten sich übers Wochenende zuhause die besten Speisen und verzehrten sie in rauhen Mengen, sehr zum Gefallen der Ernährungswissenschafter, die so Bücher verkaufen konnten, in denen sie vor der Völlerei warnten. Das war eine Auswahl aus den harmloseren Varianten des Zeitvertreibs. Gewisse Leute machten sich nämlich durchaus ernsthafte Gedanken. Nicht bloss über ihre eigene Existenz, sondern über die Zukunft des ganzen Landes. Eine kleine, aber sehr aktive Gruppe propagierte die totale Öffnungszeitenfreiheit als politische Idee, was ungefähr so grotesk ist wie jene Partei, die sich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts dem Wohl der Besitzer des privaten, vierrädrigen Fortbewegungsmittels verschrieben hatte. Die Angehörigen der «Kaufpartei», wie diese Gruppierung von der Bevölkerung genannt wurde, die sich selbst aber unter einem «Wirtschaft in Freiheit» getauften Banner zusammenscharten, organisierten heimlich illegale Supermärkte, «Discounthöllen» geheissen, Videotheken und so weiter, wo rund ums Zifferblatt gekauft werden konnte, solange das Konto reichte. ln ihren Werbebroschüren, die sie in Telefonkabinen, Öffentlichen WCs und unter Ladentischen regulärer Geschäfte auflegten, geisselten sie die «zunehmende Abwertung des Geldes als Frucht unseres Fleisses», die «Belohnung der Werktätigen in Form von Einkaufsbummeln» sei heutzutage «erstens womöglich und zweitens verpönt». Sie beschworen die Regierenden, schleunigst für eine Liberalisierung der Öffnungszeiten zu sorgen, da sonst ein «Volksaufstand» unmittelbar bevorstehe, denn «der Mensch will vor allem kaufen können, wann es ihm gefällt.» Hinzuzufügen ist, dass die einfachen Parteigänger der Kaufpartei in ihren Discounthöllen von ihren Parteibonzen ganz schön ausgenutzt wurden. Leisteten sie ihren idealistischen Dienst für die Sache des Kaufens doch gratis, d.h. sie standen nächtelang kostenlos an den Registrierkassen, sorgten für Umsatz und bezahlten dafür auch noch einen Mitgliederbeitrag.

Eine andere Gruppe war der Meinung, die Ausländer seien an allem schuld, ein Argument, das man immer und in jedem Zusammenhang hören muss. Die Tamilen, Türken und Araber hätten «Wetten, dass … » auf dem Gewissen. Ihr Fehler sei es, dass man nicht mehr wie früüüher 365 Tage pro Woche bis, um Mitternacht den Rambo aus der Videothek holen könne.

Da sassen nun also die feierabendlich gestimmten Menschen am Freitagabend müde und ausgelaugt zuhause in ihren Wohnungen. Sie blickten auf die weissen Wände rundherum, den stummen grossen Kommunikator und die ebenfalls anwesende Familie. Ach, die sind ja auch noch da. Zu diesem Zweck kreierte der Psychosektor ganze Familiengesprächsgruppen, die man der Bequemlichkeit halber auch als Fernkurs erwerben konnte. Das war ein dickes Buch mit Kassette, nach dessen Lektüre bzw. deren Anhören und nach der Ausführung der darin beschriebenen Übungen man reif dazu war, das zweite Buch mit Kassette, das dritte, das vierte, fünfte etc. zu kaufen. Dieser Fernkurs in Konversation sollte den «Dialog zwischen den einzelnen Familienmitgliedern ermöglichen», wie es hiess. Nach Lektüre von drei Kapiteln wusste man zum Beispiel, dass der Begriff «Kommunikation» früher unter anderem auch als «Gespräch» oder «mündliche Unterhaltung» bezeichnet wurde. Worauf die Kursteilnehmerlnnen gefragt wurden, welche Schlüsse sie aus diesen zwei altertümlichen Bezeichnungen zögen. Die richtige Antwort darauf war, «dass die Menschen früher stundenlang miteinander
sprechend zusammengesessen haben.
Gewisse Leute waren durchaus bereit, es mit dieser Lernmethode zu versuchen. Das schien ihnen wesentlich weniger schlimm als die schreckenerregende Perspektive, ein ganzes Wochenende mit der Familie zu verbringen, während dem kein oder kaum ein Wort gesprochen wird: Weil man schon lange nicht mehr weiss, was man überhaupt besprechen könnte.
Dabei strotzt diese Weit nur so von Gesprächsthemen. Für Fr. 150.– auf mein Postcheckkonto (50-19873-1, Cuchulain, Zürich) schicke ich Euch eine ganze A4-Seite davon. Zwei Seiten gibt’s schon ab Fr. 292.–.

E.M.Cuchulain wurzelte in der Punkszene, trat mit seinen Texten unzählige Male zwischen Berlin und Zürich auf, veröffentlichte fünf Bücher und liess es Anfang der 1990er Jahre sein. Ein kurzes Comeback Ende der 90er verlief ergebnislos.
Ein Gruss aus der Vergangenheit: Der demokratisch beschlossene Lockdown als utopisches Szenario gegen überbordenden Medienkonsum und Konsumverhalten – Corona, Bundesrat, Personal Computer, Sport, Kochen und Selbsthilfe in der Fabrikzeitung vom Januar 1989.

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