Als ich achtzehn Jahre alt wurde, erhielt ich einen Brief. Der Brief war von Hand mit einer Kalligrafiefeder auf dickes Papier geschrieben. Er sah edel und auch romantisch aus. Der Brief war von der Gemeinde. Er begann mit: «Anaïs Meier.» Und darunter: «Sie sind jetzt Schweizer Bürger. Wir gratulieren Ihnen. Dies ist Ihr Bürgerbrief. Er macht Sie zum Bürger der Schweiz und dieser hervorragenden Gemeinde.»
Der Brief war mir zugeschickt worden, weil ich nicht an die Bürgerfeier gegangen war. Dort hätte ich den Brief zusammengeröllelet und mit einem schicken Band drumrum überreicht bekommen. Eigentlich geht es aber nicht um diesen Brief, sondern um meine Reaktion als Achtzehnjährige: Ich fühlte mich von diesem Papier, für das die Gemeinde der Dorfkalligrafistin immerhin fünfzig Franken bezahlt hatte, in keinster Weise angesprochen, denn es war an einen Mann gerichtet. Genauso gut hätte darauf stehen können «Der Verband kommunistischer Kanarienvögel in Nordrhein-Westfalen gratuliert Ihnen zur bestandenen Traktorprüfung.»
Selbstverständlich war das nicht das erste oder das letzte Mal, dass ich als Mann missverstanden wurde. Später wurde mir erklärt, dass es sich bei diesem Fehler um das generische Maskulinum handle. Das generische Maskulinum habe viele Vorteile. Einerseits sei es umweltfreundlich, da man Tinte spare, und andererseits wunderschön, während all diese neuen Genderwahn-Auswüchse visuell einfach nicht zu ertagen seien. Man könne das generische Maskulinum sowieso nicht abschaffen, da die Theutsche Sprache schon immer genau so gewesen sey, wie sie eben heute sey und von daher nicht veränderbar. Überhaupt sei es dazu da, dass alle gleich behandelt würden, nämlich als Männer. Und da ich die Erfahrung gemacht hatte, dass man als Frau oft der Depp in der Runde ist, bin ich seither ein energischer Verfechter des generischen Maskulinums und setze mich dafür ein, dass es endlich umgesetzt wird. Denn das, was wir leben und schreiben, ist nur eine abgeschwächte und inkonsequente Form. Kürzlich las ich zum Beispiel ein Gedicht, geschrieben von einer eher konservativen, heterosexuellen Frau, in dem diese beschreibt, wie sie in einen Schreibaufenthalt fährt, wo ihr Lover schon wartet: «Ich bin gekommen als Autor, ich bin gekommen als Freundin.» Hä? Da blicke ich nicht mehr durch. Wenn er dichtet, ist er ein Mann und wenn sie liebt, eine Frau? Ähnlich wie die Person, die mir kürzlich erzählte, ihre Tochter sei Koch. Klebt sie sich zum Arbeiten einen Schnauz ins Gesicht? Das ist gendermässig doch total verwirrend.

Das generische Maskulinum gibt uns allen die Möglichkeit, ein Mann zu sein und ich denke, wir sollten diese Möglichkeit nutzen. Dann ist der Koch seiner Mutter auch ausserhalb der Küche ein guter Sohn und der erwähnte Autor kommt als Autor und als Freund zu seinem Freund. Weil es dann nur noch Männer gibt, ersetzt die Gay Pride den 1. August und Christoph und sein Mann Silvio Blocher schwingen Regenbogenfahnen. Die Antifeministen können sich endlich anderen Hobbies widmen, weil es keine Frauen mehr gibt, es gibt keinen Sexismus mehr und keine Homophobie, keine Lohnungleichheit, keinen Mutterschafts- sondern nur noch Vaterschaftsurlaub und heiraten können auch alle. Dann werde auch ich stolzer Bürger dieses Landes sein.

Anaïs Meier, geboren 1984 in Bern, studierte Filmwissenschaften, Drehbuch und Literarisches Schreiben in Zürich, Ludwigsburg und Biel. Gründete 2013 zusammen mit dem Künstler Simon Krebs das Büro für Problem.

Ein Kommentar auf “Ich als Er

  1. Tim Tassonis sagt:

    Nicht ganz so genial wie die Schildkrötengeschichte oder Nightfall, aber Sie sind natürlich immer noch eine*r meine*r Lieblingsschriftsteller*Innen#. Stimmt das so, dass alles inkludiert ist und niemand heult?

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