Facebook schaffte es 2013, die emotionale Befindlichkeit von 1,2 Milliarden Menschen auf dieser Welt synchron und zentral zu beeinflussen. In der digitalen Welt ist es heute möglich, jeden Text, jedes Wort zu korrigieren und zu manipulieren; immer mehr Inhalte, die wir klicken, lesen, suchen und sehen sind das Resultat von ausgefeilten, optimierten Abläufen, in denen unsere vorgängigen Aktionen bestimmen, was wir zu sehen kriegen. Die zunehmend algorithmisierte Personalisierung des digitalen Raumes ist eine der aktuellen Entwicklungen der heutigen Gesellschaft. Während wir in einer vordigitalen bzw. voralgorithmischen Welt weitgehend von einer objektiven Realität ausgehen durften, wird dieses Konzept einer mit anderen Menschen «geteilten» Realität mit den zunehmenden Personalisierungsbemühungen weiter aufgelöst. Nun ist die Personalisierung an sich nichts Neues. Schon seit Jahren sind wir daran gewöhnt, von Amazon Bücher nach unserem Geschmack empfohlen zu bekommen. Die Bereiche in denen wir einer solchen Personalisierung begegneten, waren jedoch bisher überschaubar; und sie waren aufgrund der oft nicht besonders passenden Vorschläge nur bedingt relevant.

Die Digitalisierung zahlreicher Bereiche unseres Alltags nimmt allerdings zu und mit ihr die möglichen Anwendungsfelder, in denen rasche Analysen einen Vorteil ermöglichen. Der Hochfrequenzhandel hat sich zu einem bedeutenden Zweig der modernen Finanzwelt entwickelt. Ausgeklügelte Algorithmen schaffen es, Unterschiede und Unregelmässigkeiten rascher zu entdecken und auszubeuten als es ein Trader kann. Es ist eigentlich nur folgerichtig, dass spezialisierte Firmen diese Logik weiterdekliniert haben und sich die durch Filterung, Personalisierung und Cloud-Dienste zur Verfügung stehenden Mittel zunutze machen.

Mit der Ankündigung von Universal Music im Jahr 2014, in Zusammenarbeit mit dem Technologie-Anbieter Mirriad künftig Product Placement künftig auch retroaktiv in ihren Videoclips anzubieten, wurde sichtbar, wie stark sich die Rezeption von Medieninhalten in Zukunft verändern könnte. Je nach Kampagne und Zielgruppe lassen sich mit dem Service rückwirkend unterschiedliche Produkte und Botschaften in bestehenden Filmen platzieren. Nicht nur in Videoclips, sondern auch in Nachrichtenportalen, Wahlkampfwerbung, bei Filmen oder Serien. Während heute in den Videos von Lady Gaga, Snoop Dogg oder Miley Cyrus noch überall Dr. Dre’s «beats»-Produkte zu sehen sind, könnte nächstes Jahr derselbe Clip die Lautsprecher der Konkurrenz zeigen. Wofür früher gezielt mit Bluescreen gearbeitet wurde, reicht heute eine Software. Was Mirriad für bewegte Bilder möglich macht, erledigen Firmen wie Narrative Science oder Automated Insights im redaktionellen Bereich. Sie bieten Firmen eine Software an, die inzwischen für renommierte Medienunternehmen wie Forbes, Associated Press oder Yahoo! innert weniger Sekunden automatisch Beiträge zu Börsen- und Sportereignisse «schreibt». Fleishman-Hillard, eine auf Öffentlichkeitsarbeit spezialisierte Firma bietet seit 2014 in Zusammenarbeit mit Linkedin den «Native Newsroom» als personalisierte Plattform zur zielgenauen Vermittlung von Markenkommunikation an.

Auch die New York Times arbeitet an einem Bereich ihrer Website, in dem Leser auf sie zugeschnittene Artikelvorschläge erhalten. Dabei würden alle Leser dieselben Leitartikel präsentiert bekommen, gleichzeitig würden den Lesern aber auch andere, verpasste oder besonders passende Artikel gezeigt werden.

Im Internet der 90er Jahre herrschte die Situation, dass Inhalte im wesentlichen Sinne «objektiv» vorhanden waren. Viele glaubten daran, dass mit dem Internet endlich ein hierarchiefreies demokratisches Medium entsteht, in dem jeder seine Sicht darlegen kann. Heute bilden die für uns sichtbaren Inhalte zunehmend eine auf uns massgeschneiderte Umwelt; die einstige grenzenlose Gesellschaft bewegt sich in einer Freiheit, die mit der Abhängigkeit der grossen Plattformen von Google, Amazon, Facebook und Apple verbunden ist. Die Einführung der personalisierten Suche kann dabei als Wendepunkt festgemacht werden. Vor etwas über fünf Jahren, am Freitag, den 4. Dezember 2009, kündigte Google an, den Page Rank Algorithmus – den wohl berühmtesten und einträglichsten Algorithmus der letzten 20 Jahre – gegen einen personalisierten Such-Algorithmus auszuwechseln. Die Ankündigung erhielt damals erstaunlich wenig Aufmerksamkeit; weniger als 50 Artikel und Blogbeiträge wurden zu der bedeutenden Änderung veröffentlicht. Bis zu dem Wechsel lieferte der populäre Suchmaschinenanbieter allen Benutzern weitgehend dieselben Resultate. Die Resultate waren dabei so konsistent, dass sie als allgemeine Navigationshilfe verwendet werden konnten. So bewarb Sony seinen Film ‹2012› mit dem Zusatz «Suche: 2012». Doch die Tage der «normalen» Suchresultate sind vorbei. Vorbei sind auch die Tage des individualisierten Netzes, in der jeder seine private Website hatte. Im gleichen Jahr in dem Google seinen Algorithmus änderte, stellte Yahoo ihre Geocities Plattformen ein, nachdem die Benutzer begannen, auf standardisierte, einfacher zu bedienende Social Media Plattformen wie Myspace und Facebook abzuwandern.

Auf den ersten Blick erscheinen die beiden Ereignisse nur wenig miteinander gemeinsam zu haben. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch klar, dass sich hier zwei grosse Internetkonzerne von einem dezentralen Site-basierten Netz verabschiedet haben. Während früher das Ideal eines demokratischen, gleichberechtigten und machtfreien Netz vorherrschte, zeigte sich immer mehr, dass nicht die Inhalte ausschlaggebend sind, sondern deren Vernetzung. Sobald jemand nicht mehr von selbst seinen Weg findet, wird er dankbar auf die dargebotene Hand der Suchdienste, Social Media und Verkaufsplattformen zurückgreifen. Sie sind die Kartografen des digitalen Zeitalters, die uns als Benutzer zu dem gesuchten Clip, zu der gesuchten Berichterstattung oder zum benötigen Rezept führen. Letztlich bringt es viele Vorteile mit sich, wenn es ein Algorithmus schafft, die Komplexität des Netzes nach unseren Bedürfnissen zu reduzieren.

Die eigentliche Gefahr liegt nicht in der Personalisierung an sich, sondern darin, dass ihr heute zahlreiche Möglichkeiten zur unmittelbaren Veränderung von Inhalten zur Seite stehen.

Bis vor kurzem lokalisierten viele Internetkritiker die Gefahr darin, dass man sich durch diese Abhängigkeit immer mehr in einer Art Filterblase bewegt, in der man lediglich die eigenen Interessen wiedererkennt. Die eigentliche Gefahr liegt allerdings nicht in der Personalisierung an sich, sondern vielmehr darin, dass ihr heute zahlreiche Möglichkeiten zur unmittelbaren Veränderung von Inhalten zur Seite stehen. Problematisch wird es dann, wenn sich die Inhalte dadurch so stark relativieren, dass sich kein eigentlicher Kern mehr identifizieren lässt.

Was ich sehe, höre und lese, wenn ich künftig einen Link erhalte, muss somit bald nicht mehr zwingend dasselbe sein, wie das, was der Absender des Links gesehen, gehört oder gelesen hat. Die «Nachricht» wurde dabei letztlich vielleicht gar nicht «verändert», bloss der Empfänger ist ein anderer… Auch ohne aktivierte Cookies lassen sich heute mittels «canvas fingerprinting» Nutzer eindeutig identifizieren. Dabei bringt die angesteuerte Webseite den Browser des Nutzers grob vereinfacht dazu, im Hintergrund, unsichtbar für den Nutzer, ein Bild zu erstellen. Dabei ist die Art, wie dieses Bild erstellt wird von einer Reihe von Faktoren abhängig, etwa vom Rechner, der Browserversion oder den verfügbaren Schriften. Da fast jede so zustandekommende Kombination bei der Erstellung des Bildes kleine Unterschiede macht, können mittlerweile über 90% der Nutzer eindeutig identifiziert werden.

Was für ein Bild der Realität wir dabei in einer solchen Zukunft erhalten werden, ist dabei die grosse Frage. Im März 2015 ging das Foto eines Kleides durchs Internet, das von den einen Betrachtern als blau-schwarz, von anderen wiederrum als weiss-goldig gesehen wurde. Kurz darauf debattierten Zehntausende die möglichen Ursachen, Verschwörungstheoretiker witterten Grosses – und Medien interviewten Wahrnehmungspsychologen und Farbexperten über die Ambivalenz der menschlichen Farbwahrnehmung; Ursache war letztlich die sehr schlechte Qualität der Aufnahme. Der Fall war aber auch darum interessant, weil wir es mit einem für alle Betrachter identischen Bild zu tun hatten. Was aber, wenn zwei Betrachter gar nicht mehr dasselbe Bild sehen? Wenn im Videoclip nur darum normales Cola getrunken wird, weil ich als männliches Individuum erkannt werde? Was wenn die Schlagzeilen genau auf meine politischen Vorlieben zugeschnitten sind? Denn was heute mit der Werbung seinen Anfang nimmt, wird sich voraussichtlich schon bald in andere kommerziell bewirtschaftete Bereiche ausdehnen. Dazu kann auch die kommerzielle Berichterstattung oder die Parteiwerbung kommen. Während wir heute in der Schweiz lediglich ahnen können, wie gross die Wahlkampfbudgets der einzelnen Parteien tatsächlich sind, können wir in Zukunft vielleicht auch nicht wissen, wie stark die digitalen Medien mit einer auf uns zugeschnittenen Realität unsere Meinung zu beeinflussen suchen. Wenn wir uns weiterhin die Freiheit von kritischem und unkonventionellem Denken erhalten wollen, ist es unumgänglich, dass wir uns mit den sozialen und politischen Konsequenzen dieses Phänomens auseinandersetzen.

Ivan Sterzinger ist ein ehemaliges Redaktionsmitglied der Fabrikzeitung.

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