Kurz nachdem wir unser letztes Album veröffentlicht haben, hat der Bundesrat die ausserordentliche Lage ausgerufen. Nicht wegen des Albums, wegen des Virus. Die Konzerte, bei denen wir einem Publikum, aber auch uns untereinander wieder mehr begegnet wären, wurden abgesagt. Ich hätte davor nicht sagen können, wie wichtig mir diese Begegnungen beim Musikmachen sind.

Hätte-hätte-Fahrradkette. Das Was-Wäre-Wenn war mir eigentlich immer verdächtig. Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, sich das vorzustellen bereitet mir Kopfschmerzen. Was, wenn noch etwas viel Schlimmeres geschehen wäre? Ich kann die Gegenwart nicht verändern, nur meinen Blick darauf. Wenn sie mir nicht gefällt, muss ich die Zukunft verändern. In ihr liegt wahre Bewegung und Veränderung. Ersteres hat keinen Zweck und bewegt mich nicht. So dachte ich.

2020 wäre ein Jahr wie andere gewesen, wie 2019, oder 2008, einfach so ein Jahr.

Was-Wäre-Wenn-Gedanken sind die Eigenschaft einer Zeit geworden, in der mir vieles in einer grundlegend anderen Zeitlichkeit erscheint. Den Blick aus dem Zugfenster, auf einer Wiese tanzen sich lachende Menschen zu lauter Musik an. Die flüchtige Vorstellung erschüttert mich. Das Hypothetische verfolgt mich.

Die Rona hätte uns nie besucht. Das Virus wäre nie auf den Menschen übertragen worden. Nach der Ermordung von Qasem Soleimani wäre der Konflikt zwischen der USA und dem Iran eskaliert; weil ein Kriegszeit-Präsident wieder­gewählt wird, hätte Biden keine Chance gehabt. Niemand in Europa könnte sich etwas unter Maskenknigge vorstellen, und dass er zum Inbegriff für Mitgefühl, Intelligenz und menschlichem Anstand gehören könnte. Während das Bundeshaus von tausenden jungen Aktivist*innen belagert worden wäre, hätte ich endlich mein Studium beendet. Ich hätte mich nach Beschleunigung gesehnt, es hätte alles ein bisschen schneller gehen können, dabei hätte ich nur abstrakt über Depression nachgedacht, so als politisches Problem, nicht als ein persönliches. Ich hätte Millenial Memes reposted, aber Gen-Z Humor gesammelt. Wir wären auf Tour gegangen, wären zum dritten Mal auf den grossen Bühnen gestanden und auch wieder auf den kleinen, provinziellen, wo mich betrunkene Menschen angeschrien hätten. Ich hätte so getan, als würde es mich nicht überfordern und antreiben, dann hätte es mich gelangweilt und ich hätte mehr getrunken und mich auf Trips einladen lassen. Auf erlebnisreiche Wochenenden wären zurückgezogene Tage gefolgt, Aufregung und Bedrücktheit hätten sich die Waage gehalten, und ich wäre weiter über das Seil geschaukelt. 2020 wäre ein Jahr wie andere gewesen, wie 2019, oder 2008, einfach so ein Jahr.

Lange vor der aktuellen Gesundheitskrise war Jeans for Jesus eine Home-Office-Band.

Stattdessen eben dieser Stock zwischen die Speichen. Keine Ablenkung, nur mein Kopf. Keine Arbeit, keine Tour, keine Inspiration. Stattdessen neue Schulden, Diplom gescheitert; Paranoia ausgebrochen, Therapie begonnen.

Lange vor der aktuellen Gesundheitskrise war Jeans for Jesus schon sowas wie eine Home-Office-Band: Die Hälfte lebt in Zürich, die andere in Bern, zusätzlich waren wir unabhängig voneinander in der Welt unterwegs. Wir haben die Songs in der Cloud produziert und uns nur an den Konzerten gesehen. Als Corona die Welt abgeschaltet hat, wir von ihr nicht mehr abgelenkt wurden, haben wir uns intuitiv im Studio getroffen. Wir haben wieder Musik gemacht, mit ganz anderen Ansprüchen als bisher. Die Songs wurden eigenwilliger, hatten keine Strophen oder Strukturen, wurden untauglich fürs Radio, aber wichtig für unser Gemüt. Die Stücke wollten jeden Reiz überfluten in dieser Unterreizung, jeden Sinn anschreien in dieser sinn- und geschmacklosen Zeit. Die Stille des letzten Jahres liess es aber auch zu, Sachen zu hören, die sonst unter dem Lärm vergessen gehen. Bandinterne Spannungen konnten und mussten wir plötzlich ganz klar wahrnehmen. Den Stress von Mails, Chats und Calls, wo alles vor allem im eigenen Kopf stattfindet, haben wir deinstalliert und gingen einfach wieder ins Studio. Wenn wir im selben Raum sind, verstehen wir uns.

Ich habe Angst vor der Zeit danach. Dass alles so sein wird wie vorher.

Nach dem Was-Wäre-Wenn kommt das Was-Wird-Sein. Wenn es vorbei ist, machen wir ein grosses Fest und laden alle ein. Dann gehen wir gross essen, geniessen jeden Bissen und setzen uns für die richtigen Sachen ein. Die Utopien scheinen plötzlich konkret, eigentlich nostalgisch. Aber tatsächlich wird es nicht vorbei sein, es wird bestenfalls ausklingen, und es wird nachwirken, es wird wiederkommen. Für unsere Kinder wird ein Leben hinter der Hygienemaske normal sein. Und wir werden zu den Menschen gehen müssen und sie aus ihren Löchern holen, uns ihre anstrengenden Ge­danken anhören und dabei geduldig sein. Wir werden Forderungen stellen und sollten sie deshalb jetzt schon formulieren. Überlegen wir uns, was wir zurückhaben wollen und was nicht. Es liegt Gewalt in der Luft. Ich fürchte, dass wir diese Zeit einfach vergessen, sie nicht nutzen können. Dass wir Zuschauende bleiben, die so tun, als wäre alles weit weg. Als wäre die Ermordung Schwarzer Leben nicht vor allem ein europäisches Ding.

Im April 2020 habe ich geschrieben: Ich bin zu Hause und schaue in die Entfernung. Ich weiss nicht, welche Entfernung. Leute sprechen mich durch ein Fenster an. Ich bin zuhause und esse etwas. Ich habe Angst. Ich habe Angst vor der Zeit danach. Dass alles so sein wird wie vorher. Aber auch vor der Veränderung, die geschehen muss. Veränderung ist immer gewaltsam. Ich liege hier und habe Angst. Und vielleicht fühle ich mich dadurch menschlicher als sonst. Und dieser Akt, Teil eines grossen Ganzen zu sein – diese Aufregung langweilt. Und sie ist ignorant. Jemand schreibt: Ich gebe zu, dass ich während einer tatsächlichen Krise weniger deprimiert bin, als wenn ich mich durch Katastrophen quäle, die ich selbst verursacht habe… Das zu lesen, hat mich wütend gemacht. Es gibt einige Dinge, derer wir uns sicher sein können. Wir wissen, dass sich die Erde weiter erwärmen wird. Wir wissen, dass die negativen Auswirkungen des Klimawandels überproportional zunehmen werden, wenn wir uns auf höhere Temperaturen zubewegen, und dass das Risiko irreversibler und katastrophaler Veränderungen zunehmen wird. Wir wissen, dass der Meeresspiegel weiter steigen, und dass Eiskappen und Gletscher weiter schmelzen werden, lange nachdem wir die Temperatur der Erdoberfläche stabilisiert haben. Wir stecken alle im selben Sturm. Aber wir sitzen nicht alle im selben Boot.

Demian Jakob ist Künstler und Veranstaltungstechniker und lebt in Zürich.
Mehr «Was wäre wenn…» Gedankenspiele für die Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit gibt es in der Fabrikzeitung vom September 2019.

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