Was können wir, die wir das Vergnügen haben, in einem aufgeklärten, pluralistischen und zunehmend multikulturellen Gemeinwesen zu leben, schon von Zeitgenossen anderer Kulturen und Regionen lernen? Wäre es nicht eher angezeigt, diesen unser fortschrittliches und glückverheißendes Gesellschaftsmodell nahe zu bringen?

Diese lehrerhafte Attitüde ist seit Jahrhunderten die vorherrschende Einstellung der Europäer gegenüber dem Rest der Welt, wobei der belehrende Impuls früher eher vom Glauben an die alleinseligmachende Wirkung der christlichen Botschaft getragen war. Es gab allerdings auch schon damals Europäer, die von der fremden Kultur – z.B. Chinas – fasziniert waren und darin durchaus bedenkenswerte Seiten erblickten. An allererster Stelle waren das ironischerweise gerade diejenigen, die im 16. und 17. Jh. ausgezogen waren, um China von der absoluten Wahrheit ihres religiösen Glaubens zu überzeugen: die Jesuitenmissionare. Die herausragendsten unter ihnen fühlten sich in hohem Maße angezogen von der säkularen, doch ethisch hochstehenden Lehre des Konfuzius sowie von der beeindruckenden Kultiviertheit seiner späten Jünger. Ihre Berichte nach Europa, die zu erkennen gaben, daß ein moralisch entwickeltes Gemeinwesen auch ohne eine göttliche Offenbarung möglich sei, beflügelte in hohem Maße die hiesigen Philosophen im Zeitalter der Aufklärung, so daß einer von ihnen, Leibniz, (nicht ganz unpolemisch) vorschlug, nicht nur unsere Missionare nach dort zu entsenden, sondern auch Konfuziusjünger zu uns einzuladen, als Botschafter einer besseren ethischen Gesinnung.

Ähnlich positiv äußerten sich über China Anfang des 20. Jahrhunderts (insbesondere nach der europäischen Selbstzerstörungsorgie des 1. Weltkrieges) Dichter und Denker wie Klabund, C.G. Jung, Herrmann Hesse u.a. In dieser Phase entdeckte man erst richtig die dem Konfuzianismus komplementäre Lehre des Daoismus und war von ihrer weltenthobenen Weisheit angetan. Der ursprünglich als protestantischer Missionar ausgezogene Richard Wilhelm, der zum größten Übersetzer chinesischer Klassiker ins Deutsche wurde (auch Freund und Mentor C.G. Jungs), rühmte sich nach seiner Rückkehr aus China, keinen Chinesen bekehrt zu haben. Ironie der Geschichte: Während Deutsche nach dem 1. Weltkrieg dazu aufriefen, «vom heiligen Tao der Chinesen zu lernen» (Klabund), lautete der Kampfruf der chinesischen Intellektuellen in der Bewegung für eine neue, von Wissenschaftlichkeit und Demokratie getragene Kultur (4.-Mai-Bewegung, 1919): «totale Verwestlichung». Diesem Endzustand scheint China nun weniger durch die Einführung westlicher politischer Systeme wie Marxismus oder Demokratie als vielmehr durch die rapide um sich greifende Kommerzialisierung des Lebens zuzustreben.

Was ließe sich also in unseren Tagen noch an Weisheiten von China lernen? (Abgesehen davon, daß man heute problemlos religiöse und andere Praktiken jeglicher exotischen Couleur in einen individualisierten westlichen Lebensstil einbauen kann…) Da Lebensweisheiten und Moralwerte etwas darstellen, das wir – auch in unserer Kultur – in erster Linie bei unseren alten Denkern suchen würden, wird man sich auch in China an die zwei großen Weisheitstraditionen halten wollen, welche Einstellung und Verhalten der Chinesen bis heute mitgeprägt haben, die jedoch aufgrund des übermächtigen westlichen Einflusses immer weiter marginalisiert werden: den Konfuzianismus und den Daoismus (der Einfachheit halber läßt sich letzterem auch der Chan/Zen-Buddhismus zurechnen). Dabei geht es bei beiden um die Pflege zweier sich ergänzender Bereiche des menschlichen Lebens: im Konfuzianismus um die Kultivierung der «moralischen Natur» des Menschen in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen (die chinesische Übersetzung für Ethik, «lunli», bedeutet wörtlich «Theorie der zwischenmenschlichen Verpflichtungen»), und im Daoismus um die Pflege des Lebens selbst im Einklang des Menschen mit der Natur, d.h. der Pflege der aller Kreatur (nicht nur dem Menschen) innewohnenden Lebenskraft.

Daoistische Praktiken sind inzwischen hierzulande – in zum Teil arg verwursteter Weise – recht populär geworden. Es gibt fast keine Volkshochschule mehr, die in ihrem Programm nicht auch dem Daoismus verpflichtete yoga-ähnliche Heilgymnastik wie Qigong oder Taiji anböte, und die Esoterikabteilungen der Buchhandlungen offerieren ein überquellendes Sortiment an daoistischer Lebenshilfe, wobei die Titel – von «Das Dao des Geldes» bis «The Tao of Sex» – alle Bereiche abdecken, die (nicht nur) das westliche Herz begehrt. Während in dieser bevorzugten Rezeption des Daoismus ein ganz praktisches Ziel seiner «religiösen» Variante zum Tragen kommt – die Suche nach einem Lebenselexir, welches dem Zeitgeist entsprechend in einer Einheit von meditativer und quasi-sportlicher (alternativ auch sexueller) Betätigung gesehen wird –, lehrt die Philosophie des Daoismus nicht absolute Weisheiten, sondern vielmehr die Bedingtheit und Relativität der Standpunkte: Selbstvergessenheit statt Selbstbehauptung, und gelassenes Mitgehen mit dem Lauf der Dinge statt bewußter Steuerung des Lebens. Schließlich ist der Daoismus – wahrscheinlich im Umfeld von Strategieschulen und Kampfkünsten entstanden – auch eine Lebens- und Überlebenskunst. Ihr Kniff ist es, eine flexible Einstellung den widrigen Dingen des Lebens gegenüber zu entwickeln, so daß – wie beim Judo – ein Angriff keinen Ansatzpunkt findet, abgebogen wird oder ins Lehre geht. Sir Robert Hart, ein Engländer des späten 19. Jh. und großer Chinakenner, hat diese Einstellung einmal auf den Punkt gebracht: «In meinem Vaterlande heißt es gewöhnlich: Laß dich nicht biegen, und wenn es dabei zum Bruche kommt. In China dagegen gerade umgekehrt: Laß dich biegen, aber laß es nicht zum Bruche kommen.»

Der Daoismus hat also nach wie vor einen reichen Schatz an Lehren zur praktischen Lebensbewältigung im Angebot. Seine steigende Attraktivität hierzulande beruht weitgehend darauf, daß seine Erkenntnisse, Weisheiten und Praktiken mit den individualisierten Lebensentwürfen unserer Zeit kompatibel sind. Es ist hingegen die Unverträglichkeit mit eben diesem Zeitgeist, welche hierzulande den Konfuzianismus als moralische und beziehungsorientierte Lehre so sperrig und unverstanden bleiben läßt. Kerngedanke des Konfuzianismus ist, daß der Mensch im Zentrum von sich überlappenden Beziehungskreisen steht – Familie, Vorgesetzte/Untergebene, Freunde, Gemeinde, Staat –, wobei eine verantwortungsvolle Erfüllung der jeweiligen Beziehungspflichten nur durch moralische Kultivierung und Überwinden von Selbstsucht gelingt. Nur ein Mensch von hoher charakterlicher Kultiviertheit ist dazu berufen, in einem Gemeinwesen politische Verantwortung zu tragen, wodurch ihm auch eine moralisch vorbildhafte Bedeutung zuwächst. Sein klassischer Auftrag ist es, «sich die Sorge um alles unter dem Himmel zur Pflicht zu machen».

Das Ideal moralischer Selbstkultivierung im Konfuzianismus bedeutet also, bei sich selbst anfangen, um über sich selbst hinauszuwachsen. Dementsprechend gilt es das Gute, das man selbst erfahren möchte, auch anderen zuteil werden lassen: «Ein Mensch, der ‚Mitmenschlichkeit‘ besitzt, wünscht – indem er sich selbst zu festigen wünscht –, andere zu festigen; er wünscht – indem er selbst Erfolg zu haben wünscht –, daß andere erfolgreich sind», heißt es bei Konfuzius. Hier haben wir die positive Wendung der Goldenen Regel (die negative Wendung, «Was du nicht wünscht, was man dir tu‘, das füg‘ auch keinem anderen zu», findet sich ebenfalls in den konfuzianischen Klassikern).

Der einzelne Mensch verwirklicht sich demnach nur als zwischenmenschliches Wesen. «Mitmenschlichkeit» (ren) als zentrale Tugend des Konfuzianismus ist allerdings kein abstraktes und universelles (gleichmachendes) Gebot wie die christliche Nächstenliebe, sondern hat einen konkreten Kern, nämlich die Liebe zwischen Eltern und Kind. Diese elementare psychologische Erfahrung gilt es immer weiter auszudehnen, wobei aber die zentrale Stellung der eigenen Eltern-Kind-Beziehung beibehalten bleibt (sie soll sich bis ins Alter in liebender Fürsorge den Eltern gegenüber äußern).

Die konfuzianische Einheit von Moral und Politik (politische Verantwortung nur seitens moralisch vorbildhafter Menschen) mag hierzulande höchst unzeitgemäß wirken, da in der heutigen Mediendemokratie der Verfall der öffentlichen Moral und das moralische Versagen unserer Politiker bereits Unterhaltungswert besitzen und allenfalls für höhere Einschaltquoten sorgen. Allerdings könnte man sich sehr wohl fragen, wo Impulse für ethisches Handeln herkommen sollen, wenn selbst diejenigen, die in prominenter Weise im Gemeinwesen Verantwortung tragen, nicht mehr vorbildhaft wirken. Die hohe Bewertung der Familie als ethische Keimzelle scheint ebenfalls angesichts gesellschaftlicher Trends hierzulande, wo diese Institution als ein Auslaufmodell gehandelt wird, überholt..In diesem Zusammenhang wäre auch an das Wort des ehemaligen Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde zu erinnern, daß unser demokratischer und weltanschaulich neutraler Staat von Voraussetzungen – nämlich ethischen Ressourcen – lebt, die er selbst nicht erneuern kann.

Gibt es also überhaupt etwas vom Konfuzianismus zu Lernendes, das sich mit dem Zeitgeist vertrüge? Wohl nur sehr wenig. Vielleicht der Gedanke, zumindest Vorsicht walten zu lassen, bevor man eine Institution und Ressource der ethischen Bildung wie die Familie (die womöglich so alt ist wie die Menschheit selber) leichtfertig als überholt verabschiedet; oder etwa einen kommunitarischen Sinn für Bürgerpflichten zu entwickeln, die das Gemeinwesen tragen helfen; vielleicht auch Vorbildhaftigkeit in Politik und Erziehung als Wert wieder zu entdecken. Andere konfuzianische Weisheiten sollten uns nicht so fremd sein, da sie sich entweder bei Aristoteles oder in der christlichen Überlieferung finden, so die Goldene Regel, der Gedanke der Gegenseitigkeit sowie das Wahren der Goldenen Mitte (das Bemühen um einen harmonisierenden Ausgleich). Es gäbe schließlich auch eher praktische, jedoch durchaus auch erhellende Einsichten, wie sie jeder Chinareisende mit nach Hause bringt. daß zum Beispiel Höflichkeit doch nicht nur etwas Äußerliches und deshalb Verzichtbares darstellt, daß man es womöglich sogar als wohltuend empfunden hat, mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt worden zu sein. Dazu die Entdeckung, daß «Gesicht» mehr beinhalten kant als etwas, das man bloß nicht verlieren darf, daß es vielmehr etwas ist, das man auch geben kann – eine wichtige Form sozialer Kompetenz in China.

Von China – und im Grunde von irgendeiner anderen Kultur – zu lernen, bedeutet letztlich, sich der eigenen Prägung durch kollektive Erfahrungen, durch Geschichte, Kultur und Zeitgeist, bewußt zu werden und so in der Lage zu sein, eigene für selbstverständlich gehaltene kulturelle und politische Standards als relativ zu sehen. Schließlich sollten wir nicht vergessen, daß die Chinesen (und überhaupt die Intellektuellen der Dritten Welt) bereits über eine mehr als 100jährige Erfahrung des interkulturellen Lernens von uns verfügen. Sie sind alle bei uns in die Schule gegangen und insofern nicht nur mit der eigenen, sondern auch mit den Traditionen des Westens bestens vertraut. Daß der interkulturelle Austausch bisher auf einer Art Einbahnstraße verlief, läßt sich nur durch die aus dem Zeitalter des Kolonialismus herrührenden ungleichen Machtverhältnisse erklären (allerdings nicht rechtfertigen). Dies soll jedenfalls nicht heißen, daß es von anderen Kulturen nichts Gewinnbringendes zu entdecken gäbe. Zumindest kann uns eine interkulturelle Aufgeschlossenheit helfen, der blinden Flecken im eigenen kulturellen, politischen und ideologischen Orientierungssystem gewahr zu werden.

Karl-Heinz Pohl, Professor für chinesische Literatur und Geistesgeschichte an der Universität Tübingen, sowie Professor für Sinologie an der Universität Trier. Seit 2010 im Ruhestand. Veröffentlichungen (u.a.): «China für Anfänger. Eine faszinierende Welt entdecken». Herder, 2008, «Ästhetik und Literaturtheorie in China – Von der Tradition bis zur Moderne», Saur Verlag, 2006.

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