Der Deutschschweizer geht von Sommer bis Herbst ins Tessin. Auf der Gotthardroute kann man momentan die letzten Schwärme auf dem Heimweg beobachten.

Der Deutschschweizer geht ins Tessin seit er Ferien hat. Irgendwann begann er auch nach Italien zu gehen, dann nach Kroatien, dann nach Florida. Sogenannte Grüsel-Schweizer gehen zusätzlich nach Südostasien. Und Deutschschweizer, die Naturwissenschaften studiert haben und gerne ins Kino gehen, gehen nach Skandinavien. Sie sagen, nur in Skandinavien kann man noch richtig zelten, also so, dass die teure Ausrüstung wirklich zum Einsatz kommt. Dafür hat es im Tessin zu viele SAC Hütten, ausserdem ist das Postautonetz viel zu gut ausgebaut. Den Deutschschweizer mit Universitätsabschluss stört es natürlich auch, dass im Tessin so viele Leute Schweizerdeutsch sprechen. Die Schweizerdeutsch sprechenden Tessiner sind die Dauerurlauber, die sich irgendwann hier niedergelassen haben. Deutschschweizer, die sich im Ausland niederlassen, sind entweder Auswanderer oder Aussteiger, abhängig davon, ob sie am neuen Wohnort Geld oder Zeit generieren. Ins Tessin hingegen kann man nicht auswandern und richtig aussteigen kann man hier auch nicht, das Postautonetz ist, wie bereits erwähnt, zu engmaschig.

Dadurch, dass das Tessin zur Schweiz gehört, also per se dem Deutschschweizer gehört, so wie der auch immer gerne seine Welsche Seite hervorhebt, etwa bei einem guten Fendant zum Fondue, weiss der Deutschschweizer selbstverständlich alles über das Tessin. Er trifft sich gegenseitig in Locarno in der Gelateria seines Vertrauens und erzählt einander Wahrheiten über das Tessin. Zum Beispiel, dass das Tessin eigentlich gar nicht zur Schweiz gehören darf, weil es viel zu schön ist hier. «Haha», sagt der Deustchschweizer dann und lacht.

Der Tessiner rührt derweilen daneben in einer Steinhöhle in der Polenta und schweigt. Bei den nächsten Wahlen wählt er wieder SVP, es gibt einfach zu viele Italiener hier, die für zu wenig Geld in der Polenta rühren. Und dem Deutschschweizer fällt ja nicht auf, ob das jetzt ein richtiger Tessiner oder ein Italiener ist. Solange die Ländlerkappelle laut genug im Grottino spielt, klopft er zufrieden seinen Jass und merkt nicht, wie um ihn herum lauter Ausländer auf Schweizerfranken machen.

Manchmal pachtet sich auch ein Deutschschweizer zur Pensionierung ein Grottino. Hier setzt er sich dann mit seinem Käthi und dem Sonntagsblick auf die Terasse. Früher mussten sie jeweils nach den Ferien ihre Koffer wieder packen und nach Hause. «Jetzt bleiben wir halt», sagen sie und lachen. Dann sitzen sie wieder schweigend in ihren Plastikstühlen. Käthi erzählt, dass letzten Sommer ein Gast eine Biene im Bierglas hatte. Er hat es aber zum Glück rechtzeitig gemerkt und keinen Schluck daraus genommen. Sie schaut in die Sonne und blättert eine Seite um. Hier unten ist halt alles etwas verrückter.

Anaïs Meier, geboren 1984 in Bern, studierte Filmwissenschaften, Drehbuch und Literarisches Schreiben in Zürich, Ludwigsburg und Biel. Gründete 2013 zusammen mit dem Künstler Simon Krebs das Büro für Problem.

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