So schnell kann es gehen!

Im einen Moment noch «prekäre Wohnsituation»: Baufällig bröckelnd, ohne Heizung, dafür mit auslaufendem Ölofen und ab und an tropfender Decke. Dazu die ständige Ungewissheit, ob einem die Bude nicht mitten in der Nacht zugunsten eines sympathischen Renditebaus abgerissen wird (die Bäume im Garten wurden vorsorglich schon mal gefällt).

Und im nächsten Moment – zack: Vornehmstes Logieren in prunkiger Bonzengegend in der schönsten Hauptstadt der Welt. Diese Zeilen schreibe ich also im Sonnenuntergang auf meiner, Entschuldigung: einer meiner weitläufigen Terrassen. Die Fächerpalmen winken, und gerade erklingt die Melodie des Sieben-Uhr-Glockenspiels von irgendeiner weltberühmten Kirche, sowie das fröhliche Hupen der Feierabendpendler; die Schweizerfahne weht sachte im Wind und am zuckerwattigen Himmel fliegt ein Easyjet.

Artist in Residence, meine Damen und Herren: La Vie de la Bohème kann auch so.
Und gefährlich: Man gewöhnt sich sofort.

Jetzt sehen wir mal Europa, das richtige!

Zuhause, in der reichen Schweiz, haben wir Bilder gesehen von hier, von traurigen Flüchtlingen, die Häuser besetzen, und netten Polizisten, die die Häuser wieder räumen. Wir haben Artikel gelesen, über die Arbeitslosigkeit hier, die Krise. Wir waren voller Tatendrang und dachten: Jetzt sehen wir mal Europa, das richtige!

Nun ja. Jetzt leben wir leben halt umgeben von Villen, Roten-Teppich-Hotels und Hop-on-hop-off-Bussen – unsere grössten Sorgen sind, dass wir vergessen das Tor zu schliessen, und jemand Fremdes in unseren privaten Park latscht, oder dass der Supermarkt im Quartier so teuer ist.

Dafür können wir uns hier ganz unserer Arbeit widmen und das Elend der Welt vergessen. Wir sind Künstler und machen schöne Kunst und am Wochenende fahren wir ans Meer. Dort machen wir Fotos und erfreuen uns an der Authentizität der lokalen Bevölkerung, die im Sonnenuntergang auf den Wellenbrechern klettert und Seeigel sammelt. Wir haben Lust auf Seeigel, viel besser als Austern, meint eine, und wir gehen einer Familie nach. Die Frau trägt ein Tupperware, darin rollen ein paar schwarze Stachelige.

Wir sind Künstler und machen schöne Kunst

Wir führen ein Gespräch.
Sie sagt: Wo kommt ihr her? Im September! Kommt im Juli, August, dann ist es hier bello.
Wir sagen: Es ist auch jetzt sehr bello.
Ja, sagt sie, vielleicht. Aber im Winter ist es öd, in der Stadt ist es besser.
Wir wohnen in der Stadt, sagen wir stolz, wir wohnen jetzt alle da.
Ah ja?, sagt sie. Ich arbeite in der Stadt. In einem Palast.
Wow, sagen wir, und was arbeitest du dort?
Ja also, sagt sie, also.
Wir schleifen die Füsse im Sand, die Familie der Frau mit den Seeigeln geht stumm neben uns her: Mann, Bruder, Vater, Mutter, zwei Buben.
Also, die Frau zögert, etwas mit… Sauberkeit.
Aha, sagen wir, peinlich berührt, bello! Gefällt es dir?
Langweilig, sagt sie, jeden Tag das gleiche. Morgens um acht bis abends um sieben, und zuhause zwei Bambini.
Schweigen.
Wo wohnt ihr in der Stadt?, fragt die Frau.
Wir sehen uns an: Also, ja, also, irgendwo dort, in der Nähe von, wie heisst, es… ja.
Also, bis bald, sagt die Frau mit den Seeigeln.
Ciao, wir winken, buanappetito.

Michelle Steinbeck ist Autorin und Redaktorin der Fabrikzeitung.

Ein Kommentar auf “In Zeiten von Elfenbeintürmen

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  1. […] Und merke: Schon wieder finde ich mich im Elfenbeinturm. […]

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