Wir haben neue Mitbewohner. Der eine hat gerade seinen naturwissenschaftlichen Bachelor gemacht und arbeitet nun im Labor; die andere kommt direkt aus dem Sprachaufenthalt in Malta und überlegt erstmal, wo sie als nächstes hinmöchte. Als wir uns kennenlernten, rollten beide bewundernd die Augen und seufzten: «Ihr seid ja alle so kreativ!» Und weiter: «Ihr habt es gut. Wir müssen immer arbeiten und ihr könnt einfach euer Hobby machen und davon leben.»

Unsere bescheidenen Einwände wollten sie nicht hören, und so schwelgten sie weiter in ihrer romantischen Vorstellung der Vie de la Bohème, von der sie nun Zeugen werden dürften: Zusammenleben mit bettelarmen Möchtegernkünstlern, die den ganzen Tag nur rauchen, über Existenzialismus diskutieren, im Restaurant den Fischkopf bestellen und die Welt in schwarzweiss sehen – und zu all dem läuft ständig so eine Pariser Metro Ziehharmonikamusik.

Das ist Freiheit!

Ich dachte ja auch, dass es so werden wird. Warum hab ich mich wohl für diese Art von Arbeit entschieden? Ich muss morgens lang schlafen und mittags mehr essen als ein Jogurt im Büro. Ausserdem vertrag ich die stehende Luft in geschlossenen Räumen schlecht und ich kann nicht lang auf einem Stuhl sitzen. Dafür bin ich gut in Selbstdisziplin und flexibler Zeiteinteilung. Ich liebe es, selbstständig zu sein: Aufstehen und arbeiten und baden gehen, wann ich will. Das ist Freiheit!

Und dass ich darin erfolgreich bin, erkenne ich, weil ich immer mehr Jobs und Projekte bekomme und annehme, an denen ich frei arbeite. Ich habe ein organisiertes Ordnersystem mit Farben in meinem Macbook Air, das ich immer herumtrage und nie herunterfahre. Ich liefere ab und kassiere und gebe weiter an die Altersvorsorge. Ich bin eine Firma, die läuft. Ich steige aus dem Rhein und lange als erstes in die Tasche, um meine Mails zu checken. Erst als die Haare aufs Display tropfen, merke ich, dass Baden im Kalender doch mit Freizeitfarbe eingetragen stand. Aber ich kann nicht anders. Es ist geil, on fire zu sein. Nichtstun ist für Loser; alles was durch meine Augen und Ohren aufgenommen wird, liefert sogleich die nächste Idee, will verarbeitet werden, aufgeschrieben werden – später! Die to do Liste schreit. Ich rufe meine Mutter an für sozialen Kontakt und schreibe dazu Mails und Rechnungen. Das Herzrasen fängt wieder an, ich fresse drei pflanzliche Beruhigungspillen aus Grossmutters Ökoapotheke. Meine täglichen 15 Minuten Kontemplation funktionieren nicht mehr so gut, seit Youtube mir vor und nach den «Yoga for anxiety and stress»-Videos weismacht, dass ich mir endlich eine Wix-Webseite und ein Pampersbaby zulegen soll.

Ich merke, dass es dunkel geworden ist, als mein Macbook den Augenangenehmen Nachtfilter einstellt. Zuhause gehen die zwei neuen schon ins Bett, wir andern sitzen beinander im Wohnzimmer. Gesprochen wird nicht viel. Die lieben Macbooks surren. Einer stöhnt über den Misserfolg seiner neuen Instagram Marketingstrategie.

«Wollten wir heute nicht noch Ferien planen? Ich hab mir das so eingetragen.» – «Wann könnt ihr?» – «Nächstes Jahr?» – «Ab September hätte ich Zeit.» – – –

«Wann kommt ächtsch endlich das Burnout?»

Michelle Steinbeck ist Autorin und Redaktorin der Fabrikzeitung.

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