Über 8.5 Millionen Menschen leben aktuell in der Schweiz. Jeder Vierte davon darf aufgrund seiner ausländischen Staatsangehörigkeit nicht an die Urne. Was macht es mit einem Menschen, das hiesige politische Geschehen nicht mitbestimmen zu können? Miriam Suter hat für diese Ausgabe fünf Betroffene zu einem Gespräch getroffen. Und schliesslich jemanden, der eine Möglichkeit zur Partizipation entwickelt hat.


Marnix Kippersluis,
31, Holländer

Miriam Suter
Warum lebst du in der Schweiz?

Marnix Kippersluis
Meine Freundin ist Schweizerin. Sie hat ihren Master in Holland abgeschlossen, dort gibt es viele englischsprachige Master-Studiengänge. Wir haben uns in Utrecht an der Uni kennengelernt. Sie bekam dann ein Jobangebot in der Schweiz, ich musste nur noch meine Masterarbeit schreiben und fand, das wäre eine coole Gelegenheit für ein Abenteuer.

MS
Hast du dein Studium von der Schweiz aus abgeschlossen?

MK
Genau, ich habe meine Masterarbeit von hier aus geschrieben. Das war für meinen Professor kein Problem. Und gleichzeitig habe ich Teilzeit gearbeitet. Mittlerweile bin ich natürlich mit dem Studium fertig und arbeite seit fast vier Jahren Vollzeit.

MS
Befindest du dich im Verfahren für den Schweizer Pass?

MK
Nein. Das geht gar nicht, weil ich erst seit viereinhalb Jahren in der Schweiz wohne.

MS
Die Möglichkeit, die Politik derart direkt mitzubestimmen, ist in der Schweiz weltweit einmalig. Bist du politisch interessiert?

MK
Ja, ich interessiere mich sehr für Politik, schon immer. Ich war während meines Studiums zwei Jahre im Vorstand einer lokalen politischen Partei in Holland aktiv. Meine Masterarbeit im Verfassungsrecht handelte von Demokratie. Ich verfolge auch die Schweizer Politik gern, wobei ich sagen muss, dass ich mich vor allem für die schweizerische Aussenpolitik interessiere.

MS
Warum?

MK
Das hat wahrscheinlich damit zu tun, das ich gerade dort sehr viele Unterschiede sehe zwischen Holland und der Schweiz. Aber auch die interne Politik verfolge ich. Ich lese eigentlich nur noch schweizerische Zeitungen wie die NZZ oder den Tagi, schaue SRF, wenn es gerade interessante Themen gibt, und so weiter. Auch in meinem Freundeskreis wird immer über Politik diskutiert, und dann bist du natürlich ausgeschlossen, wenn du keine Ahnung hast, wer gerade was gemacht oder gesagt hat.

MS
Was macht es mit dir, in einem Land zu leben, in dem du das politische Geschehen nicht via Wahl oder Abstimmung beeinflussen kannst?

MK
Ich verstehe es, finde es aber auch schwierig. Es ist nachvollziehbar, dass nicht jede abstimmen kann, sobald sie oder er in der Schweiz ankommt. Demokratie braucht ein Gefühl von Zusammengehörigkeit zwischen den Beteiligten, und das braucht ein gewisse Menge an gegenseitigem Verständnis und Einfühlungsvermögen. Es ist auch ganz menschlich, dass wir uns immer abgrenzen wollen von anderen Gruppen. Es gibt bei Menschen leider immer ein «wir» und ein «sie». Was wir geschaffen haben, wollen wir auch für uns behalten. Die «Anderen» sollten sich erst einmal beweisen. Demokratie funktioniert nur mit diesem Gruppengefühl.

MS
Was siehst du kritisch?

MK
Viele Entscheidungen, über die «wir» – also eigentlich «ihr» abstimmt, betreffen auch mich. Abstimmungen über zum Beispiel die Bilateralen betreffen mich sogar deutlich direkter. Es macht mich ehrlich gesagt einigermassen apathisch, dass ich nicht abstimmen darf. Warum sollte ich mich weiterhin für Politik interessieren, wenn ich so oder so keinen Einfluss nehmen kann? Es macht mir immer wieder Spass, wenn auf der Strasse jemand Unterschriften sammelt, ich geduldig zuhöre und am Schluss auf perfektes Züridüütsch sagen muss, dass ich gar nicht abstimmen darf. Finde das irgendwie lustig.


Benjamin Quirico,
31, Ungar

Miriam Suter
Beobachtest du Wahlen und Abstimmungen in der Schweiz?

Benjamin Quirico
Meine Mitbewohnerin bekommt immer so dicke Umschläge zugeschickt. Soweit ich das verstanden habe, sind das eben diese Zettel zum Abstimmen. Und sonst bekomme ich halt aus den Medien und im Internet und von Schweizer Freundinnen und Freunden mit, wenn es grössere, kontroverse Themen sind, zu denen abgestimmt wird.

MS
Bist du politisch interessiert?

BQ
Politisch jetzt nicht super aktiv, aber doch interessiert. Vor allem seit der Rechtsruck gerade in Europa immer offensichtlicher wird.

MS
Du lebst seit vier Jahren hier, hast keinen Schweizer Pass. Wie fühlt es sich an, in einem Land zu leben, in dem du auf politischer Ebene nicht mitbestimmen darfst?

BQ
Hm. Da muss ich vielleicht bisschen weiter ausholen. Ich bin gebürtiger Ungar, in Österreich aufgewachsen und lebe mittlerweile in Zürich. Ich habe tatsächlich noch nie irgendwo gewählt. In Österreich durfte ich ja wegen meiner Staatsbürgerschaft nie wählen gehen. Genau wie jetzt in der Schweiz. Und zu Ungarn habe ich zu wenig Bezug, um mich meiner Abneigung gegenüber Bürokratiewahnsinn – der bei Briefwahl leider nicht ganz auszuschliessen ist – zu stellen. Um die Frage also zu beantworten: Es macht nicht sonderlich viel mit mir, in dem Land, in dem ich lebe, nicht wählen zu dürfen. Habe mich irgendwie damit abgefunden. Uncool eigentlich, ich weiss.


Ewa Bender,
21, Deutsche, C-Ausweis

Miriam Suter
Möchtest du den Schweizer Pass beantragen?

Ewa Bender
Momentan befinde ich mich nicht in einem Verfahren, würde es aber gerne beginnen. Da ich Studentin bin mit wenig Geld, kann ich das aber nicht im Alleingang machen. Mein Vater und meine Geschwister reden zwar gelegentlich darüber, aber es kommt immer wieder was dazwischen und ich alleine kann mir das nicht leisten.

MS
Inwiefern beobachtest du das politische Geschehen in der Schweiz?

EB
Ich beobachte Wahlen und Abstimmungen. Seit ich 15 bin, bin ich Mitglied in der JUSO und war auch lange Co-Präsidentin der JUSO Graubünden. Jetzt bin ich in der Milchjugend engagiert, aber immer noch auch JUSO und SP-Mitglied.

MS
Nervt es dich, dass du nicht abstimmen und wählen kannst?

EB
Ich würde wahnsinnig gerne auch mit meiner Stimme die Schweizer Politik-Landschaft mitgestalten, nicht bloss mit meinem politischen Engagement in Parteien. Ich fühle mich manchmal machtlos, wenn ich für Abstimmungen aktiv auf der Strasse stand und dann die Wahlbeteiligung so wahnsinnig tief ist. Ich bin dann auch genervt, dass Leute ihr Wahl- und Stimmrecht nicht nutzen. Sagen zu können «es spielt mir keine Rolle, was politisch so läuft» ist ein wahnsinniges Privileg.

MS
Gibt es ein Erlebnis, das dir besonders in Erinnerung blieb?

EB
Am schlimmsten fand ich es, als wir als JUSO GR für das kantonale Ausländerinnen-Stimmrecht am Unterschriften Sammeln waren. Da wurde mir direkt ins Gesicht gesagt, dass Leute, die keine Ahnung haben, nicht mitreden sollen. Einerseits ist es ziemlich xenophob, davon auszugehen, dass Ausländerinnen «zu dumm» zum Abstimmen sind und andererseits ganz eklig elitär, wenn man sagt, nur «gut Informierte» dürfen abstimmen.


Rosen Ferreira,
44, portugiesisch

Miriam Suter
Du befindest du dich im Verfahren für den Schweizer Pass – warum?

Rosen Ferreira

Ich habe mich nach langem Ringen dafür entschieden. Ausschlaggebend für mich ist, dass ich es satt habe, mich als Migrant*in disziplinieren lassen zu müssen – siehe Ausschaffungsinitiative. Das Wahlrecht on top ist nice, sollte aber selbstverständlich sein, immerhin lebe ich seit 13 Jahren hier und gestalte seither dieses Land auch mit.

MS
Wie meinst du das?

RF
Diese Disziplinierung besteht u.a. darin, dass der Aufenthalt nicht nur an eine Lohnarbeit, sondern auch an gesundheitliche Fragen gekoppelt ist. Wer eins von beidem verliert – und das geht vor allem in prekären Jobs Hand in Hand – verliert je nach Aufenthaltsstatus das Recht in der Schweiz zu bleiben. Auch Armut rächt sich: Bei einem Eintrag im Betreibungsregister wird‘s schwierig, etwa mit der Einbürgerung. Für Migrant*innen, die nicht aus dem EU- oder EFTA-Raum kommen, ist es mit dem neuen Migrationsregime noch schwieriger geworden, sich einbürgern zu lassen.

MS
Wie betrifft dich das persönlich?

RF
Nicht, dass ich ein Verbrechen plane. Aber allein ein «unrechtmässiger Bezug von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe» – was auch immer das heissen mag – oder die «qualifizierte Störung des öffentlichen Verkehrs» beziehungsweise der politisch opportun auslegbare Landfriedensbruch – das könnte ja zum Beispiel an einer Demo passieren – können ausreichen, um mich in den Flieger nach Lissabon zu setzen. Die Ausschaffungsinitiative dient dazu, Migrant*innen kleinzuhalten – als gäbe es nicht bereits ein Strafrecht.

MS
Gibt es etwas, das dich als Migrant*in spezifisch verunsichert?

RF
Im Kontext der Ausschaffungsinitiative, sich verschärfender Polizeigesetze, digitaler Überwachung und von Kollektivstrafen, überlegen es sich Nicht-Schweizerinnen mehrmals, ob sie an einem Protest teilnehmen – erst recht, wenn es sich um undokumentierte und/oder nicht-EU-Migrantinnen handelt.

MS
Gibt es Faktoren, die dein Verfahren für den Pass verlangsamen?

RF
Beim ersten Überfliegen der Formulare habe ich mich geärgert über den darin enthaltenen Rassismus. Wenn ich zum Beispiel Nicht-Schweizer Kinder habe, muss ich mich verpflichten, sie gemäss der «Schweizer Werte» zu erziehen. Hat das Kind durch Zufall einen Schweizer Pass, entfällt das. Integration als Einbahnstrasse – I love it.

MS
Was macht es mit dir, in einem Land zu leben, in dem du das politische Geschehen nicht via Wahl oder Abstimmung beeinflussen kannst?

RF
Es ärgert mich. Für mich ist das strenge Migrationsregime und der Erfolg der SVP Ausdruck einer von Rassismus durchdrungenen Gesellschaft. Egal, was Migrantinnen tun, selbst wenn sie den Schweizer Pass haben, sie müssen «besser» sein als Schweizerinnen, sonst wird ihnen die Herkunft wieder angelastet – wie kürzlich, als einem türkisch-schweizerischen Doppelbürger der Schweizer Pass wieder abgenommen wurde.


Salome Adam,
Deutsche

Miriam Suter
Du lebst seit sieben Jahren in der Schweiz – verfolgst du das politische Geschehen hier?

Salome Adam
Ja, immer. Ich schaue mir auch immer die Abstimmungsunterlagen von meinem Freund an und lese Medienberichte zu den Abstimmungen. Ausserdem unterhalte ich mich gerne mit Freunden darüber.

MS
Bist du politisch aktiv?

SA
Ja sehr. In der Schweiz war ich in der Studierendenvertretung aktiv und war in der Mittelbauvertretung, unter anderem als Co-Präsidentin von actionuni – der Schweizer Mittelbau aktiv. Das heisst, ich habe immer politisiert auf kantonaler und nationaler Ebene.

MS
Was macht es mit dir, in einem Land zu leben, in dem du die Politik nicht mitbestimmen darfst?

SA
Es hat mir jede Freude an der politischen Arbeit genommen. Ich war früher auch bei den Jusos und in der SPD aktiv. Hier frage ich mich: Wie kann ich jemanden motivieren abzustimmen, wenn ich selber gar nicht abstimmen darf? Ich finde das schizophren und habe mich daher komplett aus der politischen Arbeit zurückgezogen.
Ausserdem finde ich es zynisch, dass wenn man eine Schweizerin fragt, was ihre Identität ausmacht, immer als Antwort kommt: direkte Demokratie. Diese wird jedoch den vielen Ausländerinnen verwehrt, zeitgleich sind die Hürden für die Einbürgerung extrem hoch, allein schon durch die lange Wartezeit. Des Weiteren wird es als wichtiges Schweizer Integrationsmerkmal verstanden, dass man weiss, wie die Abstimmungen funktionieren und wie man wählen kann. Aber wieso sollen sich denn Ausländerinnen damit fundiert auseinandersetzen, wenn ihnen eine Teilnahme über so viele Jahre verwehrt wird?
In Holland durfte ich nach 3 Monaten Wohnsitz auf Gemeindeebene abstimmen. Das führte dazu, dass ich mich mit dem Wahlsystem auseinandersetzte und mit holländischen Kolleg*innen Diskussionen über die Parteien führte. Das ist definitiv eine bessere Integration.

Miriam Suter (*1988) ist freie Journalistin. Sie schreibt vor allem über Feminismus und soziale Anliegen, unter anderem für die WOZ, das Surprise Strassenmagazin und Das Lamm.
Wer Nicht-Stimmberechtigten eine Stimme geben möchte, kann dies tun. Die Website Votetandem ermöglicht es Menschen, die nicht abstimmen dürfen, Stimmberechtigte zu treffen und zusammen zu diskutieren. Wie das geht, erfahrt ihr in diesem Interview mit Vinzenz Leutenegger

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