Dreiviertelstunden lang musste er vor dem Baumarkt seines Vertrauens anstehen, aber einer wie er gibt nicht auf. Sein Hausarzt und guter Freund, der Godi, sagt auch immer er sei «En zeche Gaul». Haha, ja der Godi. Kurz ist er gut gelaunt, als neben ihm jemand sagt: «Der würde in seinem Alter auch besser zuhause bleiben». Es läuft ihm kalt den Rücken hinunter. Wie man plötzlich auf sein Alter reduziert wird, das ist nichts anderes als diskriminierend! Er fühlt sich zum Beispiel wie allermaximalstens vierzig. Und wenn Männer heutzutage als Frauen leben dürfen, dann darf er ja wohl als Vierzigjähriger leben!

Godi sagt ihm jedenfalls immer, dass er für sein Alter total fit sei. Und das muss er auch sein, schliesslich hat er eine junge Frau und zwei kleine Kinder! Und wer selbst Kinder hat, weiss, wie anstrengend das ist. Um so schlimmer, dass er jetzt seine Enkel nicht mehr sehen kann, denn während eigene Kinder eine Anstrengung sind, sind Enkel ein Segen. Aber nein – alle Freuden hat man ihm genommen! Das Golfen mit Godi, die Enkelkinder… Nicht einmal mehr Botox kann er sich spritzen, dabei braucht er das gegen seine Spannungskopfschmerzen. Seine Frau will ihn so gar nicht mehr aus dem Haus lassen! Einsperren, dass wollen sie ihn!

Und genau deshalb ist er heute hier. Am Desinfektionsmitteldispenser am Eingang ist er lässig vorbeigegangen, einer wie er lässt sich doch nicht vom Staat sagen, wie sauber seine Hände sein sollen. Als er sein erstes Unternehmen gründete, da war dieser Handwasch-Berset noch nicht mal geboren! Energisch schiebt er seinen Einkaufswagen in Richtung Sanitärabteilung, als sich ihm eine nett lächelnde junge Frau nähert. Jawoll, seine Wirkung auf das andere Geschlecht kann auch von Corona nicht gestoppt werden.

Die junge Frau fragt ihn, ob sie seinen Einkauf für ihn erledigen solle, damit er sich «schützen» könne. Was für eine unglaubliche Frechheit! Wutentbrannt rennt er an ihr vorbei und merkt dabei, wie sein Blutdruck gefährlich in die Höhe schnellt. Ausgerechnet heute hat er die Tabletten nicht dabei! Die Welt ist nicht mehr das, was sie war und er leidet am meisten darunter. Jawoll, er. Arme Menschen sind sich schliesslich gewohnt zu verzichten, aber für jemanden wie ihn ist das unmöglich.

Wieder zuhause geht er sofort in den Garten und beginnt mit der neu gekauften Ausstattung einen Jungbrunnen zu bauen. Auf die Idee muss man erst mal kommen! Wenn er ein alter Greis wäre, hätte er sicher nicht mehr so originelle Einfälle. Nach einer halben Stunde ruft ihn seine Frau, es sei Zeit für sein tägliches Zoom-Meeting mit dem Kader.

Als er sich umzieht, hat er wieder eine tolle Idee und macht schnell ein Dick-Pic, das er sofort auf allen Kanälen versendet. Einer wie er begegnet dem Thema Social Distancing halt mit Humor! Pia vom Sekretariat wird sich freuen, jetzt muss sie ja auf seine Füdli-Klopfer verzichten. Doch dann erinnert er sich an metoo und alles fällt über ihm zusammen. 

Nachts werkelt er wieder im Garten, als ihm plötzlich komisch wird und er beginnt, den Mond anzuheulen. Er hat das alles nicht verdient! Er hat so viel dafür bezahlt, um in der Schweiz geboren zu werden. Und in dem Moment, da er denkt, komplett zu verzweifeln, wird die Beleuchtung des Matterhorns eingeschaltet. Der Mond erblasst neben der imposanten Schweizerfahne und er schöpft wieder Hoffnung.

Anaïs Meier, geboren 1984 in Bern, studierte Filmwissenschaften, Drehbuch und Literarisches Schreiben in Zürich, Ludwigsburg und Biel. Gründete 2013 zusammen mit dem Künstler Simon Krebs das Büro für Problem.

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