Es war der dritte Tag am Kanal. Tom hatte den Bus noch kein Mal umgeparkt. Es würde ewig dauern.

«Ziehst Fisch, Alter, ziehst Fisch?», sagte er, mit gesenktem Kopf, den Blick ins schwarze Wasser gerichtet. «Bist am Angeln?» Zwei Tage hatte er geschwiegen, dann begonnen, mit singender Stimme zu sich selbst zu sprechen. «Bist wieder am Angeln, bist am Angeln.»

Tom stand im Putzboot. Er stach prüfend mit einer Stange in den Kanal, warf Netze aus, zog Kescher, legte Sonden und Kameras, befestigte Haken an der Seilwinde. Die Ufer putzte er mit Greifzange und Heugabel. Er lagerte das herausgefischte Material im Boot und lud es abends aus. Am ersten Abend hatte er sieben Minuten gebraucht, um die Länge des gereinigten Kanalabschnitts zurück zum Bus zu gehen. Am zweiten elf. Es würde ewig dauern.

«Bist am Angeln, Alter, ziehst Fisch? Sieh an, glotzt’s dich an, glotzt’s? Die glotzen, die Fische. Die sehen dich, die stehen da. Die haben dich längst gesehen. Wart’s ab, du, die sehen dich. Die Fische stehen unter Wasser.»

Tom bemühte sich, nicht zu vergessen, wo oben, wo unten war. Im schwarzen Wasser spiegelte sich der graue Himmel. Wenige Male liess Tom das Putzgerät sinken, richtete sich auf und balancierte im Boot, bis er sicher und aufrecht stehen konnte. Dann schaute er nach links oder rechts in die Ferne, an die mächtigen grauen Hügel, die sich zu beiden Seiten in den Himmel erhoben. Nichts regte sich in den Sträuchern, den zierlichen Pappeln an den Ufern. Der Kanal blieb stumm. Die Geräusche kamen erst zurück, wenn Tom weiterarbeitete. Seine Ledersohlen auf den Holzplanken, die Wellenschläge am Bootsrumpf, die Tropfen auf der Wasseroberfläche, Wasserfäden, wenn er mit der Seilwinde rostige Metallgebilde aus dem Kanal zog. Das Klicken der Plastikscherben, wenn er sie in die Müllkiste zu den anderen warf. Das Schmatzen der Heugabel im feuchten Laub, das Knistern trockener Plastikfolie und das saugende Geräusch nasser Plastikfolie, das Piepsen einer Sonde. Die Stille des Kanals umfing Tom, begleitete ihn durch den Tag und drückte abends von aussen gegen die Verschalung des Busses. «Du musst angeln, angeln, musst dich weiterhangeln. Hier die Angel, hier halt mal, hier die Angel. Festhalten, nichts auslassen, nicht nachlassen. ’s kommt gut. Ist ja gut, hab Mut, Hut ab, Angler. Hab nur Mut.»

Abends knotete Tom das Boot an einer geeigneten Stelle fest, legte einige Schritte vom Ufer entfernt einen Müllhaufen an und lief zurück zum Bus. Er zählte die Minuten bis zur Beifahrertür, rundete schnell die Summe auf und legte sie im Gedächtnis ab. Mechanisch öffnete er die Tür, auf dem Sitz stand die Kiste mit den Einmachgläsern. Er schlug das Tuch zurück, das sie abdeckte, schraubte die Deckel ab und griff nach dem Löffel auf dem Armaturenbrett. Noch unterschied Tageslicht die Farben der Glasinhalte. Tom ass an den Türrahmen gelehnt.

Als es dann regnete, machte Tom einen Tag Pause. Er lag auf der Matte im hinteren Teil des Busses, es prügelte auf das Busdach. Endlich ein Geräusch, das von aussen kam. Der Regen zog Schlieren über die Fensterscheiben, wusch den Staub an die Scheibenränder. Zuerst hatte Tom, wenn er die Augen schloss, seine Hände in den Handschuhen und das schwarze Wasser gesehen. Dann hatte er die Augen geöffnet, und sich gleich darauf gezwungen, sie wieder zu schliessen, bis er etwas anderes sehen würde. Nun waberten bunte Muster unter seinen Augenlidern, pulsierende Farbenspiele. Tom stellte sich unweigerlich vor, wie der Regen den Kanal veränderte. Vielleicht wurde das Kanalwasser noch schwärzer, wohl kaum weniger schwarz. Es konnte ein Substanzregen sein, Tom hoffte, es wäre keiner. Vermutlich wurde neues Müllmaterial in die bereits gereinigten Abschnitte gespült, vielleicht würde er es ignorieren können. Er fragte sich, ob der Regenguss den Kanal irgendwie belebte, wusste nicht, wie.

«Weisst nichts, weisst nichts», sagte er, ohne die Stimme gegen den Regen zu erheben. «Nur Mut. Morgen neues Lasso werfen. Kein Grund, das Ego in den Bach zu werfen. Solang so gut.» Tom schwieg nach den Worten lange Zeit, sagte dann wieder etwas, schwieg wiederum. Seine Aufmerksamkeit verliess den Bus, nahm den krachenden Regen kaum mehr wahr, und kehrte zu den nächsten gesprochenen Worten für kurze Momente zurück.
Am späten Nachmittag war der Regen vorüber. Tom setzte sich auf und öffnete die Seitentür. Feuchte, saubere Luft zog herein. Er stieg aus, öffnete die Beifahrertür und ass ein paar Löffel, rot, orange, violett. Nach jedem Löffel schaute er in eine andere Richtung. Die Hügel und die ehemaligen Felder hatten ein dunkles Braun angenommen. Der Himmel war weisser, offener. Nach ein paar Minuten ging Tom die wenigen Schritte hinüber zum Kanal. «Leben, Leben?», rief er, sang beinahe. «Gibt’s hier was zu leben?» Er schob sich zwischen Sträuchern hindurch ans Ufer. Die nassen Zweige hinterliessen Wasserperlen auf seiner Kleidung. Er blickte den Kanal hinauf und hinab, schüttelte einen Ärmel über dem Wasser aus, es gab Kreise auf der Oberfläche. Der Kanal war, nach wie vor, unergründlich schwarz. Tom ging ein paar Schritte, dabei blieb ein Stück Plastik an seinem Schuh kleben. Er hob den Fuss und zupfte es ab, wollte den laminierten Zettel gerade ins Wasser werfen, als er «Lizenz» las. Und dann: «Flügel». Er wischte das Laminat mit dem Pulloversaum trocken und steckte es in die Jackentasche. Starr schaute er ans gegenüberliegende Kanalufer, an die nassen, mageren Bäume. Er sagte: «Angeln, bis die Engel kommen.»

An manchen Tagen war es Tom, als stünde er zwei Mal im Boot, oder eher, als gäbe es einen arbeitenden Tom und einen, der ihm vom Ufer aus zu rief. «Alter, Angler, mach das, lass das. Mach’s besser, ’s kommt gut. Komm schon, kommt schon gut.» Die Worte konnten ihn anfeuern, ihm einen Rhythmus geben. Oder sie ärgerten ihn, je nach Ton, indem sie etwas forderten, was er nicht geben wollte. «No bad vibes», rief Tom, «no bad vibes … » Inzwischen kam er schneller voran, denn er hatte Übung gewonnen in der Handhabung der Seilwinde, und Geschick im Umgang mit den Greifzangen. Er konnte in einer Hand die lange Zange halten und in der anderen die kurze, links eine Dose greifen, während er rechts ein Stück Pappe in Richtung des Bootes schwenkte. Auch hatte er ein Gefühl entwickelt für das effiziente Auslegen der Sonden, glaubte nun, der Kanal liefere Indizien dafür, wo es etwas Gröberes zu bergen gab. Es kam nur darauf an, die Zeichen nicht zu übersehen, seien es Auffälligkeiten in der Vegetation, eine Lücke in einer Baumreihe, abgestorbene Bäume, Gewächse, die er nicht kannte, eine Böschung voller Götterbäume oder Brennnesseln, oder schlicht eine Brücke: Wie Tom lernte, hatte wohl von fast jeder Brücke einmal jemand etwas heruntergestossen. Er holte Fahrradteile, elektronische Geräte, einen Wäscheständer, Autoreifen aus dem Wasser, einen kaputten Stuhl und einen Koffer ohne Inhalt – dieser regte seine Fantasie besonders an. «Was wohl drin war, was war’s einmal, ist’s schon gefischt? Noch unter Wasser, nicht zu sehen. Wo mag’s sein, wo ist’s?»

Die besonderen Funde nicht zu verpassen, nichts Grosses im Kanal liegen zu lassen, das war nicht das Schwierigste, hingegen dieselbe Gründlichkeit zu bewahren, wie er sie am ersten Tag für allen gewöhnlichen Müll aufgebracht hatte, verlangte viel. Er spürte deutlich, ob er gründlich gewesen war oder nicht, wenn er abends den Bus erreichte. Dann blickte er innerlich auf einen glatten, sauberen, schwarzen Kanalabschnitt zurück, gerahmt von tadellos gekämmten Sträuchern, Gräsern und Kräutern, oder ihm flog eine Plastiktüte ins Auge, ärgerlich knisternd, wie nur Plastik knistern konnte.

Als er mit dem Bus zum nächstgelegenen Speicherhaus fuhr, um zum ersten Mal den Trinkwassertank nachzufüllen, erinnerte er sich an die Flügellizenz in seiner Jackentasche. Er fasste das Vorhaben, die Lizenz für diejenige Person, die sie verloren hatte, beim Speichervorsitz zu hinterlegen. Doch die Rezeption war nicht besetzt, als er ankam, und Wasser nehmen konnte man in Selbstbedienung. Auf der Rückfahrt kurbelte Tom die Fenster hinunter, er sprach in den knatternden Wind: «Du solltest den Engel kennen, Alter, schon gehört? Der Engel. Er lässt grüssen. Siehst du’s, wenn ein Engel grüsst?»

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