Was bisher geschah: Tom putzt den Kanal, Abschnitt für Abschnitt, gründlich und säuberlich. Er schläft im Bus und arbeitet im Boot. Dabei spricht er mit sich selber, löffelt Buntes aus Einmachgläsern und findet etwas Verlorenes aus der himmlischen Welt: Eine Flügellizenz.

Inzwischen hatte der Kanal sich verengt, er trieb im Schatten. Das Wasser durchlief eine Senke, die Ufer waren steile Hänge geworden. Darin verhakte sich etliches Gestrüpp, auch höhere Sträucher, Eichen, Götterbäume.

Statt abends zu Fuss zum Bus zu gehen, steuerte Tom das Boot zurück, konnte den gefischten Müll auf diese Weise am flacheren Ufer nahe des Busses abladen. Die Senke war voller Vögel, die von den Zweigen zwitscherten, von einem Ufer zum andern flogen, dann in Schwärmen hockten. Tom pausierte in einem Sonnenfleck, eben gerade so gross wie das Boot, und sah und hörte ihnen zu. Die Federn fingen das Licht.

Später folgten einige Schleusen dicht auf einander, die ihn bremsten. Die Schleusenhäuschen waren verlassen, verbarrikadiert, eins hatte noch Blumentöpfe in den Fenstern. Nicht alle Kanalabschnitte trugen hier Wasser, Tom musste das Boot jeweils an den Bus gekoppelt von einem Abschnitt zum nächsten bringen. Einige Tage verbrachte er in fauligen Algen. Selten schaute er rückwärts abwärts über den geradlinigen Kanal und die passierten Schleusen. Er machte, eines Abends die gehörten Vogelstimmen nach, es gelang ihm nicht gut. «Zwitschert’s besser, Fisch und Vogel kein Vergleich.»

Eines frühen Nachmittags erreichte Tom das Dorf. Als erstes hatte er die Reihe schlanker Pappeln am linken Ufer erkannt. Nun näherte er sich der Stelle, wo sich ein sumpfiges Wäldchen zwischen den Kanal und seinen Nebenlauf schob. Kurz vor dieser Stelle standen die Bank und die Infotafel, die auf einer Seite die Karte mit den Wanderwegen zeigte und auf der anderen die Verhaltensregeln. Am Pfosten, an dem die Tafel befestigt war, vertäute Tom das Boot. Er sprang ans Ufer und ging auf dem weichen Mergelweg zwischen Wäldchen und brackigem Seitenwasser aufs Dorf zu. Das Zufussgehen genoss er sehr. Bald sah er die ersten Häuser, die Weiden und den Kirchturm, wenig später die Brücke und die Hauptstrasse. Entlang der ehemals neuen Häuser ging Tom die Strasse hinauf zu den alten Häusern und der Kirche. Die Mairie war umgezogen, wie er mit Erstaunen bemerkte, in ein Einfamilienhaus hinter einem weissen Lattenzaun. Am Zaun hing ein Schild, MAIRIE.

Tom ging weiter bis zum Kirchplatz, wo früher die Mairie gewesen war, zum roten Häuschen mit den niedrigen Fenstern und den unverputzten dunklen Balken. Ein Schild verwies hier auf die neue Adresse. Er wandte sich zur Garage, in der die Gemeindegärtnerin ihre Gerätschaften aufbewahrte. Im Fenster rostete das Gitter. An der Wand hing nach wie vor der Défibrillator. Tom überquerte die Kirchstrasse und öffnete das hohe von Flechten überzogene Gartentor zur Villa. Am Boden lag ein langer Ast des Kastanienbaums, der die Stromkabel heruntergerissen hatte. Vorsichtig drückte Tom das Tor hinter sich ins Schloss und stieg über den Ast und die Kabel. Auf dem Kiesplatz vor dem Eingang blieb er stehen und atmete die vertrauten Gerüche. Die verwelkten Lindenblüten, die hinter dem bepflanzten Brunnen die Erde bedeckten. Die Holzvorräte in der grossen Scheune. Das Moos nahe am Haus und dessen feuchter Sandstein, von dem sich die Fassade zusehends löste. Tom sah nach, ob der Schlüssel im üblichen Versteck war. «Lange Jahre, steter Schlüssel.» Er summte ein paar Töne. Das Türschloss war bekanntermassen verzogen, er erinnerte sich an die entsprechende Art, den Schlüssel darin zu drehen. Im gefliesten Flur hinter dem Windfang, durch den Licht nur durch die geöffnete Haustür fiel, sammelte sich der Urgeruch des Hauses, so schien es Tom jedes Mal, wenn er eintrat. Voll und schwer war dieser Geruch. «Dichter düstrer Atem, noch der Alte. Hockt er, dunkles Zentrum. Alten Milbchen. Alles Milbe.»

Tom ertastete die Tür zum Esszimmer und ging langsam durch den langen Raum. Die lockere Diele bewegte sich und liess die Gläser in der Anrichte sirren. Er öffnete ein Fenster und enthakte die Läden. In den blassen Himmel stak der Kirchturm. Im oberen Stock fand Tom Wasserflecken in einem Zimmer, dem Dach fehlten vielleicht Ziegel, er würde nachsehen. Ansonsten schien das Haus in Ordnung. Tom machte sich auf den Weg zurück, um den Bus herzufahren. Während er sich auf der Hauptstrasse der MAIRIE näherte und nach Anzeichen dafür suchte, dass sie geöffnet hatte, kam ihm der Gedanke, die Lizenz zu behalten, statt sie als Fundstück abzugeben. Auf diese Weise käme er zu gegebener Zeit an ein Paar Flügel. Tom schmunzelte. Selbst konnte er sich mit Flügeln nicht vorstellen.

«Ich zeig’s dir Angler» – nun wirkte der Himmel über den verschlissenen Häusern jung, wie neu vielleicht. Tom schwang die Arme im Gehen, er schätzte das Gewicht von Flügeln an den Schultern.
«Angeln, engeln, wirst schon sehen, wirst’s sehen. Ein Engel, der grüsst.»

Zum Schlafen wählte Tom das gelbe Zimmer. Er lüftete auch die angrenzenden Räume. Ertastete schliesslich in der untersten Kommodenschublade die Bettwäsche und hüllte das Bett in den Geruch, den die Stoffe seit Jahren in sich trugen. Er schlief bei geöffnetem Fenster sehr gut. Morgens, er sass auf der Stufe vor der Eingangstür und knackte Walnüsse, verstimmte es ihn, nicht von einem Engel geträumt zu haben, oder wenigstens vom Fliegen. Wobei er nie im Traum geflogen war, zumindest nicht erinnert. Flugträume, davon hörte er erzählen, selbst passierte es ihm nicht.
«Dialog, vergnüglicher. Ein ander Mal, vielleicht, ein Gruss. Was sagt der Engel?»
Er kletterte aufs Dach und fügte einen vorrätigen Ziegel in die entstandene Lücke.

Viele Erinnerungen ans Haus kamen Tom, dicht gedrängt, auf einem Spaziergang durch den Wald. Der Eisvogel am Kanal, das tote Huhn. Schneeregen. Der gebackene Federkohl, herrlich salzig. Die Radausflüge im Winter, bis an den Rand der Berge immerhin. Die Sonnenuntergänge, warme Luft. Der Alarmton der Fabrik. Die Apotheke. Die Strasse mit den Hunden hinter Zäunen im Nachbarort, die er vermied. Sterne.

Tom ruhte sich drei Tage aus, die stets windiger wurden und weitere Äste aus der Kastanie warfen, bis anhaltender Regen hereinbrach. Dies ein Grund, weitere Tage im Haus zu bleiben. Er durchstreifte die Räume, zündete Kerzen an, spielte Klavier und probierte die Marmelade aus dem Keller. Nähte endlich ein Loch in seinem Pullover zu. Nach und nach berührte er all die Dekorationsobjekte auf den Simsen, Türrahmen, Tischchen und Heizkörpern und an den Wänden des Hauses. Es gab glasierte Tonkugeln und bunte Glasgefässe. Gepunktete Kieselsteine. Figuren aus Lehm und Stroh. Einen aus biegsamen Zweigen geflochtenen Kranz, darin eingearbeitet trockenes Moos verschiedener Grüntöne. Fantasiewesen aus Hölzchen und Kastanien. Diese konnte er dem Stil nach niemand von den Leuten, die zum Haus gehörten, zuordnen. Vielleicht das Werk eines Gasts. Tannenzapfen, Fotografien. Ein langes, schmales Stück Birkenrinde. Überhaupt allerlei Rinde. Eine zerdrückte Dose genagelt an ein Brett. Ein getrocknetes Äpfelchen. Tom drehte die Dinge in den Fingern, stellte sie zurück. Verrückte sie um wenige Zentimeter, zweifelnd. Er schaute lang. Manches gefiel ihm, sodass er gern wissen wollte, wer es gebastelt hatte. Anderes störte ihn. «Ein Fall für den Kanal.» Zuvor war ihm der Gedanke nie gekommen, doch nun: bei so viel Hinterlassenschaft hätte manches einmal jemand in den Kanal werfen können.

Am Tag seines Abschieds lüftete er noch einmal gründlich alle Zimmer, fegte, verstaute die Bettwäsche gefaltet in einem Schrank, für wenn er ein nächstes Mal käme. Er packte getrocknete Walnüsse ein, gepflückte Mirabellen, jene Marmeladen, die nicht geschimmelt hatten, eine Rolle Nähgarn und eine Fotografie, die ihm gefiel, obwohl er nicht recht entscheiden konnte, was sie eigentlich zeigte. Eine rau verputzte Mauer war erkennbar, und Efeu, die rechte Hälfte des Bildes verlor sich in Helligkeit. Er drehte den Hahn an der Wasserleitung und verschloss sämtliche Fensterläden. Dann schloss er ab und legte den Schlüssel ins Versteck. Er stieg über den Ast und die Kabel, die er liegen gelassen hatte, und öffnete das Gatter, um den Bus auf die Strasse zu fahren.
«Kanal, Kanal.»

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